lifedays-seite

moment in time



 
Literatur


04.3

Das Kartenkönigreich
Erzählungen

Rabindranath Tagore




Das Kartenkönigreich
 
I

Es war einmal ein Kartenkönigreich auf einer einsamen Insel im fernen Meer. Dort lebten die Könige und die Königinnen, die Asse und die Buben. Die Zehne und Neune mit den Zweien und Dreien und all den andern Ständen hatten sich auch schon vor langer Zeit dort niedergelassen. Aber diese gehörten nicht zu den zwiegebornen[35] Kasten wie die erlauchten Hofkarten.
 
As, König und Bube waren die drei höchsten Kasten. Die vierte Kaste war aus einer Vermischung mit den niedrigeren Karten entstanden. Die Zweie und Dreie aber waren die niedrigsten von allen. Diese niedrigeren Karten durften niemals in derselben Reihe mit den großen Hofkarten sitzen.
 
Die Satzungen und Regeln dieses Inselkönigreichs waren wirklich wunderbar. Der besondere Rang jedes Einzelnen war seit unvordenklichen Zeiten festgesetzt. Jeder hatte seine ihm zugewiesene Arbeit und tat nie etwas anderes. Eine unsichtbare Hand schien sie bei jedem ihrer Schritte zu leiten – den Regeln gemäß.
 
Niemand hatte im Kartenkönigreich je Veranlassung zu denken; niemand brauchte zu irgendeinem Entschluß zu kommen; niemand kam je in den Fall, über irgendeine neue Sache eine Meinung zu vertreten. Die Bürger bewegten sich stumm und teilnahmlos auf dem vorgeschriebenen Wege dahin. Wenn sie umfielen, geschah es ganz geräuschlos. Sie legten sich auf den Rücken, die Augen nach oben gerichtet, mit korrektem Ausdruck in jedem Zuge ihres Gesichts, der ihm nun für immer eingeprägt war.
 
Es herrschte eine merkwürdige Stille im Königreich der Karten. Sattheit und Zufriedenheit waren vollkommen in ihrer runden Fülle. Niemals gab es Aufruhr oder Gewalttat, niemals Aufregung oder Begeisterung.
 
Der große Ozean lullte mit seiner ewig gleichen Melodie die Insel in Schlaf, während die weißen Hände seiner Wellen sanft und weich über ihre Stirn strichen. Der weite Himmel breitete sein azurnes, flaumiges Gefieder schützend über die Insel wie die Schwingen einer brütenden Vogelmutter. Denn am fernen Horizont bezeichnete eine tiefblaue Linie ein anderes Ufer. Aber kein Laut von Kampf und Streit konnte bis zu der Insel der Karten dringen und ihre tiefe Ruhe stören.
 
II

In jenem fernen, fremden Lande jenseits des Meeres lebte ein junger Prinz, dessen Mutter eine kummervolle Königin war. Diese Königin war in Ungnade gefallen und lebte mit ihrem einzigen Sohn an der Meeresküste. Der Prinz verlebte seine Kindheit allein und verlassen; er saß bei seiner verlassenen Mutter und wob das Netz seiner ungeheuren Wünsche. Er sehnte sich auf die Suche zu gehen nach dem fliegenden Roß, nach dem Edelstein in der Haube der Kobraschlange, nach der Himmelsrose, nach dem Zauberstab oder nach dem Orte jenseits der dreizehn Flüsse und sieben Seen, wo die Prinzessin Tausendschön im Schloß des Ungeheuers schlief.
 
Vom Sohn des Kaufmanns lernte der junge Prinz in der Schule die Geschichten von fremden Königreichen. Vom Sohne des Amtmanns hörte er das Märchen von Alladin und der Wunderlampe. Und wenn der Regen herniederrauschte und die Wolken den Himmel bedeckten, saß er auf der Schwelle, und auf die See hinausblickend sagte er zu seiner kummervollen Mutter:

„Mutter, erzähle mir eine Geschichte von einem ganz fernen Lande.“

Und dann erzählte ihm seine Mutter eine endlos lange Geschichte, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, von einem Wunderlande jenseits des Meeres, wo die Prinzessin Tausendschön lebte. Und das Herz des jungen Prinzen wurde krank vor Sehnsucht, wenn er da auf der Scholle saß und hinausblickte auf den Ozean und der Wundergeschichte seiner Mutter lauschte, während draußen der Regen herniederrauschte und die grauen Wolken den Himmel bedeckten.
 
Eines Tages kam der Sohn des Kaufmanns zum Prinzen und sagte kühn: „Kamerad, meine Studien sind zu Ende. Jetzt will ich auf Reisen gehen und auf dem Meere mein Glück versuchen. Ich komme, dir Lebewohl zu sagen.“
Der Prinz sagte: „Ich will mit dir gehen.“
Und der Sohn des Amtmanns sagte auch: „Kameraden, ihr habt immer treu und redlich an mir gehandelt, ihr werdet mich nicht zurücklassen. Auch ich will euer Gefährte sein.“
 
Da sagte der junge Prinz zu seiner kummervollen Mutter: „Mutter, ich will jetzt auf die Reise gehen und mein Glück suchen. Wenn ich wieder zurückkomme, werde ich ein Mittel gefunden haben, all deinen Kummer zu bannen.“
 
So machten sich denn die drei Gefährten zusammen auf die Reise. Im Hafen lagen die zwölf Schiffe des Kaufmanns vor Anker, und die drei Gefährten gingen an Bord. Der Südwind blies, die zwölf Schiffe segelten fort, und die Wünsche des Prinzen flatterten ihnen voran.
 
An der Muschelinsel füllten sie ein Schiff mit Muscheln. An der Sandelbauminsel füllten sie ein zweites Schiff mit Sandelholz, und an der Koralleninsel füllten sie ein drittes Schiff mit Korallen.
 
Vier Jahre gingen dahin, und sie füllten noch vier Schiffe, eins mit Elfenbein, eins mit Moschus, eins mit Gewürznelken und eins mit Muskatnüssen.
 
Aber als diese Schiffe alle beladen waren, erhob sich ein furchtbarer Sturm. Alle Schiffe gingen unter mit ihren Nelken und Muskatnüssen und Moschus und Elfenbein und Korallen und Sandelholz und Muscheln. Aber das Schiff mit den drei Gefährten schlug gegen das Felsenriff einer Insel, warf sie wohlbehalten ans Ufer und brach selbst in Stücke.
 
Dies war die berühmte Karteninsel, wo As und König und Königin und Bube mit den Neunen und Zehnen und all den anderen Ständen nach den festgesetzten Regeln lebten.
 
III
 
Bis dahin hatte nie etwas jene Inselstille gestört. Nie hatte sich etwas Neues ereignet. Nie war man über irgendeine Sache verschiedener Meinung gewesen.
 
Und nun erschienen plötzlich die drei Gefährten, die das Meer ans Land geworfen hatte, – und die große Debatte begann. Da waren drei Hauptstreitpunkte.
 
Erstens: zu welcher Kaste sollten diese klassenlosen Fremden gehören? Sollten sie denselben Rang einnehmen wie die Hofkarten? Oder waren es bloß Leute einer niederen Kaste, denen man den Platz der Neune und Zehne zuwies? Es lag kein Präzedenzfall vor, nach dem man diese wichtige Frage hätte entscheiden können.
 
Zweitens: Zu welcher Rasse gehörten sie? Hatten sie die hellere und zartere Hautfarbe der Herzen oder die dunklere der Treffs? Über diese Frage wurde endlos disputiert. Das ganze Heiratssystem der Insel mit seinen verwickelten Satzungen hing von ihrer richtigen Entscheidung ab.
 
Drittens: Was für Nahrung sollten sie erhalten? Bei wem sollten sie wohnen und schlafen? Und sollten sie mit dem Kopf nach Südwesten hin liegen oder nach Nordwesten, oder nur nach Nordosten? Im ganzen Kartenkönigreiche war nie über eine Reihe so wichtiger und höchst kritischer Fragen verhandelt worden.
 
Aber inzwischen wurden die drei Gefährten verzweifelt hungrig. Sie mußten sich irgendwie etwas zu essen verschaffen. Und während die große Beratung noch vor sich ging mit ihren endlosen Pausen und während die Asse für sich eine Versammlung einberiefen und einen Ausschuß bildeten, der irgendeinen alten Fall aufstöbern sollte, nach dem man entscheiden könnte, aßen die drei Gefährten selbst alles, was sie finden konnten, und tranken aus jedem Gefäß und brachen alle Regeln.
 
Selbst die Zweie und Dreie waren über dies unerhörte Betragen entsetzt. Die Dreie sagten: „Brüder Zwei, diese Leute sind einfach schamlos.“ Und die Zweie sagten: „Brüder Drei, sie gehören augenscheinlich zu einer noch niedrigeren Kaste als wir.“
Nachdem die drei Gefährten ihr Mahl beendet hatten, machten sie einen Spaziergang durch die Stadt.
 
Als sie sahen, wie die Leute gewichtig durch die Straßen schritten, in düster feierlichem Zuge, mit ängstlich korrekten Mienen, da wandte sich der Prinz nach dem Sohn des Kaufmanns und dem Sohn des Amtmanns um, warf den Kopf zurück und brach in unbändiges Gelächter aus.
 
Die Königsstraße hinab über den Asplatz und am Bubenkai entlang erscholl dies seltsame, unerhörte Gelächter, bis es wie über sich selbst erschrocken im großen leeren Raum des Schweigens hinstarb.
 
Den Sohn des Amtmanns und den Sohn des Kaufmanns überlief es eiskalt bei dem geisterhaften Schweigen rings um sie her. Sie wandten sich zum Prinzen und sagten:
 
„Kamerad, laß uns von hier fortgehen. Laß uns keinen Augenblick länger in diesem unheimlichen Gespensterlande bleiben.“
 
Aber der Prinz sagte: „Kameraden, diese Leute sehen aus wie Menschen; ich will sie einmal gehörig durch und durch und um und um schütteln, um zu sehen, ob denn nicht noch ein einziger Tropfen warmen Lebensblutes in ihren Adern übrig ist!“
 
IV

EinTag nach dem andern verging, und das Leben der Insel rann still und gelassen dahin, fast ohne das leiseste Wellengekräusel. Die drei Gefährten aber kehrten sich an keine Regeln und Satzungen. Sie taten nie etwas nach vorgeschriebener Weise, mochten sie nun stehen oder sitzen oder sich umwenden oder auf dem Rücken liegen.
 
Im Gegenteil, wo immer sie sahen, daß man diese Dinge genau nach den Regeln tat, brachen sie in ein zügelloses Gelächter aus. Auf sie machte der heilige Ernst dieser geheiligten Regeln durchaus keinen Eindruck.
 
Eines Tages kamen die großen Hofkarten zu dem Prinzen und dem Sohn des Amtmanns und dem Sohn des Kaufmanns.
 
„Warum“, fragten sie langsam, „bewegt ihr euch nicht nach den Regeln?“
Die drei Gefährten antworteten: „Weil unsere Itscha (= Wunsch) es so will.“
 
Die großen Hofkarten sagten alle zusammen mit hohler Grabesstimme, als wenn sie langsam aus einem jahrtausendelangen Schlaf erwachten: „Itscha? Und dürfen wir fragen, wer Itscha ist?“
 
Sie ahnten damals noch nicht, wer Itscha war, aber die ganze Insel sollte es bald erfahren.
 
Zuerst fing es an, leise in ihrem Geist zu dämmern, als sie das Tun des Prinzen beobachteten und dadurch zu der Erkenntnis kamen, daß sie geradeaus gehen konnten in einer Richtung, die der gewohnten entgegengesetzt war. Dann machten sie noch eine überraschende Entdeckung: sie bemerkten, daß die Karten noch eine andere Seite hatten, die sie nicht beachtet hatten. Dies war der Anfang der Wandlung.
 
Nun aber, da die Wandlung einmal begonnen hatte, konnten die Gefährten die Inselbewohner immer tiefer in die Geheimnisse der Itscha einweihen. Den Karten wurde es allmählich klar, daß das Leben nicht an Regeln gebunden ist. Sie fingen an, eine geheime Befriedigung zu empfinden, daß sie die königliche Macht, für sich selbst zu wählen, ausüben konnten.
 
Aber bei diesem ersten Anstoß der Itscha geriet der ganze Kartenhaufe ins Schwanken und fiel zu Boden. Es war, wie wenn eine ungeheure Riesenschlange aus langem Schlaf erwacht und langsam ihre zahllosen Windungen aufrollt, während ein Zittern durch ihren ganzen Körper läuft.


 
   lifedays-seite - moment in time