Angst
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Ihre
eingetrocknete, nach
Menschen lechzende Seele sog aus allem Leben und Genuß.
Nebenan
lockte Musik und
drang ihr tief unter die brennende Haut. Der Tanz begann, und ohne es
zu
wissen, war sie schon mitten im Gewühle. Wie noch nie in ihrem Leben
tanzte
sie. Dieser kreisende Wirbel schleuderte alle Schwere aus ihr heraus,
der
Rhythmus wuchs in die Glieder und durchatmete den Körper mit feuriger
Bewegung.
Hielt die Musik inne, so fühlte sie die Stille schmerzhaft, die
Schlange der
Unrast züngelte auf an ihren schauernden Gliedern, und wie ein Bad, in
kühlendes, beruhigendes, tragendes Wasser, stürzte sie sich wieder in
den
Wirbel hinein. Sonst war sie immer nur eine mittelmäßige Tänzerin
gewesen, zu
gemessen, zu besonnen, zu hart und vorsichtig in den Bewegungen, aber
dieser
Rausch der befreiten Freude löste alle körperlichen Hemmungen. Ein
stählernes
Band von Scham und Besonnenheit, das sonst ihre wildesten
Leidenschaften in
eine Form zusammenhielt, riß jetzt mittendurch, und sie fühlte sich
haltlos,
restlos, selig zerfließen. Arme, Hände spürte sie um sich, Berührung
und
Entschwinden, Atem von Worten, kitzelndes Lachen, Musik, die innen im
Blut
zuckte, ihr ganzer Körper war gespannt, so sehr gespannt, daß ihr die
Kleider
am Leibe brannten und sie unbewußt am liebsten alle Hülle abgerissen
hätte, um
nackt diesen Rausch tiefer in sich hineinzuspüren.
„Irene,
was hast du?“ – sie
wandte sich um, taumelnd und lachenden Auges, noch ganz heiß von der
Umschlingung ihres Tänzers. Da stieß kalt und hart der verwundert
starre Blick
ihres Mannes in ihr Herz. Sie erschrak. War sie zu wild gewesen? Hatte
ihre
Raserei etwas verraten?
„Was
. . . was meinst du,
Fritz?“ stammelte sie, verwundert vom jähen Stoß seines Blickes, der
immer
tiefer in sie zu dringen schien und den sie jetzt schon ganz innen,
ganz an
ihrem Herzen spürte. Sie hätte aufschreien mögen unter der wühlenden
Entschlossenheit dieser Augen.
„Das
ist doch seltsam“,
murmelte er endlich. In seiner Stimme war eine dumpfe Verwunderung. Sie
wagte
nicht zu fragen, was er damit meinte. Aber ein Schauer lief ihr durch
die
Glieder, als sie jetzt, da er sich wortlos wegwandte, seine Schultern
sah,
breit, hart und groß, zu einem eisernen Nacken nervig getürmt. Wie bei
einem
Mörder, flog es ihr durch das Hirn, irrsinnig und schon wieder
verscheucht.
Jetzt erst, als ob sie ihn zum erstenmal gesehen, ihren eigenen Mann,
empfand
sie voll Grauen, daß er stark und gefährlich war.
Die
Musik hob wieder an.
Ein Herr trat auf sie zu, mechanisch nahm sie seinen Arm. Aber nun war
alles
schwer geworden, und die helle Melodie konnte ihre erstarrten Glieder
nicht
mehr heben. Eine dumpfe Schwere wuchs vom Herzen aus den Füßen zu,
jeder
Schritt tat ihr weh. Und sie mußte ihren Tänzer bitten, sie
freizugeben.
Unwillkürlich sah sie sich im Zurücktreten um, ob ihr Mann nahe wäre.
Und
schrak zusammen. Er stand unmittelbar hinter ihr, als erwarte er sie,
und
wieder stieß er blank mit dem Blick gegen den ihren. Was wollte er? Was
wußte
er schon? Unwillkürlich raffte sie das Kleid zusammen, als müßte sie
die nackte
Brust vor ihm schützen. Sein Schweigen blieb hartnäckig wie sein Blick,
„Wollen
wir gehen?“ fragte
sie ängstlich.
„Ja.“
Seine klang hart und
unfreundlich. Er ging voraus. Wieder sah sie den breiten, drohenden
Nacken. Man
warf ihr den Pelz um, aber sie fror. Schweigend fuhren sie
nebeneinander. Sie
wagte kein Wort. Dumpf fühlte sie eine neue Gefahr. Nun war sie von
beiden
Seiten umstellt.
In
dieser Nacht hatte sie
einen drückenden Traum. Irgendeine fremde Musik rauschte, ein Saal war
hell und
hoch, sie trat ein, viele Menschen und Farben mengten ihre Bewegung, da
drängte
ein junger Mann, den sie zu kennen glaubte und doch nicht ganz erriet,
auf sie
zu, faßte sie am Arm, und sie tanzte mit ihm. Ihr war wohl und weich,
eine
einzige Welle Musik hob sie auf, daß sie den Boden nicht mehr spürte,
und so
tanzten sie durch viele Säle, in denen goldene Leuchter ganz hoch oben
wie
Sterne strahlend kleine Flammen hielten und viele Spiegel Wand an Wand
ihr
eigenes Lächeln ihr zuwarfen und wieder weit wegtrugen in unendlichen
Reflexen.
Immer heißer wurde der Tanz, immer brennender die Musik. Sie merkte,
wie der
Jüngling sich enger an sie schmiegte, seine Hand in ihren nackten Arm
sich
vergrub, daß sie stöhnen mußte vor schmerzvoller Lust, und jetzt, da
ihre Augen
in seine tauchten, meinte sie ihn zu erkennen. Ein Schauspieler dünkte
er sie,
den sie als kleines Mädchen von fern ekstatisch geliebt hatte, schon
wollte sie
seinen Namen beseligt aussprechen, aber er verschloß ihren leisen
Schrei mit
einem glühenden Kuß.
Und
so, mit verschmolzenen
Lippen, ein einziger ineinanderglühender Körper, flogen sie, wie von
einem
seligen Wind getragen, durch die Räume. Die Wände strömten vorbei, sie
spürte
die aufschwebende Decke nicht mehr und die Stunde, unsäglich leicht mit
entketteten Gliedern. Da plötzlich rührte sie jemand an die Schulter.
Sie hielt
inne und mit ihr die Musik, die Lichter verloschen, schwarz drängten
sich die
Wände heran, und der Tänzer war verschwunden. „Gib ihn mir her, du
Diebin!“
schrie das grauenhafte Weib, denn sie war es, daß die Wände gellten,
und
klemmte eiskalte Finger um ihr Handgelenk. Sie bäumte sich auf und
hörte sich
selber schreien, einen irren, kreischenden Laut des Entsetzens, und sie
rangen
beide, aber das Weib war stärker, riß ihr das Perlenhalsband ab und
dabei das
halbe Kleid, daß ihre Brust und Arme sich nackt entblößten unter den
niederhängenden Fetzen. Mit einem Male waren wieder Menschen da, aus
allen
Sälen strömten sie in anschwellendem Lärm und starrten sie, die
Halbnackte,
höhnisch an und das Weib, das gellend schrie: „Sie hat ihn mir
gestohlen, die
Ehebrecherin, die Dirne.“ Sie wußte nicht, wohin sich verbergen, wohin
ihre Augen
wenden, denn immer näher trazen die Menschen heran, neugierige,
fauchende
Fratzen griffen ihre Nacktheit, und jetzt, da ihr taumelnder Blick nach
Rettung
fortflüchtete, sah sie plötzlich im finsteren Rahmen der Tür ihren Mann
reglos
stehen, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen. Sie schrie auf und
lief
von ihm fort, lief durch viele Räume, hinter ihr brandete die gierige
Menge,
sie spürte, wie ihr Kleid immer mehr niederglitt, kaum konnte sie es
noch
halten.
Da
sprang eine Tür vor ihr
auf, gierig stürzte sie die Treppe hinab, sich zu retten, aber unten
wartete
schon wieder das gemeine Weib in ihrem wollenen Rock und mit ihren
kralligen
Händen. Sie sprang zur Seite und lief wie wahnsinnig ins Weite, aber
die andere
stürzte ihr nach, und so jagen sie beide durch die Nacht lange
schweigende
Straßen entlang, und die Laternen bogen sich grinsend zu ihnen nieder.
Hinter
sich hörte sie immer die Holzschuhe des Weibes ihr nachklappern, aber
immer,
wenn sie an eine Straßenecke kam, sprang auch dorten wieder das Weib
hervor und
wieder an der nächsten, hinter allen Häusern, rechts und links lauerte
sie.
Immer war sie schon da, entsetzlich vervielfacht, nicht zu überholen,
immer
sprang sie vor und griff nach ihr, die schon die Knie sich versagen
fühlte.
Doch endlich, da war ihr Haus, sie stürzte darauf zu, aber wie sie die
Tür aufriß,
stand dort ihr Mann, ein Messer in der Hand, starrte sie an mit einem
bohrenden
Blick. „Wo bist du gewesen?“ fragte er dumpf. „Nirgends“, hörte sie
sich sagen
und schon ein grelles Gelächter an ihrer Seite. „Ich habe es gesehen!
Ich habe
es gesehen!“ schrie grinsend das Weib, das plötzlich wieder neben ihr
stand und
irrsinnig lachte. Da hob ihr Mann das Messer. „Hilfe!“ schrie sie auf.
„Hilfe!“
. . .
Sie
starrte auf, und ihre
erschreckten Blicke stießen in die ihres Mannes. Was . . . war das ?
Sie war in
ihrem Zimmer, die Ampel brannte fahl, sie war zu Hause in ihrem Bett,
sie hatte
nur geträumt. Aber wieso saß ihr Mann am Rand ihres Bettes und
betrachtete sie
gleich einer Kranken? Wer hatte das Licht angezündet, warum saß er so
ernst da,
so reglos starr? Ein Schrecken zuckte ihr durch und durch.
Unwillkürlich
blickte sie nach seiner Hand: nein, es war kein Messer darin. Langsam
wich die
Benommenheit des Schlafs von ihr und das Wetterleuchten seiner Bilder.
Sie
mußte geträumt, im Träume geschrien und ihn erweckt haben. Aber warum
blickte
er so ernst, so durchdringenden, so unerbittlich ernst auf sie?
Sie
versuchte zu lächeln.
„Was . . . was ist denn? Warum siehst du mich so an? Ich glaube, ich
habe bös
geträumt.“
„Ja,
du hast laut
geschrien. Vom andern Zimmer habe ich’s gehört.“
Was
habe ich gerufen, was
habe ich verraten, schauerte ihr, was weiß er schon? Sie wagte sich
kaum wieder
empor in seinen Blick. Aber er sah ganz ernst auf sie nieder mit einer
merkwürdigen Ruhe.
„Was
ist mit dir, Irene?
Etwas geht in dir vor. Du bist ganz verwandelt, seit ein paar Tagen,
bist wie
im Fieber, nervös, zerfahren und schreist um Hilfe aus dem Schlaf?“
Sie
versuchte wieder zu
lächeln. „Nein“, beharrte er. „Du sollst mir nichts verschweigen. Hast
du
irgendeine Sorge oder quält dich etwas? Alle haben es schon bemerkt im
Hause,
wie du verwandelt bist. Du sollst Vertrauen zu mir haben, Irene.“
Er
rückte unmerklich an sie
heran, sie fühlte, wie seine Finger ihren nackten Arm glätteten und
schmeichelten, und in seinen Augen war ein seltsames Licht. Ein
Verlangen
überkam sie, jetzt sich an seinen festen Körper zu werfen, sich
anzuklammern,
alles zu gestehen und ihn nicht eher zu lassen, als bis er vergeben,
jetzt in
diesem Augenblick, da er sie leiden gesehen.
Aber
die Ampel brannte
fahl, ihr Gesicht erhellend, und sie schämte sich. Sie fürchtete sich
vor dem
Wort. „Sei nicht besorgt, Fritz“, suchte sie zu lächeln, indes ihr
Körper
schauerte bis in die nackten Zehen. „Ich bin nur ein wenig nervös. Es
wird
schon vorübergehen.“
Die
Hand, die sie schon
umschlungen hielt, zog sich rasch zurück. Sie schauerte, wie sie ihn
jetzt
ansah, bleich im gläsernen Licht, und die Stirn von den schweren
Schatten
finsterer Gedanken überwölbt. Langsam richtete er sich auf.
„Ich
weiß nicht, mir war
so, als hättest du mir etwas zu sagen all diese Tage schon. Etwas, was
nur dich
angeht und mich. Wir sind jetzt allein, Irene.“
Sie
lag und rührte sich
nicht, gleichsam hypnotisiert von diesem ernsten und verschleierten
Blick. Wie
gut, fühlte sie, könnte jetzt alles werden, nur ein Wort brauchte sie
zu sagen,
ein kleines Wort: Verzeihung, und er würde nicht fragen, wofür. Aber
warum
brannte das Licht, dieses laute, freche, horchende Licht? Im Dunkel
hätte sie
es zu sagen vermocht, das fühlte sie. Aber das Licht zerbrach ihre
Kraft.
„Also
wirklich nichts, gar
nichts hast du mir zu sagen?“
Wie
furchtbar die
Verlockung, wie weich seine Stimme war! Nie hatte sie ihn so sprechen
gehört.
Aber das Licht, die Ampel, dieses gelbe, gierige Licht!
Sie
gab sich einen Ruck.
„Was fällt dir ein“, lachte sie und erschrak schon vor dem Falsett der
eigenen
Stimme. „Weil ich nicht gut schlafe, sollte ich schon Geheimnisse
haben? Am
Ende gar Abenteuer?“
Sie
schauerte selber, wie
falsch, wie verlogen die Worte klangen, ihr graute bis in das innerste
Mark vor
sich selbst, und unwillkürlich wandte sie den Blick.
„Nun
– schlaf gut.“ Kurz
sagte er’s jetzt, ganz scharf. Mit einer ganz anderen Stimme, wie eine
Drohung
oder wie einen bösen, gefährlichen Spott.
Dann
löschte er das Licht.
Sie sah seinen weißen Schatten bei der Tür verschwinden, lautlos, fahl,
ein
nächtiges Gespenst, und wie die Tür zufiel, war ihr, als schließe sich
ein
Sarg. Abgestorben fühlte sie alle Welt und hohl, nur innen in ihrem
erstarrten
Leib stieß das eigene Herz laut und wild gegen die Brust, Schmerz und
Schmerz
jeder Schlag.
Am
nächsten Tage, als sie
gemeinsam beim Mittagessen saßen – die Kinder hatten eben gestritten
und
konnten nur mit Mühe zur Ruhe verwiesen werden -, brachte das
Dienstmädchen
einen Brief. Für die gnädige Frau und man warte auf Antwort. Erstaunt
betrachtete sie eine fremde Schrift und löste eilig das Kuvert, um
schon bei
der ersten Zeile jäh zu erblassen. Mit einem Ruck sprang sie auf und
erschrak
noch mehr, als sie an der einhelligen
Verwunderung der anderen das Verräterisch-Unbedachte ihres Ungestüms
erkannte.
Der
Brief war kurz. Drei
Zeilen: „Bitte, geben Sie dem Überbringer dieses Briefes sofort hundert
Kronen.“ Keine Unterschrift, kein Datum, in den sichtbar verstellten
Schriftzügen,
nur dieser grauenhaft eindringliche Befehl. Frau Irene lief in ihr
Zimmer, um
das Geld zu holen, doch sie hatte die Schlüssel zu ihrem Kasten
verlegt,
fieberhaft riß und rüttelte sie an allen ihren Laden, bis sie ihn
endlich fand.
Zitternd faltete sie die Banknote in ein Kuvert und übergab sie selbst
an der
Tür dem wartenden Dienstmann. Sie tat das alles ganz sinnlos, wie in
einer
Hypnose, ohne an die Möglichkeit eines Zögerns zu denken. Dann trat sie
– kaum
zwei Minuten war sie weggeblieben – wieder in das Zimmer zurück.