Es
war einmal ein Kartenkönigreich auf einer einsamen
Insel im fernen Meer. Dort lebten die Könige und die Königinnen, die
Asse und
die Buben. Die Zehne und Neune mit den Zweien und Dreien und all den
andern
Ständen hatten sich auch schon vor langer Zeit dort niedergelassen.
Aber diese
gehörten nicht zu den zwiegebornen[35] Kasten
wie die erlauchten Hofkarten.
As,
König und Bube waren die drei höchsten Kasten. Die
vierte Kaste war aus einer Vermischung mit den niedrigeren Karten
entstanden.
Die Zweie und Dreie aber waren die niedrigsten von allen. Diese
niedrigeren Karten
durften niemals in derselben Reihe mit den großen Hofkarten sitzen.
Die
Satzungen und Regeln
dieses Inselkönigreichs waren wirklich wunderbar. Der besondere Rang
jedes
Einzelnen war seit unvordenklichen Zeiten festgesetzt. Jeder hatte
seine ihm
zugewiesene Arbeit und tat nie etwas anderes. Eine unsichtbare Hand
schien sie
bei jedem ihrer Schritte zu leiten – den Regeln gemäß.
Niemand
hatte im Kartenkönigreich je Veranlassung zu
denken; niemand brauchte zu irgendeinem Entschluß zu kommen; niemand
kam je in
den Fall, über irgendeine neue Sache eine Meinung zu vertreten. Die
Bürger
bewegten sich stumm und teilnahmlos auf dem vorgeschriebenen Wege
dahin. Wenn
sie umfielen, geschah es ganz geräuschlos. Sie legten sich auf den
Rücken, die
Augen nach oben gerichtet, mit korrektem Ausdruck in jedem Zuge ihres
Gesichts,
der ihm nun für immer eingeprägt war.
Es
herrschte eine merkwürdige Stille im Königreich der
Karten. Sattheit und Zufriedenheit waren vollkommen in ihrer runden
Fülle.
Niemals gab es Aufruhr oder Gewalttat, niemals Aufregung oder
Begeisterung.
Der
große Ozean lullte mit seiner ewig gleichen
Melodie die Insel in Schlaf, während die weißen
Hände seiner Wellen sanft und weich über ihre Stirn strichen. Der weite
Himmel
breitete sein azurnes, flaumiges Gefieder schützend über die Insel wie
die
Schwingen einer brütenden Vogelmutter. Denn am fernen Horizont
bezeichnete eine
tiefblaue Linie ein anderes Ufer. Aber kein Laut von Kampf und Streit
konnte
bis zu der Insel der Karten dringen und ihre tiefe Ruhe stören.
In
jenem fernen, fremden Lande jenseits des Meeres
lebte ein junger Prinz, dessen Mutter eine kummervolle Königin war.
Diese
Königin war in Ungnade gefallen und lebte mit ihrem einzigen Sohn an
der
Meeresküste. Der Prinz verlebte seine Kindheit allein und verlassen; er
saß bei
seiner verlassenen Mutter und wob das Netz seiner ungeheuren Wünsche.
Er sehnte
sich auf die Suche zu gehen nach dem fliegenden Roß, nach dem Edelstein
in der
Haube der Kobraschlange, nach der Himmelsrose, nach dem Zauberstab oder
nach
dem Orte jenseits der dreizehn Flüsse und sieben Seen, wo die
Prinzessin
Tausendschön im Schloß des Ungeheuers schlief.
Vom
Sohn des Kaufmanns
lernte der junge Prinz in der Schule die Geschichten von fremden
Königreichen.
Vom Sohne des Amtmanns hörte er das Märchen von Alladin und der
Wunderlampe.
Und wenn der Regen herniederrauschte und die Wolken den Himmel
bedeckten, saß
er auf der Schwelle, und auf die See hinausblickend sagte er zu seiner
kummervollen Mutter:
„Mutter,
erzähle mir eine Geschichte von einem ganz fernen
Lande.“
Und
dann erzählte ihm seine Mutter eine endlos lange
Geschichte, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, von einem
Wunderlande
jenseits des Meeres, wo die Prinzessin Tausendschön lebte. Und das Herz
des
jungen Prinzen wurde krank vor Sehnsucht, wenn er da auf der Scholle
saß und
hinausblickte auf den Ozean und der Wundergeschichte seiner Mutter
lauschte,
während draußen der Regen herniederrauschte und die grauen Wolken den
Himmel
bedeckten.
Eines
Tages kam der Sohn des Kaufmanns zum Prinzen und
sagte kühn: „Kamerad, meine Studien sind zu Ende. Jetzt will ich auf
Reisen
gehen und auf dem Meere mein Glück versuchen. Ich komme, dir Lebewohl
zu
sagen.“
Der
Prinz sagte: „Ich will
mit dir gehen.“
Und
der Sohn des Amtmanns sagte auch: „Kameraden, ihr
habt immer treu und redlich an mir gehandelt, ihr werdet mich nicht
zurücklassen. Auch ich will euer Gefährte sein.“
Da
sagte der junge Prinz zu seiner kummervollen
Mutter: „Mutter, ich will jetzt auf die Reise gehen und mein Glück
suchen. Wenn
ich wieder zurückkomme, werde ich ein Mittel gefunden haben, all deinen
Kummer
zu bannen.“
So
machten sich denn die drei Gefährten zusammen auf
die Reise. Im Hafen lagen die zwölf Schiffe des Kaufmanns vor Anker,
und die
drei Gefährten gingen an Bord. Der Südwind blies, die zwölf Schiffe
segelten
fort, und die Wünsche des Prinzen flatterten ihnen voran.
An
der Muschelinsel füllten sie ein Schiff mit
Muscheln. An der Sandelbauminsel füllten sie ein zweites Schiff mit
Sandelholz,
und an der Koralleninsel füllten sie ein drittes Schiff mit Korallen.
Vier
Jahre gingen dahin, und sie füllten noch vier
Schiffe, eins mit Elfenbein, eins mit Moschus, eins mit Gewürznelken
und eins
mit Muskatnüssen.
Aber
als diese Schiffe alle
beladen waren, erhob sich ein furchtbarer Sturm. Alle Schiffe gingen
unter mit
ihren Nelken und Muskatnüssen und Moschus und Elfenbein und Korallen
und
Sandelholz und Muscheln. Aber das Schiff mit den drei Gefährten schlug
gegen
das Felsenriff einer Insel, warf sie wohlbehalten ans Ufer und brach
selbst in
Stücke.
Dies
war die berühmte Karteninsel, wo As und König und
Königin und Bube mit den Neunen und Zehnen und all den anderen Ständen
nach den
festgesetzten Regeln lebten.
Bis
dahin hatte nie etwas jene Inselstille gestört.
Nie hatte sich etwas Neues ereignet. Nie war man über irgendeine Sache
verschiedener Meinung gewesen.
Und
nun erschienen plötzlich die drei Gefährten, die
das Meer ans Land geworfen hatte, – und die große Debatte begann.
Da waren
drei Hauptstreitpunkte.
Erstens:
zu welcher Kaste sollten diese klassenlosen
Fremden gehören? Sollten sie denselben Rang einnehmen wie die
Hofkarten?
Oder waren
es bloß Leute einer niederen Kaste,
denen man den Platz der Neune und Zehne zuwies? Es lag kein
Präzedenzfall vor,
nach dem man diese wichtige Frage hätte entscheiden können.
Zweitens:
Zu welcher Rasse gehörten sie? Hatten sie
die hellere und zartere Hautfarbe der Herzen oder die dunklere der
Treffs? Über
diese Frage wurde endlos disputiert. Das ganze Heiratssystem der Insel
mit
seinen verwickelten Satzungen hing von ihrer richtigen Entscheidung ab.
Drittens:
Was für Nahrung sollten sie erhalten? Bei
wem sollten sie wohnen und schlafen? Und sollten sie mit dem Kopf nach
Südwesten hin liegen oder nach Nordwesten, oder nur nach Nordosten? Im
ganzen
Kartenkönigreiche war nie über eine Reihe so wichtiger und höchst
kritischer
Fragen verhandelt worden.
Aber
inzwischen wurden die drei Gefährten verzweifelt
hungrig. Sie mußten sich irgendwie etwas zu essen verschaffen. Und
während die
große Beratung noch vor sich ging mit ihren endlosen Pausen und während
die
Asse für sich eine Versammlung einberiefen und einen Ausschuß bildeten,
der
irgendeinen alten Fall aufstöbern sollte,
nach dem man entscheiden könnte, aßen die drei
Gefährten selbst alles, was sie finden konnten, und tranken aus jedem
Gefäß und
brachen alle Regeln.
Selbst
die Zweie und Dreie waren über dies unerhörte
Betragen entsetzt. Die Dreie sagten: „Brüder Zwei, diese Leute sind
einfach
schamlos.“ Und die Zweie sagten: „Brüder Drei, sie gehören
augenscheinlich zu
einer noch niedrigeren Kaste als wir.“
Nachdem
die drei Gefährten ihr Mahl beendet hatten,
machten sie einen Spaziergang durch die Stadt.
Als
sie sahen, wie die Leute gewichtig durch die
Straßen schritten, in düster feierlichem Zuge, mit ängstlich korrekten
Mienen,
da wandte sich der Prinz nach dem Sohn des Kaufmanns und dem Sohn des
Amtmanns
um, warf den Kopf zurück und brach in unbändiges Gelächter aus.
Die
Königsstraße hinab über den Asplatz und am
Bubenkai entlang erscholl dies seltsame, unerhörte Gelächter, bis es
wie über
sich selbst erschrocken im großen leeren Raum des Schweigens hinstarb.
Den
Sohn des Amtmanns und
den Sohn des Kaufmanns überlief es eiskalt bei dem geisterhaften
Schweigen
rings um sie her. Sie wandten sich zum Prinzen und sagten:
„Kamerad,
laß uns von hier fortgehen. Laß uns keinen
Augenblick länger in diesem unheimlichen Gespensterlande bleiben.“
Aber
der Prinz sagte: „Kameraden, diese Leute sehen
aus wie Menschen; ich will sie einmal gehörig durch und durch und um
und um
schütteln, um zu sehen, ob denn nicht noch ein einziger Tropfen warmen
Lebensblutes in ihren Adern übrig ist!“
EinTag
nach dem andern verging, und das Leben der
Insel rann still und gelassen dahin, fast ohne das leiseste
Wellengekräusel.
Die drei Gefährten aber kehrten sich an keine Regeln und Satzungen. Sie
taten
nie etwas nach vorgeschriebener Weise, mochten sie nun stehen oder
sitzen oder
sich umwenden oder auf dem Rücken liegen.
Im
Gegenteil, wo immer sie sahen, daß man diese Dinge
genau nach den Regeln tat, brachen sie in ein zügelloses Gelächter aus.
Auf sie
machte der heilige Ernst dieser geheiligten
Regeln durchaus keinen Eindruck.
Eines
Tages kamen die großen Hofkarten zu dem Prinzen
und dem Sohn des Amtmanns und dem Sohn des Kaufmanns.
„Warum“,
fragten sie langsam, „bewegt ihr euch nicht
nach den Regeln?“
Die
drei Gefährten antworteten: „Weil unsere Itscha (=
Wunsch) es so will.“
Die
großen Hofkarten sagten alle zusammen mit hohler
Grabesstimme, als wenn sie langsam aus einem jahrtausendelangen Schlaf
erwachten: „Itscha? Und dürfen wir fragen, wer Itscha ist?“
Sie
ahnten damals noch nicht, wer Itscha war, aber die
ganze Insel sollte es bald erfahren.
Zuerst
fing es an, leise in ihrem Geist zu dämmern,
als sie das Tun des Prinzen beobachteten und dadurch zu der Erkenntnis
kamen,
daß sie geradeaus gehen konnten in einer Richtung, die der gewohnten
entgegengesetzt war. Dann machten sie noch eine überraschende
Entdeckung: sie
bemerkten, daß die Karten noch eine andere Seite hatten, die sie nicht
beachtet
hatten. Dies war der Anfang der Wandlung.
Nun
aber, da die Wandlung
einmal begonnen hatte, konnten die Gefährten die Inselbewohner immer
tiefer in
die Geheimnisse der Itscha einweihen. Den Karten wurde es allmählich
klar, daß
das Leben nicht an Regeln gebunden ist. Sie fingen an, eine geheime
Befriedigung zu empfinden, daß sie die königliche Macht, für sich
selbst zu
wählen, ausüben konnten.
Aber
bei diesem ersten Anstoß der Itscha geriet der
ganze Kartenhaufe ins Schwanken und fiel zu Boden. Es war, wie wenn
eine
ungeheure Riesenschlange aus langem Schlaf erwacht und langsam ihre
zahllosen
Windungen aufrollt, während ein Zittern durch ihren ganzen Körper läuft.