Angst
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Aber
es gibt eine
Schlaffheit der Atmosphäre, die ebenso sinnlich macht als Schwüle oder
Sturm,
eine Wohltemperiertheit des Glückes, die aufreizender ist als Unglück,
und für
viele Frauen durch ihre Wunschlosigkeit ebenso verhängnisvoll als eine
dauernde
Unbefriedigung durch Hoffnungslosigkeit. Sattheit reizt nicht minder
wie
Hunger, und das Gefahrlose, Gesicherte ihres Lebens gab ihr Neugier
nach dem
Abenteuer. Nirgends war Widerstand in ihrer Existenz. Überall griff sie
ins
Weiche, überall war Vorsorglichkeit, Zärtlichkeit, laue Liebe und
häusliche
Achtung hingebreitet, und ohne zu ahnen, daß diese Gemäßigtheit der
Existenz niemals
von äußeren Dingen bemessen wird, sondern immer nur Widerspiel einer
inneren
Beziehungslosigkeit ist, fühlte sie sich irgendwie um das wirkliche
Leben durch
diese Behaglichkeit betrogen.
Ihre
dämmernden
Mädchenträume von der großen Liebe und der Ekstase des Gefühls,
eingeschläfert
von den freundlichen Beruhigungen der ersten Ehejahre und dem
spielhaften Reiz
junger Mütterlichkeit, begannen jetzt, da sie sich dem dreißigsten
Jahre
näherte, wieder zu erwachen, und wie jede Frau maß sie sich innerlich
die
Fähigkeit zu großer Leidenschaft bei, ohne aber dem Willen zum Erleben
den Mut
beizugesellen, der das Abenteuer mit seinem wahrhaften Preis, der
Gefahr,
bezahlt. Als ihr nun in diesen Augenblicken einer Zufriedenheit, die
sie selbst
nicht zu steigern vermochte, dieser junge Mensch mit starkem,
unverhehltem
Begehren sich ihr näherte und, von der Romantik der Kunst umwittert, in
ihre
bürgerliche Welt trat, wo sonst die Männer nur mit lauen Späßen und
kleinen
Koketterien die „schöne Frau“ in ihr respektvoll feierten, ohne je
ernstlich
das Weib in ihr zu begehren, fühlte sie sich zum erstenmal seit ihren
Mädchentagen wieder in ihrem Innersten gereizt. An seinem Wesen hatte
sie
vielleicht nichts verlockt als ein Schatten von Trauer, der über seinem
etwas zu
interessant arrangierten Gesicht lag und von dem sie nicht zu
unterscheiden
wußte, daß er eigentlich ebenso erlernt sei wie das Technische seiner
Kunst und
jene melancholisch verdüsterte Nachdenklichkeit, aus der er ein
(längstvorausstudiertes) Impromptu erhob. In dieser Traurigkeit lag für
sie,
die sich von lauter satten und bürgerlichen Menschen umringt fühlte,
eine
Ahnung jener höheren Welt, die ihr farbig aus den Büchern
entgegenblickte und
romantisch in den Theaterstücken sich regte, und unwillkürlich beugte
sie sich
über den Rand ihrer täglichen Gefühle, um sie zu betrachten. Ein
Kompliment, aus der Hingerissenheit der
Sekunde, vielleicht etwas heißer als schicklich dargebracht, ließ ihn
vom
Klavier zu der Frau aufschauen, und schon dieser erste Blick griff nach
ihr. Sie erschrak und fühlte
gleichzeitig die Wollust aller Angst: ein Gespräch, in dem alles wie
von
unterirdischen Flammen durchleuchtet und erhitzt schien, beschäftigte
und
reizte ihre nun schon rege Neugier so sehr, daß sie einer neuerlichen
Begegnung
in einem öffentlichen Konzert nicht auswich. Sie sahen sich dann öfter,
und
bald nicht mehr durch Zufall. Der Ehrgeiz, daß sie, die ihrem
musikalischen
Urteil bisher wenig Wert zugemutet hatte und mit Recht ihrem
künstlerischen
Gefühl Bedeutung versagte, ihm, einem wirklichen Künstler, als
Verstehende und
Beratende viel bedeute, wie er ihr wiederholt versicherte, ließ sie
wenige
Wochen später voreilig seinem Vorschlage vertrauen, er wolle ihr und
nur ihr
allein sein neuestes Werk bei sich vorspielen – ein Versprechen, das in
seiner
Absicht vielleicht halb aufrichtig war, aber doch in Küssen und
schließlich
ihrer überraschten Hingabe unterging. Ihr erstes Gefühl war Erschrecken
vor
dieser unerwarteten Wendung ins Sinnliche, der geheimnisvolle Schauer,
der
diese Beziehung umwitterte, war jählings gebrochen, und das
Schuldbewußtsein
für diesen ungewollten Ehebruch wurde nur teilweise beruhigt durch die
prickelnde Eitelkeit, zum erstenmal durch einen, wie sie glaubte,
eigenen
Entschluß die bürgerliche Welt, in der sie lebte, verneint zu haben.
Den
Schauer vor ihrer eigenen Schlechtigkeit, der sie in den ersten Tagen
erschreckte, verwandelte ihre Eitelkeit so in gesteigerten Stolz. Aber
auch
diese geheimnisvollen Erregungen hatten ihre volle Spannung nur in den
ersten
Augenblicken. Ihr Instinkt wehrte sich unterirdisch gegen diesen
Menschen und
am meisten gegen das Neue in ihm, das Andersartige, das ihre Neugier
eigentlich
verlockt hatte. Die Extravaganz seiner Kleidung, das Zigeunerische
seines
Hausstandes, das Ungeregelte seiner finanziellen Existenz, die zwischen
Verschwendung und Verlegenheit ewig pendelte, waren ihrem bourgeoisen
Empfinden
antipathisch; wie die meisten Frauen wollte sie den Künstler sehr
romantisch
von der Ferne und sehr gesittet im persönlichen Umgang, ein funkelndes
Raubtier, aber hinter den Eisenstäben der Sitte. Die
Leidenschaft, die sie an seinem Spiel
berauschte, beunruhigte in seiner körperlichen Nähe, sie mochte
eigentlich
diese plötzlichen und herrischen Umarmungen nicht, deren eigenwillige
Rücksichtslosigkeit sie unwillkürlich mit der nach Jahren noch scheuen
und
verehrungsvollen Glut ihres Mannes verglich. Aber nun sie einmal in die
Untreue
geraten war, kam sie wieder und wieder zu ihm, ohne beglückt, ohne
enttäuscht
zu sein, aus einem gewissen Gefühl der Verpflichtung und einer Trägheit
der
Gewöhnung. Sie war eine jener Frauen, die selbst unter den
leichtsinnigen und
sogar den Kokotten nicht selten sind, deren innere Bürgerlichkeit so
stark ist,
daß sie selbst in den Ehebruch eine Ordnung, in die Ausschweifung eine
Art
Häuslichkeit mitbringen und selbst das seltene Gefühl mit geduldiger
Maske in
eine Alltäglichkeit zu verspinnen suchen. Nach wenigen Wochen schon
paßte sie
diesen jungen Menschen, ihren Geliebten, irgendwo säuberlich in ihr
Leben ein,
bestimmte ihm, so wie ihren Schwiegereltern, einen Tag in der Woche,
aber sie
gab mit dieser neuen Beziehung nichts von ihrer alten Ordnung auf,
sondern
legte nur gewissermaßen ihrem Leben etwas hinzu. Dieser Geliebte
änderte bald
gar nichts mehr am behaglichen Mechanismus ihrer Existenz, er wurde
irgendein
Zuwachs von temperiertem Glück, wie ein drittes Kind oder ein
Automobil, und
das Abenteuer schien ihr bald so banal wie der erlaubte Genuß.
Das
erstemal nun, da sie
das Abenteuer mit seinem wirklichen Preis, der Gefahr, bezahlen sollte,
begann
sie es kleinlich auf seinen Wert zu berechnen. Vom Schicksal verwöhnt,
verzärtelt von ihrer Familie, fast wunschlos gemacht durch günstige
Vermögensverhältnisse, schien schon die erste Unbequemlichkeit ihrer
Wehleidigkeit zu viel. Sie weigerte sich sofort, etwas von ihrer
seelischen
Sorglosigkeit herzugeben, und war eigentlich ohne Überlegung bereit,
den
Geliebten ihrer Gemächlichkeit zu opfern.
Die
Antwort ihres Geliebten,
ein aufgeschreckter, nervös hingestammelter Brief, noch am Nachmittag
von einem
Boten überbracht, ein Brief, der verstört flehte, klagte und anklagte,
machte
sie wieder unsicher in ihrem Entschluß, das Abenteuer zu enden, weil
diese Gier
ihrer Eitelkeit schmeichelte und sie durch seine ekstatische
Verzweiflung
entzückte. Ihr Geliebter bat sie in dringendsten Worten wenigstens um
eine
flüchtige Begegnung, damit er doch wenigstens seine Schuld aufklären
könne,
falls er sie durch irgend etwas unwissend verletzt haben sollte, und
nun reizte
sie das neue Spiel, weiter mit ihm zu schmollen und durch unmotiviertes
Verweigern sich ihm noch kostbarer zu machen. Sie empfand sich jetzt
inmitten
einer Aufregung, und das tat ihr, wie allen innerlich kühlen Menschen,
wohl,
umbrandet zu sein von Leidenschaften und doch selbst nicht zu brennen.
So
bestellte sie ihn in eine Konditorei, von der sie sich plötzlich wieder
erinnerte, dort als junges Mädchen ein Rendezvous mit einem
Schauspieler gehabt
zu haben, eines freilich, das ihr jetzt kindisch dünkte, in seiner
Ehrerbietung
und Sorglosigkeit. Seltsam, lächelte sie in sich hinein, daß die
Romantik in
ihrem Leben jetzt wieder aufzublühen begann, die in all den Jahren
ihrer Ehe
verkümmert war. Und beinahe war sie schon jener brüsken Begegnung mit
der
Weibsperson von gestern innerlich froh, bei der sie seit langem wieder
ein
wirkliches Gefühl so stark und stimulierend empfunden hatte, daß ihre
sonst
ganz leicht entspannten Nerven noch unterirdisch davon bebten.
Sie
nahm diesmal ein
dunkles, unauffälliges Kleid und einen anderen Hut, um bei der
möglichen
Begegnung die Erinnerung jener Person irrezumachen. Einen Schleier
hatte sie
schon bereit, um sich unkenntlicher zu machen, aber ein plötzlich
aufsteigender
Trotz ließ sie ihn beiseite legen. Sollte sie es denn nicht wagen
dürfen, sie,
eine geachtete, angesehene Frau, auf die Straße zu gehen, aus Angst vor
irgendeiner Person, die sie gar nicht kannte? Und schon mengte sich der
Furcht
vor der Gefahr ein fremdartig lockender Reiz, eine kampfbereite,
gefährlich
prickelnde Lust, ähnlich der, mit den Fingern die kühle Schneide eines
Dolches
zu fühlen oder in die Mündung eines Revolvers zu schauen, in dessen
schwarzer
Hülse der Tod zusammengepreßt sitzt. In diesem Schauer des Abenteuers
war etwas
ihrem geborgenen Leben Ungewohntes, dem wieder nahe zu sein es sie
spielhaft
verlockte, eine Sensation, die ihre Nerven jetzt wundervoll spannte und
elektrische Funken durch ihr Blut sprühte.
Ein
flüchtiges Angstgefühl
überflog sie nur in der ersten Sekunde, da sie die Straße betrat, ein
nervöser
Schauer von rieselnder Kälte, wie wenn man die Fußspitze prüfend ins
Wasser
taucht, ehe man sich der Welle voll hingibt. Aber eine Sekunde bloß
flog diese
Kühle durch sie hin, dann rauschte mit einemmal in ihr eine seltene
Lebensfreude auf, die Lust, so leicht, stark und elastisch
auszuschreiten, mit
einem gespannten gehobenen Schritt, den sie an sich selber nicht
kannte. Fast
leid war es ihr, daß die Konditorei so nahe lag, denn irgendein Wille
trieb sie
jetzt rhythmisch weiter fort in die geheimnisvoll magnetische
Anziehung des Abenteuers. Aber
die Stunde war knapp, die sie der Begegnung bestimmt hatte, und eine
angenehme
Sicherheit im Blut verhieß ihr, daß ihr Geliebter sie bereits
erwartete. Er saß
in einer Ecke, als sie eintrat, und sprang mit einer Erregung auf, die
sie
angenehm und peinlich zugleich berührte. Sie mußte ihn mahnen, die
Stimme zu
dämpfen, so heiß sprudelte er aus dem Tumult seiner inneren Erregtheit
einen
Wirbel von Fragen, und Vorwürfen ihr entgegen. Ohne den wahrhaften
Grund ihres
Ausbleibens auch nur anzudeuten, spielte sie mit Andeutungen, die ihn
durch
ihre Unbestimmtheit noch mehr entzündeten. Für seine Wünsche blieb sie
diesmal
unnahbar und zögerte selbst mit Versprechungen, weil sie spürte, wie
sehr dies
geheimnisvoll plötzliche Entziehen und Versagen ihn aufreizte . . . Und
als sie
ihn nach einer halben Stunde heißen Gesprächs verließ, ohne ihm das
mindeste an
Zärtlichkeit gewährt oder auch nur verheißen zu haben, loderte sie
innen von
einem sehr seltsamen Gefühl, wie sie es nur als Mädchen gekannt hatte.
Es war
ihr, als glimme eine kleine, prickelnde Flamme tief unten und wartete
nur auf
den Wind, der das Feuer aufpeitschte, daß es über ihrem Haupte
zusammenschlage.
Sie nahm jeden Blick, den ihr die Gasse zusprengte, hastig mit im
Vorüberschreiten, und der unerwartete Erfolg vieler solcher männlicher
Lockungen reizte ihre Neugier nach dem eigenen Gesicht so sehr, daß sie
plötzlich vor dem Spiegel an der Auslage einer Blumenhandlung stehen
blieb, um
im Rahmen roter Rosen und tauglitzender Veilchen ihre eigene Schönheit
zu sehen.
Funkelnd blickte sie sich an, leicht und
jung, ein wollüstig halbgeöffneter Mund lächelte ihr von drüben
Zufriedenheit
zu, und beflügelt fühlte sie nun ihre Glieder im Weiterschreiten, ein
Verlangen
nach einer körperlichen Entkettung, nach Tanz oder Taumel löste den
gewohnten
gemächlichen Rhythmus aus ihren Schritten, und ungern hörte sie jetzt
von der
Michaelerkirche, an der sie vorbeieilte, die Stunde, die sie nach Hause
rief,
in ihre enge, ordentliche Welt. Seit ihren Mädchentagen hatte sie
nie
sich so leicht empfunden, nie so beseelt in allen Sinnen, nicht die
ersten Tage
der Ehe und nicht die Umarmungen ihres Geliebten hatten derart mit
Funken ihren
Leib gestachelt, und der Gedanke wurde ihr unerträglich, jetzt schon
all diese
seltene Leichtigkeit, diese süße Besessenheit des Blutes an geregelte
Stunden
zu verschwenden. Müde ging sie weiter. Vor dem Hause blieb sie noch
einmal
zögernd stehen, die feurige Luft, das Verwirrende dieser Stunde noch
einmal mit
geweiteter Brust in sich einzuatmen, sie tief bis ans Herz zu spüren,
diese
letzte verebbende Welle des Abenteuers.
Da
rührte sie jemand an der
Schulter. Sie wandte sich um. „Was . . . was wollen Sie denn schon
wieder?“
stammelte sie tödlich erschreckt, als sie plötzlich das verhaßte
Gesicht sah,
und erschrak noch mehr, sich selbst diese verhängnisvollen Worte sagen
zu
hören. Sie hatte sich doch vorgenommen, diese Frau nicht mehr zu
erkennen, wenn
sie ihr jemals wieder begegnen sollte, alles abzuleugnen, Stirn an
Stirn der
Erpresserin entgegenzutreten . . . Jetzt war es zu spät.
„Ich
warte schon eine halbe
Stunde hier auf Sie, Frau Wagner.“
Irene
zuckte zusammen, als
sie ihren Namen hörte. Die Person wußte ihren Namen, ihre Wohnung.
Jetzt war
alles verloren, sie ihr rettungslos ausgeliefert. Sie hatte Worte
zwischen
ihren Lippen, die sorgsam vorbereiteten und berechnenden Worte, aber
ihre Zunge
war gelähmt und ohne Kraft, einen Laut hervorzubringen.
„Eine
halbe Stunde warte
ich schon, Frau Wagner.“
Drohend
wie einen Vorwurf
wiederholte die Person die Worte.
„Was
wollen Sie . . . was
wollen Sie denn von mir . . .“
„Sie
wissen schon, Frau
Wagner“ – Irene zuckte bei dem Namen wieder zusammen -, „Sie wissen
ganz genau,
warum ich komme.“
„Ich
habe ihn nie mehr
gesehen . . . lassen Sie mich jetzt . . . nie mehr werde ich ihn sehen
. . .
nie
. . .“
Die
Person wartete
gemächlich, bis Irene in ihrer Erregung nicht mehr weiter konnte. Dann
sagte
sie barsch wie zu einem Untergebenen: „Lügen
Sie nicht! Ich bin
Ihnen ja nachgegangen bis an die Konditorei“, und fügte, als sie Irene
zurückweichen sah, noch höhnisch hinzu: „Ich habe ja keine
Beschäftigung. Aus
dem Geschäft haben sie mich entlassen, wegen Arbeitsmangels, wie sie
sagen, und
wegen der schlechten Zeiten. Na, das nützt man halt aus, und da geht
unsereins
auch ein biß’l spazieren . . . ganz so wie die anständigen Frauen.“