Angst
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Alles
schwieg. Sie setzte
sich mit einem scheuen Unbehagen nieder und wollte eben irgendeine
eilige
Ausflucht suchen, als sie – und so zitterte ihre Hand, daß sie das
erhobene
Glas eilig niederstellen mußte – in furchtbarstem Erschrecken bemerkte,
daß
sie, vom Blitzschlag der Erregung geblendet, den Brief offen neben
ihrem Teller
hatte liegen lassen. Eine kleine Bewegung nur, und ihr Mann hätte ihn
zu sich
herüberziehen können, ein Blick vielleicht konnte genügt haben, die
groß und
ungelenk geschriebenen Zeilen zu lesen. Das Wort versagte ihr. Mit
einem
verstohlenen Griff knitterte sie das Billett zusammen, aber jetzt, wie
sie es
einsteckte, begegnete sie, aufschauend , einem starken Blick ihres
Mannes,
einem bohrenden, strengen, schmerzhaften Blick, den sie früher nie an
ihm
gekannt hatte. Jetzt erst, seit einigen Tagen, gab er ihr mit dem Blick
diese
plötzlichen Stöße des Mißtrauens, von denen sie ihr Innerstes
erzittern fühlte und die zu parieren
sie nicht verstand. Mit solch einem Blick hatte er nach ihren Gliedern
damals
beim Tanz gegriffen, es war der gleiche, der gestern nachts wie ein
Messer über
ihrem Schlaf gefunkelt hatte.
War
es ein Wissen oder ein
Wissenwollen, das ihn so schärfte, so blank, so stählern, so
schmerzhaft
machte? Und während sie noch nach einem Wort rang, überfiel sie eine
längst
vergessene Erinnerung, nämlich, daß ihr
Mann einmal erzählt hatte, als Anwalt einem Untersuchungsrichter
gegenübergestanden zu sein, dessen Kunstgriff es war, während des
Verhörs mit
gleichsam kurzsichtigen Blicken die Akten zu durchmustern, um dann bei
der
wirklich entscheidenden Frage blitzartig den Blick zu heben und wie
einen Dolch
in das jähe Erschrecken des Angeklagten zu stoßen, der dann bei diesem
grellen
Blitz konzentrierter Aufmerksamkeit die Fassung verlor und die sorgsam
hochgehaltene Lüge kraftlos fallen ließ. Sollte er nun selbst sich in
so
gefährlicher Kunst versuchen und sie das Opfer sein? Sie schauderte, um
so mehr
als sie wußte, eine wie große psychologische Leidenschaft ihn weit über
das Maß
der juristischen Ansprüche an seinen Beruf fesselte. Aufspüren,
Entfalten,
Erpressen eines Verbrechens konnte ihn beschäftigen wie andere
Hasardspiel oder
Erotik, und in solchen Tagen psychologischer Spürjagd war sein Wesen
gleichsam
innerlich durchgewühlt. Eine brennende Nervosität, die ihn nachts oft
vergessene Entscheidungen aufstöbern ließ, wurde nach außen zu einer
stählernen
Undurchdringlichkeit, er aß und trank wenig, rauchte nur unablässig,
das Wort
gleichsam aufsparend für die Stunde vor dem Gericht. Einmal hatte sie
ihn dort
gesehen bei einem Plädoyer und nicht ein zweites Mal mehr, so sehr war
sie
erschreckt gewesen von der finsteren Leidenschaft, der fast bösen Glut
seiner
Rede und einem dumpfen und herben Zug in seinem Gesicht, den sie nun
mit einem
Male in dem starren Blick unter den drohend gefalteten Brauen
wiederzufinden
meinte.
Alle
diese verlorenen
Erinnerungen drängten sich in dieser einen Sekunde zusammen und wehrten
den
Worten, die sich auf ihren Lippen immer bilden wollten. Sie schwieg und
wurde
in dem Maße verwirrter, je mehr sie spürte, wie gefährlich dieses
Schweigen war,
und wie sehr sie die letzte plausible Möglichkeit einer Erklärung
versäumte. Die
Augen wagte sie nicht mehr zu erheben, aber jetzt im Niederblicken
erschrak sie
noch mehr, als sie seine, des sonst so Ruhigen und Gemessenen Hände wie
kleine
wilde Tiere auf dem Tisch auf und nieder wandern sah. Zum
Glück war das Mittagsmahl bald zu Ende,
die Kinder sprangen auf und stürmten ins Nebenzimmer mit ihren hellen,
heiteren
Stimmen, deren Übermut die Gouvernante vergebens sich zu dämpfen
bemühte. Auch
ihr Mann erhob sich und ging schwer und ohne sich umzuschauen ins
Nebenzimmer.
Kaum
allein, holte sie den
verhängnisvollen Brief wieder hervor. Einmal überflog sie noch die
Zeilen:
„Bitte, geben Sie dem Überbringer dieses Billetts sofort hundert
Kronen.“ Dann
riß ihre Wut ihn in Fetzen und ballte schon die Reste zusammen, um sie
in den
Papierkorb zu schleudern, da besann sie sich, hielt inne, beugte sich
über den
Kamin und warf das Papier in die aufzischende Glut. Die weiße Flamme,
die mit
aufspringender Gier die Drohung fraß, beruhigte sie.
In
diesem Augenblick hörte
sie den rückkehrenden Schritt ihres Mannes schon an der Tür. Rasch fuhr
sie auf,
das Gesicht rot vom Anhauch der Glut und der Ertappung. Die Tür des
Ofens stand
noch verräterisch offen, ungeschickt suchte sie mit ihrem Körper sie zu
decken.
Er trat an den Tisch, entflammte ein Streichholz für seine Zigarre,
und, wie
die Flamme nur nach seinem Gesichte war, glaubte sie ein Zittern um
seine
Nasenflügel flimmern zu sehen, das bei ihm immer Zorn verriet. Ruhig
blickte er
jetzt herüber: „Ich will dich nur aufmerksam machen, daß du nicht
verpflichtet
bist, mir deine Briefe zu zeigen. Wenn du es wünschst, Geheimnisse vor
mir zu
haben, so steht dir das vollkommen frei.“ Sie schwieg und wagte ihn
nicht
anzusehen. Er wartete einen Augenblick, dann stieß er den Dampf seiner
Zigarre
mit starkem Atem wie aus innerster Brust heraus und verließ mit
schwerem
Schritt das Zimmer.
Sie
wollte nun an nichts
mehr denken, nur mehr leben, sich betäuben, ihr Herz mit leeren und
sinnlosen
Beschäftigungen füllen. Das Haus ertrug sie nicht mehr, sie mußte, das
fühlte
sie, auf die Straße, unter Menschen, um nicht wahnsinnig zu werden vor
Grauen.
Mit diesen hundert Kronen waren, so hoffte sie, wenigstens einige
knappe Tage
Freiheit von der Erpresserin erkauft, und sie beschloß, wieder einen
Spaziergang zu wagen, um so mehr, als vielerlei zu besorgen und vor
allem zu
Hause das Auffällige ihres veränderten Benehmens zu verdecken war. Sie
hatte
jetzt schon eine bestimmte Art zu fliehen. Vom Haustor stürzte sie wie
von
einem Sprungbrett mit geschlossenen Augen in die Flut der Straße. Und
einmal das
harte Pflaster unter den Füßen, die warme Flut von Menschen um sich,
stieß sie
sich in einer nervösen Hast, so rasch eine Dame nur gehen durfte, ohne
auffällig zu werden, blindlings nach vorwärts, die Augen starr auf den
Boden
geheftet, in der begreiflichen Furcht, wieder jenem gefährlichen Blick
zu
begegnen. War sie belauert, so wollte sie es wenigstens nicht wissen.
Und doch
spürte sie, daß sie an nichts anderes dachte, und schrak zusammen, wenn
zufällig jemand an ihren Körper streifte. Ihre Nerven litten
schmerzhaft unter
jedem Laut, jedem Schritt, der nachkam, jedem Schatten, der
vorbeistreifte; nur
im Wagen oder fremden Haus konnte sie wahrhaft atmen.
Ein
Herr grüßte sie.
Aufschauend, erkannte sie einen Jugendfreund ihrer Familie, einen
freundlichen,
geschwätzigen Graubart, dem sie sonst gerne auswich, weil er die Art
hatte,
einen stundenlang mit seinen kleinen, vielleicht nur eingebildeten
körperlichen
Leiden zu belästigen. Aber jetzt war es ihr leid, den Gruß nur dankend
erwidert
und nicht seine Begleitung gesucht zu haben, denn ein Bekannter wäre
doch
Abwehr gegen eine unvermutete Ansprache jener Erpresserin gewesen. Sie
zögerte
und wollte noch nachträglich umkehren, da war ihr, als ob jemand von
rückwärts
rasch auf sie zuschritte, und instinktiv, ohne zu überlegen, stürmte
sie
weiter. Aber sie spürte im Rücken mit dem durch die Angst grausam
geschärften
Ahnungsgefühl eine gleichsam beschleunigte Annäherung und lief immer
hastiger,
obwohl sie wußte, der Verfolgung schließlich nicht entgehen zu können.
Ihre
Schultern begannen zu schauern im Vorgefühl der Hand, die sie nun –
immer näher
spürte sie den Schritt – im nächsten Augenblick berühren würde, und je
mehr sie
ihren Gang beschleunigen wollte, desto schwerer wurden ihre Knie. Ganz
nahe
spürte sie jetzt den Verfolger, und „Irene!“ rief jetzt eindringlich
und doch
leise von rückwärts eine Stimme, an die sie sich erst besinnen mußte,
die aber
doch nicht die gefürchtete war, die grauenhafte Botin des Unglücks.
Aufatmend
wandte sie sich herum: es war ihr Geliebter, der bei dem plötzlichen
Ruck, mit
dem sie anhielt, fast an sie stürzte. Bleich, verwirrt war sein Gesicht
mit
allen Zeichen der Erregung und nun, unter ihrem fassungslosen Blick,
schon der
Beschämung. Unsicher hob er die Hand zum Gruß und ließ sie wieder
sinken, als
sie ihm die ihre nicht bot. Sie starrte ihn nur an, ein, zwei Sekunden,
so
unerwartet war er ihr. Gerade ihn hatte sie vergessen in all den Tagen
der
Angst. Jetzt aber, da sie sein bleiches und fragendes Gesicht von nah
sah mit
jenem Ausdruck ratloser Leerheit, die jedes ungewisse Gefühl immer in
die Augen
zeichnete, schäumte plötzlich Wut in heißer Welle in ihr empor.
Ihre Lippen zitterten nach einem Wort, und die
Erregung in ihrem Antlitz war so sichtbar, daß er erschreckt nur ihren
Namen
stammelte: „Irene, was hast du?“ und als er ihre ungeduldige Gebärde
sah, schon
ganz geduckt beifügte: „Was habe ich dir denn getan?“
Sie
starrte ihn an mit
schlecht bezähmter Wut.
„Was
Sie mir getan haben?“
lachte sie höhnisch. „Nichts! Gar nichts! Nur Gutes! Nur
Annehmlichkeiten.“
Sein
Blick war entgeistert,
und sein Mund blieb halb offen vor Erstaunen, was das Einfältige und
Lächerliche seines Aussehens noch vermehrte. „Aber Irene . . . Irene!“
„Machen
Sie kein Aufsehen
da“, herrschte sie ihn barsch an. „Und spielen Sie mir keine Komödien
vor.
Gewiß lauert sie wieder in der Nähe, Ihre saubere Freundin, und dann
fällt sie
mich wieder an . . .“
„Wer
. . . wer denn?“
Am
liebsten hätte sie ihn
mit der Faust ins Gesicht geschlagen, in dieses läppisch-starre,
verzerrte
Gesicht. Sie spürte schon, wie ihre Hand den Schirm umkrallte. Nie
hatte sie
einen Menschen so verachtet, so gehaßt.
„Aber
Irene . . . Irene“,
stammelte er immer verwirrter. „Was habe ich dir denn getan? . . . Auf
einmal
bleibst du fort . . . Ich warte auf dich
Tag und Nacht . . . Den ganzen Tag stehe ich heute schon vor deinem
Haus und
warte, dich eine Minute sprechen zu können.“
„Du
wartest . . . so . . .
du auch.“ Sinnlos machte sie, das fühlte sie, die Wut. Ihm ins Gesicht
schlagen
können, wie wohl das täte! Aber sie hielt sich zusammen, sah ihn noch
einmal an
voll brennenden Ekels, gleichsam überlegend, ob sie ihm nicht den
ganzen
angestauten Zorn mit einer Beschimpfung ins Gesicht speien sollte, dann
wandte
sie sich plötzlich und drängte, ohne zurückzublicken, in das
Menschengewirr
hinein. Er blieb stehen mit seiner noch flehend ausgetreckten Hand,
ratlos und
durchschauert, bis das Geschiebe der Straße ihn faßte und fortschob wie
die
Strömung ein sinkendes Blatt, das taumelnd und kreisend sich wehrt und
schließlich doch willenlos weggeschwemmt wird.
Daß
dieser Mensch jemals
ihr Geliebter gewesen war, kam ihr jetzt plötzlich ganz unwahr und
sinnlos vor.
An nichts konnte sie sich besinnen, nicht an die Farbe seiner Augen,
die Form
seines Gesichts, keine seiner Liebkosungen war ihr körperlich gewärtig,
und von
seinen Worten klang nichts in ihr nach als dieses jammernde, weibische,
hündische „Aber, Irene!“ seiner stammelnden Verzweiflung. Nicht ein
einziges
Mal hatte sie in all den Tagen, so sehr er Ursprung alles Unheils war,
an ihn
gedacht, nicht einmal in ihren Träumen. Nichts war er für ihr Leben,
keine
Lockung und kaum eine Erinnerung. Unverständlich war ihr geworden, daß
jemals
ihre Lippen seinen Mund gefühlt haben sollten, und sie fühlte die Kraft
zum
Eide in sich, niemals ihm angehört zu haben. Was hatte sie in seine
Arme
getrieben, welcher fürchterliche Wahnsinn in ein Abenteuer gejagt, das
ihr
eigenes Herz nicht mehr verstand und kaum ihre Sinne? Nichts wußte sie
mehr
davon, fremd war ihr alles in diesem Geschehnis, fremd sie sich selber.
Aber
war nicht auch alles
andere anders geworden in diesen sechs Tagen, dieser einen Woche des
Entsetzens? Wie Scheidewasser hatte die ätzende Angst ihr Leben
zersetzt und
seine Elemente gesondert. Die Dinge hatten mit einem Male anderes
Gewicht,
vertauscht waren alle Werte und die Beziehungen verwirrt. Ihr war, als
hätte
sie nur mit dämmrigem Gefühl, halb verschlossenen Blicks bisher durch
ihr Leben
getastet, und nun strahlte mit einem Male alles von innen in einer
furchtbar
schönen Klarheit. Ganz vor ihr, atemnah, standen Dinge, an die sie nie
gerührt
hatte und von denen sie mit einem Male begriff, daß sie ihr wahrhaftes
Leben
bedeuteten, und anderes wieder, was ihr wichtig geschienen, schwand hin
wie
Rauch. Sie hatte bislang in einer regen Geselligkeit gelebt, in jener
lauten,
gesprächigen Gemeinschaft der begüterten Kreise, und eigentlich nur für
sie,
aber nun, seit einer Woche im Kerker ihres eigenen Hauses spürte sie
keinen
Mangel darin, sie zu entbehren, sondern nur Ekel vor dieser leeren
Geschäftigkeit
der Unbeschäftigten, und unwillkürlich maß sie an diesem ersten starken
Gefühl,
das ihr zuteil war, die Seichtigkeit ihrer bisherigen Neigungen und das
unendliche Versäumnis an werktätiger Liebe. Wie in einen Abgrund sah
sie in
ihre Vergangenheit. Acht Jahre vermählt, war sie im Wahn eines zu
bescheidenen
Glückes nie ihrem Manne nähergetreten, fremd seinem innersten Wesen und
nicht
minder ihren eigenen Kindern. Zwischen ihr und ihnen standen bezahlte
Menschen.
Gouvernanten und Dienstboten, ihr all die kleinen Sorgen abzunehmen,
von denen
sie jetzt – seit sie näher in das Leben ihrer Kinder geblickt – erst zu
ahnen
begann, daß sie verlockender waren als die heißen Blicke der Männer und
beseligender als eine Umarmung. Langsam bildete sich ihr Leben zu einem
neuen
Sinn um, alles gewann Beziehungen und wandte ihr plötzlich ein
ernst-bedeutsames
Antlitz zu. Seit sie die Gefahr kannte und mit der Gefahr ein
wahrhaftes
Gefühl, begannen mit einem Male alle Dinge und auch die fremdesten ihr
gemeinsam zu werden. In allem spürte sie sich, und die Welt, früher
durchsichtig wie Glas, wurde an der dunklen Fläche ihres eigenen
Schattens mit
einem Male zum Spiegel. Wohin sie sah, wohin sie horchte, war plötzlich
Wirklichkeit.