Geschichten
Kurt
Tucholsky
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Der
Löw’ ist los –!
Am
sechsten Juli dieses Jahres beschloss der Löwe Franz Wüstenkönig aus
dem großen
Raubtierhaus des Berliner Zoologischen Gartens, fürder nicht mehr
mitzumachen.
Er brach aus.
Das
machte er so, dass er, gelegentlich der Reinigung seines Käfigs durch
den
Oberwärter Pfleiderer in den Nebenkäfig gescheucht, das Schließen der
Verbindungstür durch Dazwischenklemmen seines Schweifendes geschickt
verhinderte, die Reinigung abwartete, sich dann mit Gebrüll Nr. 3 auf
den
ahnungslosen Pfleiderer stürzte, diesen über den Haufen rannte und
durch
die offenstehende Käfigtür das Weite suchte und fand.
Der Löw’ ist los –!
Dieser
Schreckensruf verbreitete sich, einem Lauffeuer gleich, in den
Wandelgängen
unseres geliebten Zoologischen Gartens. Die Aufregung der Besucher war
unbeschreiblich. Viele ließen in der Eile ihr Bier stehen, ohne zu
zahlen – und
noch lange nach diesen Ereignissen sah man an den Restaurants des Zoo
die Kette
der ehrlichen Berliner anstehen, die ihre schuldige Zeche begleichen
wollten.
Kinderwagen fielen um und ergossen ihren schreienden Inhalt auf die
Wege,
ältere Damen, die sonst nur mühsam einher schlurchten, liefen
plötzlich, dass
es eine Freude war – die Lästerallee war wie leergefegt, und nur
ängstliche
Kellner saßen hoch oben in den Zweigen der Bäume, und ihre schwarzen
Fräcke
hingen hernieder wie die Schwänze fremdartiger Zaubervögel. Der Löw’
ist los –!
Hastig
stürzten die aufgeschreckten Menschen auf die Straßen und
ohrenbetäubend
verkündete auch dort ihr Geschrei: „Der Löw’ ist los! Und seinen
Apostroph hat
er auch mitgenommen –!“
Die Wirkung war furchtbar.
Wüstenkönig
war noch damit beschäftigt, gedankenvoll und langsam in der leeren
Waldschänke
die dort aufgehängten kleinen Würstchen zu verzehren – da standen
draußen schon
ganze Straßenzüge auf dem Kopf. Die gewöhnlichen Leute stürzten, haste
was
kannste, über Rinnsteine, Hunde, Babys, Aktentaschen, und dicke Damen,
die
nicht weiter konnten. Die minder gut gestellten Schichten der
Bevölkerung
machten sich die Situation rasch zunutze – sie kauften die an die
Bordschwellen
gespülten Strandgüter der Fliehenden à la baisse und
eröffneten damit
an den Ecken einen schwunghaften Handel. Die oberen Schichten hingegen
bewahrten auch hier] ihre überlegene Ruhe, sobald sie erst einmal
im Auto
saßen – umsichtig und ernst sorgten sie dafür, dass sich keiner an die
Wagen
hängte. Die Droschkenkutscher schlugen augenblicks um das Achtzehnfache
auf –
zum ersten Mal in Berlin, ohne den Polizeipräsidenten um Erlaubnis zu
fragen.
Es war ein Höllenlärm. In der Mitte stand, starr und stolz, ein
Polizeiwachtmeister, turnte ägyptisch und regelte den Verkehr, und der
Verkehr
blieb stehen und sah zu, wie er geregelt wurde, und war sehr stolz. Es
ging zu
wie in einer getauften Judenschule.
Der Löwe
Wüstenkönig war inzwischen mit den Würstchen fertig geworden. Er
brüllte nach
dem Kellner – keiner kam. Unwillig mit dem Schweif den kleinen
alltagsreif
schlagend, begab sich Wüstenkönig ins Freie. Das majestätische Tier
schritt
würdevoll dem Ausgang nach dem Kurfürstendamm zu.
Berlin
war aufgestört wie ein Ameisenhaufen. Alle Telefone klingelten mit
einem Male
schrill auf – aber es meldeten sich nur die falschen Verbindungen. Die
einzigen,
die den Kopf nicht verloren, waren die Damen vom Amt, sie verrichteten
kaltblütig ihren Dienst in gewohnter Weise weiter, und so bekam niemand
Anschluss. In den Redaktionen der großen Zeitungen drängten sich die
Reporter.
„Wie soll das jetzt noch in die Abendausgabe?“ jammerte Redakteur
Ausgerechnet.
„Konnte dieser verdammte Löwe nicht eine halbe Stunde früher
ausbrechen?“ –
„Dann machen wir eben eine Extraausgabe!“ sagte der Verleger Mülvoß.
Und:
„Extraausgabe! Extraausgabe!“ hallte es durch das Haus. Und die Setzer
klapperten mit den Winkelhaken, und die schweren Rotationspressen
setzten sich
rasch in Bewegung...
Die Börse
nahm die Nachricht vom Ausbruch des Löwen verhältnismäßig gefasst
auf.
(Haben Sie schon mal eine Nachricht gesehen, die die Börse nicht
gefasst
aufgenommen hätte?) Montanwerte fester, Gerste leicht angezogen,
Brauereien
flau, Jakob Goldschmidt immer oben auf, Herbert Guttmann repartiert,
Häute
fest.
Im
Reichswehrministerium tagte gerade eine Unterkommission des
Untersuchungsausschusses
zur Nachprüfung seiner eignen Unentbehrlichkeit, als die
Schreckensnachricht
eintraf. Das Frühstück, Verzeihung, die Sitzung, wurde sofort
abgebrochen. Zwei
Generalstabsoffiziere arbeiteten hopphopp mit ihren Referenten einen
Feldzugsplan für die Bekämpfung des Löwen aus und forderten dazu an:
2 Armeekorps,
1 Pressestelle,
24 außer etatmäßige Stabsoffizierstellen,
1 Stück Kanone,
1 Land-Panzerkreuzer.
Der Löwe
Wüstenkönig schritt inzwischen, immer majestätisch, wie es ihn seine
liebe
Mutter gelehrt hatte, durch die Kurfürstenstraße zum Lützowplatz.
Menschenleer
lagen Straßen und Plätze. Da stand ein großes Löwendenkmal. Missmutig
schnupperte der Löwe. Dann hob er – da rührte sich etwas. Was war das?
Nichts.
Der Löwe ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Ging und
lief dann in langen Sätzen die Lützowstraße entlang durch die Potsdamer
Straße
und stürmte vor ein großes Warenhaus.
Er war
Gourmand, der Löwe Franz Wüstenkönig. Er wollte so eine nette, kleine,
pruzlige
Verkäuferin zum Frühstück essen – so eine frische, junge...
Herrgottnichtnochmal! Das Wasser lief ihm in Appetitschnüren zum Maule
heraus
und hing in langen Fäden an seinem Bart... Schnurrend legte er
sich und
wartete.
Die
Behörden hatten inzwischen fieberhaft gearbeitet. In aller Eile, so gut
das eben
in der Geschwindigkeit ging, hatte man eine Reichslöwenabwehrabteilung
mit
einem Sonderressort für bayrische Löwen begründet, und es handelte sich
nur
noch darum, ob die Abteilung das ganze Rathaus oder das Hotel Adlon
beziehen
sollte –
Die
Deutsche Volkspartei war wie stets auf dem Posten. Schon nach einer
halben
Stunde klebten an allen Säulen und Bäumen knallblaue Plakate:
„MITBÜRGER!
DER LÖW’ IST LOS!
WER IST DARAN SCHULD?
DIE JUDEN!
WÄHLT DIE DEUTSCHE VOLKSPARTEI!“
Das Leben
in der Stadt war völlig umgekrempelt. Niemand wagte sich mehr aus dem
Hause.
Aus allen Stadtteilen wurden Löwen gemeldet – im ganzen zweiundsechzig.
Acht
große Hunde wurden erschossen, erst an den Hundemarken erkannte man den
kleinen
Irrtum. Bei Königs ließ die Köchin Babett das Teeservice mit dem
gesamten
Gedeck fallen, weil ihr der junge Herr von hinten einen Kuss
aufgedrückt hatte.
Mit dem Ausruf: „Jessas! der Löwe!“ brach das brave Mädchen zusammen.
Die
Berliner Theaterdirektoren Bindelbands suchten verzweifelt den Löwen.
Sie wollten
ihn für den Shawschen „Androklus“ engagieren. Sie fuhren von Straße zu
Straße
– kein Löwe. Feuerwehrautos
klingelten durch die
Gegend
– kein Löwe. Der Löwe war fottefliegt.
Der Löwe
war gar nicht fort. Er war, des Wartens müde, aufgestanden, schlenderte
nun
durch die Straßen, erblickte einen Wagen mit Kirschen und warf ihn,
durch den
hohen Preis erschreckt, um – und dann war er weiter und weiter gegangen.
Also das
war Berlin! Dieser traurige Haufe von Steinkästen und schnurgeraden
Straßen,
die alle ein bißchen unsauber aussahen – das war das Weltdorf Berlin!
Der Löwe
schüttelte das Haupt. Da hatten ihm die Spatzen im Käfig wer weiß was
erzählt –
und wenn abends vor der Fütterung aus dem Raubtierhaus, ja, aus dem
ganzen
Zoo ein Schrei aufstieg: „Swoboda!“ (Russisch ist
nämlich
das Volapük der Tiere, und dies heißt so viel wie Freiheit!) – dann
meinten
alle, die ja zum großen Teil ihre natürliche Heimat nie gesehen hatten,
gar
nicht Afrika oder die Kordilleren oder Indien – der Schrei hieß:
Berlin! – Einmal
auf der Rutschbahn im Lunapark fahren, war die Sehnsucht der Krokodile;
einmal
zum Rennen nach Ruhleben, danach lechzten die Aasgeier; einmal sich in
der Bar
wälzen können, träumten die wilden Schweine. Abend für Abend. Und das
hier war
Berlin? Das war es?
Wüstenkönig schüttelte
nochmals das Haupt.
Und da
rückte es heran. Die Feuerwehr von der einen Seite und die
Gebirgs-Marine der
Reichswehr von der andern, Kino-Operateure und Leute, die bei allen
Premieren
dabei sein müssen, Journalisten, Damen der ersten besten Gesellschaft
und die
Bindelbands... Da rückte es heran.
Und das
Erstaunliche geschah, dass sich der Löwe Franz Wüstenkönig, der
Beherrscher der
Tiere, die Majestät der Fauna pp., ruhig abführen ließ – in seinen
Käfig
zurück, in das große Raubtierhaus des Zoologischen Gartens.
Und als
die Tür hinter ihm zugeklappt war und ihn der Oberwärter Pfleiderer
vorwurfsvoll angeschnupft hatte, und als sich der ganze Schwarm
verlaufen, da
senkte der enttäuschte Löwe den Schweif, den er bis dahin glorios nach
oben
getragen hatte, streckte sich still der Länge lang hin und sagte mit
Wärme und
Überzeugung: „Nie wieder –!“
oben
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