Wenn
du von vergangenen Zeiten hören willst, setze
dich hier auf diese meine Stufe und lausche dem Murmeln und Plätschern
des
Wassers.
Es
war Anfang September. Der Fluß war hoch
geschwollen, nur vier von meinen Stufen sahen aus dem Wasser hervor.
Seine
Wellen überspülten die tiefer liegenden Teile des Ufers, wo die
Katschupflanzen
in dichten Massen unter den Zweigen der Mangobäume wuchsen. An einer
Biegung
des Flusses ragten drei alte Steinhaufen aus dem Wasser hervor. Die
Fischerboote, die an die Stämme der Akazienbäume am Ufer festgebunden
waren,
schaukelten sich am frühen Morgen auf den schwellenden Fluten. Die
langen
Gräser auf der Sandbank wurden gerade von der eben aufgehenden Sonne
berührt;
sie waren noch nicht voll erblüht, sondern hatten erst zu blühen
begonnen.
Die
kleinen Boote blähten
ihre winzigen Segel auf dem sonnenbeschienenen Fluß. Der
Brahmanenpriester kam
mit seinen heiligen Gefäßen, um zu baden. Die Frauen kamen zu zweien
und
dreien, um Wasser zu holen. Ich wußte, dies war die Zeit, wo Kusum zur
Badetreppe kam.
Aber
an jenem Morgen vermißte ich sie. Bhuban und
Swarno kamen und klagten um sie. Sie sprachen darüber, daß man ihre
Freundin
fortgebracht habe zu dem Hause ihres Gatten, an einen Ort weitab von
dem Fluß,
mit fremden Menschen und fremden Häusern und fremden Straßen.
Mit
der Zeit verblaßte ihr Bild fast ganz in meiner
Erinnerung. Ein Jahr verging. Die Frauen auf den Badestufen sprachen
selten von
Kusum. Aber eines Morgens schrak ich zusammen bei der altvertrauten
Berührung
ihrer Füße. Ach ja, es waren ihre Füße, aber sie waren ohne Spangen und
hatten
ihre alte Musik verloren.
Kusum
war Witwe geworden. Die Leute sagten, daß ihr
Gatte an einem fernen Ort gearbeitet und sie ihn nur ein paar Mal
gesehen hätte.
Ein Brief hatte ihr die Nachricht von seinem Tode
gebracht. So war sie mit acht Jahren Witwe geworden, hatte das rote
Frauenmal
von ihrer Stirn entfernt, ihren Schmuck abgelegt und war in ihr altes
Heim am
Ganges zurückgekehrt. Aber sie fand nur noch wenige ihrer alten
Spielgefährtinnen.
Bhuban,
Swarno und Amala waren verheiratet und
fortgezogen; nur Sarat war noch da, aber auch sie, hieß es, würde
nächsten
Dezember heiraten.
Wie
der Ganges, sobald die Regenzeit kommt, schnell zu
seiner ganzen, herrlichen Fülle anschwillt, so entfaltete sich auch
Kusum von
Tag zu Tag zu der ganzen Fülle jugendlicher Schönheit. Aber ihr dunkles
Gewand,
ihr ernstes Gesicht und stilles Wesen warfen einen Schleier über ihre
Jugend
und verbargen sie den Augen der Menschen wie hinter einem Nebel. Zehn
Jahre
glitten dahin, und niemand schien bemerkt zu haben, daß Kusum zum Weibe
herangereift war.
Vor
langen Jahren, an einem Septembermorgen wie heute,
kam ein großer, schlanker, junger Sannjasin von heller Hautfarbe des
Weges
daher und nahm Herberge in dem
Schivatempel mir
gegenüber. Das Gerücht von seiner Ankunft verbreitete sich im Dorfe.
Die Frauen
ließen ihre Krüge stehen und drängten sich in den Tempel, um dem
heiligen Mann
ihre Ehrfurcht zu erweisen.
Die
Menge wuchs mit jedem Tage. Der Ruhm des Sannjasin
verbreitete sich schnell unter den Frauen. Einmal trug er ihnen aus dem
Bhāgavata-Purāna vor, ein andermal erklärte er ihnen die Gītā oder
predigte im
Tempel über ein heiliges Buch. Einige suchten Rat bei ihm, einige
Zaubermittel
und einige Arznei.
So
vergingen Monate. Im April, zur Zeit der
Sonnenfinsternis, kamen ungeheure Scharen hierher, um im Ganges zu
baden. Unter
den Akazienbäumen wurde ein Jahrmarkt abgehalten. Viele von den Pilgern
suchten
den Sannjasin auf, und unter ihnen waren einige Frauen aus dem Dorfe,
wo Kusum
verheiratet gewesen war.
Es
war an einem Morgen. Der Sannjasin saß auf meinen
Stufen und sprach seine Gebete, als plötzlich eine der Pilgerinnen ihre
Nachbarin anstieß und sagte: „Ei sieh doch! Es ist ja der Gatte unserer
Kusum!“
Die andere hielt
vorsichtig mit zwei Fingern ihren
Schleier ein klein wenig auseinander und rief aus: „O Himmel, er ist es
wirklich! Es ist der jüngste Sohn der Familie Tschattergu aus unserm
Dorfe!“
Und eine dritte, die ihren Schleier nicht so geflissentlich zur Schau
trug,
rief: „Ja gewiß muß er es sein! Er hat genau dieselbe Stirn und Nase
und
Augen!“ Doch eine andere Frau sagte seufzend, indem sie ihren Krug ins
Wasser
tauchte und sich nicht weiter nach dem Sannjasin umsah: „Ach nein! Der
junge
Mann lebt nicht mehr; er kommt nicht zurück. Die arme Kusum!“
„Er
hatte auch keinen so großen Bart,“ wandte eine
andere ein. „Und so mager war er auch nicht.“ „Und auch nicht so groß,“
meinten
noch andere. Damit war die Frage erledigt, und man sprach nicht mehr
darüber.
Eines
Abends, als der Vollmond aufging, kam Kusum und
setzte sich auf meine unterste Stufe dicht über dem Wasser, und ihr
Schatten
fiel auf mich.
Es
war sonst niemand an dem Badeplatz. Die Heimchen
zirpten um mich her. Das Geläute der Tempelglocken hatte aufgehört, die
letzte
Tonwelle verebbte langsam, bis sie sich allmählich
im verdämmernden Hain des andern Ufers verlor. Auf dem dunklen Wasser
des
Ganges lag ein Streifen glitzernden Mondlichts. Am Uferrand, in den
Büschen und
Hecken, unter dem Tempelportal, in den Ruinen verfallener Häuser, am
Rand des
Teiches, im Palmenhain, überall stiegen Schatten auf von phantastischer
Gestalt. Die Fledermäuse hingen an den Zweigen der Tschatimbäume und
schwangen
leise hin und her. In der Nähe erhob sich das laute Geheul der Schakale
und
verstummte dann wieder.
Langsam
trat der Sannjasin aus dem Tempel. Als er die
Badetreppe herabsteigen wollte, sah er eine Frau allein dort sitzen und
war
schon im Begriff umzukehren, als Kusum plötzlich den Kopf hob und sich
umsah.
Ihr Schleier glitt herab, und das Mondlicht fiel voll auf ihr Gesicht,
als sie
ihn anblickte.
Eine
Eule flog schreiend über die beiden hinweg. Kusum
schrak zusammen bei dem Laut, kam zu sich und zog den Schleier über den
Kopf.
Dann neigte sie sich tief vor dem Sannjasin.
Er
segnete sie und fragte:
„Wer bist du?“
„Ich
heiße Kusum“, erwiderte sie.
Weiter
wurde an jenem Abend kein Wort gesprochen.
Kusum ging langsam zu ihrem Hause zurück, das ganz in der Nähe war.
Aber der
Sannjasin blieb in jener Nacht noch stundenlang auf meinen Stufen
sitzen.
Endlich, als der Mond seinen Weg von Osten nach Westen zurückgelegt
hatte und
der Schatten des Sannjasin von hinten nach vorn gerückt war, stand er
auf und
ging in den Tempel.
Seitdem
sah ich Kusum täglich zu ihm kommen und ihm
ihre Ehrfurcht bezeugen. Wenn er die heiligen Schriften erklärte, stand
sie in
einer Ecke und hörte ihm zu. Wenn er seinen Morgengottesdienst beendet
hatte,
pflegte er sie zu sich zu rufen und zu ihr über Religion zu sprechen.
Sie
konnte wohl nicht alles verstehen, aber sie hörte ihm aufmerksam und
schweigend
zu und versuchte, es zu verstehen. Seinen Weisungen folgte sie
blindlings.
Täglich kam sie zum Tempel, immer zum Dienst des Gottes bereit, sei es,
daß sie
Blumen zum Morgen- und Abendopfer pflückte oder Wasser vom
Ganges holte, um die Tempelfliesen zu waschen.
Der
Winter nahte sich seinem Ende. Kalte Winde wehten.
Aber dann kam am Abend ganz unerwartet die warme Frühlingsbrise vom
Süden her;
der Himmel verlor sein frostiges Aussehen; nach langem Schweigen
ertönte wieder
Musik und Flötenspiel im Dorfe. Die Schiffer zogen die Ruder ein,
ließen ihre
Fahrzeuge mit dem Strom treiben und begannen die alten Lieder von
Krischna zu
singen. Der Frühling war da.
Damals
fing ich an, Kusum zu vermissen. Seit einiger
Zeit war sie weder zum Fluß noch zum Tempel oder zum Sannjasin
gekommen.
Was
dazwischen geschah, weiß ich nicht, aber nach
einiger Zeit trafen die beiden sich eines Abends auf meinen Stufen.
Mit
gesenktem Blick fragte Kusum: „Herr, hast du mich
rufen lassen?“
„Ja,
warum sehe ich dich nicht mehr? Warum hast du in
letzter Zeit angefangen, den Dienst der Götter zu vernachlässigen?“
Sie
schwieg.
„Sage
mir deine Gedanken ganz offen.“
Mit
halbabgewandtem Gesicht
erwiderte sie: „Ich bin ein sündiges Weib, Herr, und so diene ich den
Göttern
nur schlecht.“
Der
Sannjasin sagte: „Kusum, ich weiß, dich quält
etwas.“
Sie
zuckte leicht zusammen. Dann verhüllte sie ihr
Gesicht in ihrem Sari und setzte sich weinend auf die Stufe zu Füßen
des
Sannjasin.
Er
trat etwas zurück. Dann sagte er: „Sag' mir, was du
auf dem Herzen hast, damit ich dir den Weg zum Frieden zeige.“
Sie
erwiderte in einem Ton unerschütterlichen
Vertrauens, indem sie ab und zu nach Worten rang: „Wenn du befiehlst,
so muß
ich dir alles sagen. Aber es ist so schwer, ich weiß nicht, wie ich es
dir
erklären soll. Du, Herr, mußt es ja erraten haben. Ich verehrte Einen
wie einen
Gott, ich betete ihn an, und mein Herz war ganz erfüllt von der
Seligkeit
dieser Hingebung. Aber eines Nachts hatte ich einen Traum. Mir träumte,
der
Herr meines Herzens saß neben mir in einem Garten; er hielt meine
rechte Hand
in seiner Linken und flüsterte mir Worte der Liebe zu. Alles schien mir
vertraut und als müsse es so sein. Der Traum
verschwand, aber seine Wirkung blieb. Als ich ihn am nächsten Tage
wiedersah,
erschien er mir im andern Licht als vorher. Jenes Traumbild verfolgte
mich. Ich
floh in meiner Angst und hielt mich fern von ihm, aber das Bild wich
nicht.
Seitdem hat mein Herz keinen Frieden gekannt, – alles in mir ist
dunkel
geworden!“
Während
sie unter Tränen ihre Geschichte erzählte,
fühlte ich, wie der Sannjasin den rechten Fuß fest auf meine Steinstufe
preßte.
Als
sie geendet hatte, sagte er: „Du mußt mir sagen,
wen du im Traum sahst.“
Mit
gefalteten Händen flehte sie: „Ich kann nicht.“
Er
beharrte: „Du mußt mir sagen, wer es war.“
Sie
rang die Hände. „Muß ich es dir sagen?“ fragte
sie. „Ja,“ erwiderte er. „Du bist es, Herr!“ stieß sie hervor. Dann
brach sie
schluchzend zusammen und barg ihr Antlitz an meinem steinernen Busen.
Als
sie wieder zu sich kam und sich aufrichtete, sagte
der Sannjasin langsam: „Ich verlasse diesen Ort noch heute abend, damit
du
mich nicht wiedersiehst. Bedenke, daß ich ein Sannjasin
bin, der nicht dieser Welt gehört. Du mußt mich vergessen.“
Kusum
erwiderte mit leiser Stimme: „Wie du befiehlst,
Herr.“
„Leb
denn wohl“, sagte der Sannjasin. Kusum neigte
sich stumm vor ihm und berührte ehrfurchtsvoll seine Füße. Dann ging
er.
Der
Mond stieg herab; die Nacht wurde dunkel. Ich
hörte ein Platschen im Wasser. Der Sturm raste durch die dunkle Nacht,
als ob
er alle Sterne am Himmel auslöschen wollte.