Angst
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Sie
saß bei den Kindern.
Das Fräulein las ihnen ein Märchen vor von der Prinzessin, die alle
Kammern
ihres Palastes beschauen durfte, nur die eine nicht, die mit silbernem
Schlüssel verriegelt war und die sie doch öffnete zu ihrem Verhängnis.
War das
nicht auch ihr eigenes Schicksal, daß auch sie nur das verbotene
gereizt hatte
und ins Unglück getrieben? Tiefe Weisheit schien ihr das kleine
Märchen, das
sie vor einer Woche noch als einfältig belächelt hätte. In der Zeitung
stand
die Geschichte eines Offiziers, der unter Erpressung zum Verräter
geworden war.
Sie schauerte und verstand. Würde denn sie nicht auch Unmögliches tun,
um sich
Geld zu schaffen, ein paar Tage Ruhe zu kaufen, einen Schein von Glück.
Jede
Zeile, die von Selbstmord sprach, jedes Verbrechen, jede Verzweiflung
wurde ihr
plötzlich zum Geschehnis. Alles sagte „ich“ zu ihr, der Lebensmüde, der
Verzweifelte, das verführte Dienstmädchen und das verlassene Kind,
alles war
wie ihr eigenes Schicksal. Mit einem Male spürte sie den ganzen
Reichtum des
Lebens und wußte, daß nie eine Stunde in ihrem Schicksal mehr arm sein
könnte
und jetzt, da sich alles zu Ende neigte, spürte sie erst einen
Anbeginn. Und
dieses wunderbare Verstricktsein mit der ganzen unendlichen Welt sollte
diese
eine verlotterte Weibsperson Macht haben mit ihren groben Fäusten zu
zerreißen.
Um dieser einen Schuld willen sollte all das Große und Schöne, dessen
sie sich
nun zum erstenmal fähig fühlte, zertrümmert sein?
Und
warum – sie wehrte sich
blind gegen ein Verhängnis, das sie unbewußt sinnvoll glaubte – warum
gerade
ihr so entsetzliche Strafe für so geringfügiges Vergehen! Wie viele
Frauen
kannte sie, eitle, freche, wollüstige, die sich für Geld sogar
Liebhaber
hielten und in ihrem Arm den eigenen Mann verhöhnten, Frauen, die in
der Lüge
lebten wie im eigenen Haus, die schöner wurden in der Verstellung,
stärker in
der Gefahr, indes sie ohnmächtig zusammenbrach bei der ersten Angst,
dem ersten
Vergehen.
Aber
war sie denn überhaupt
schuldig? In ihrem Innersten fühlte sie, daß dieser Mensch, dieser
Geliebte ihr
fremd war, daß sie nichts von ihrem wirklichen Leben ihm jemals
hingegeben.
Nichts hatte sie empfangen von ihm, nichts von sich ihm geschenkt. All
dies
Vergangene und Vergessene war gar nicht ihr Verbrechen, sondern das
einer
anderen Frau, die sie selbst nicht verstand und an die sie sich nicht
einmal
mehr zurückerinnern konnte. Durfte man denn ein Vergehen strafen, das
durch die
Zeit schon entsühnt war?
Plötzlich
erschrak sie. Sie
fühlte, daß dies gar nicht mehr ihr eigener Gedanke war. Wer hatte das
nur
gesagt? Irgend jemand in ihrer Nähe, jüngst erst, vor wenigen Tagen.
Sie dachte
nach, und ihr Erschrecken wurde nicht geringer, als sie sich besann,
daß es ihr
eigener Mann war, der diesen Gedanken in ihr geweckt hatte. Er war von
einem
Prozeß zurückgekommen, aufgeregt, bleich und plötzlich sagte der sonst
so
Ungesprächige zu ihr und zufällig anwesenden Freunden: „Heute hat man
einen Unschuldigen
verurteilt.“ Von ihr und den anderen befragt, erzählte er noch ganz aus
seiner
Erregung, man habe soeben einen Dieb bestraft für eine Entwendung, die
er vor
drei Jahren begangen hätte, und für sein Empfinden zu Unrecht, denn
nach drei
Jahren sei doch das Verbrechen gar nicht mehr das seine. Man bestrafe
einen
anderen Menschen und strafe ihn überdies doppelt, weil er doch schon
diese drei
Jahre im Kerker seiner eigenen Angst, in der ewigen Unruhe der
Überführung
verbracht habe.
Mit
Entsetzen entsann sie
sich, ihm damals widersprochen zu haben. Ihrem lebensfremden Empfindung
war der
Verbrecher immer nur ein Schädling der bürgerlichen Behaglichkeit
gewesen, der
ausgerottet werden mußte um jeden Preis. Nun erst spürte sie, wie
jämmerlich
ihre Argumente gewesen waren, wie gütig und gerecht die seinen. Aber
würde er
auch bei ihr verstehen können, daß sie nicht einen Menschen geliebt,
sondern
das Abenteuer? Daß er mitschuldig war durch zuviel Güte, durch die
erschlaffende Behaglichkeit, die er um ihr Leben gebreitet? Würde er
auch
gerecht sein können als Richter seiner eigenen Sache?
Aber
es war gesorgt dafür,
daß sie sich freundlichen Hoffnungen nicht hingeben sollte. Schon am
nächsten
Tage kam wieder ein Zettel, wieder ein Peitschenhieb, der ihre
ermattete Angst
aufscheuchte. Diesmal waren zweihundert Kronen gefordert, die sie
widerstandslos gab. Entsetzlich war ihr diese jähe Steigerung der
Erpressung, der
sie sich auch materiell nicht gewachsen fühlte, denn obzwar aus
vermögender
Familie, war sie doch nicht in der Lage, sich unauffällig größere
Summen zu
beschaffen. Und dann, was half es? Sie wußte, morgen würden es
vierhundert
Kronen sein und bald tausend, immer mehr, je mehr sie gab, und dann
schließlich, sobald ihre Mittel versagten, der anonyme Brief, der
Zusammenbruch. Was sie kaufte, war nur Zeit, eine Atemspanne, zwei Tage
Rast
oder drei, eine Woche vielleicht, aber eine wie entsetzlich wertlose
Zeit voll
Qual und Spannung. Seit Wochen schlief sie jetzt unruhig mit Träumen,
die ärger
waren als das Wachsein, ihr fehlte die Luft, die freie Bewegung, die
Ruhe, die
Beschäftigung. Sie vermochte nicht mehr zu lesen, nichts mehr zu tun,
dämonisch
gejagt von ihrer inneren Angst. Sie fühlte sich krank. Manchmal mußte
sie sich
plötzlich niedersetzen, so heftig überfiel sie das Herzklopfen, eine
unruhige
Schwere füllte mit dem zähen Saft einer fast schmerzhaften Müdigkeit
alle
Glieder, die aber dennoch dem Schlaf sich verwehrte. Unterhöhlt von der
fressenden Angst war ihre ganze Existenz, vergiftet ihr Körper, und im
Innersten sehnte sie sich eigentlich danach, daß dieses Kranksein doch
endlich
herausbrechen möge in einem sichtbaren Schmerz, einem wirklich
faßbaren,
sichtbaren klinischen Leiden, für das die Menschen doch Mitleid hatten
und
Erbarmen. Sie beneidete die Kranken in diesen Stunden unterirdischer
Qual. Wie
gut müßte es sein, in einem Sanatorium zu liegen, im weißen Bett
zwischen
weißen Wänden, umgeben von Bedauern und Blumen, Menschen würden kommen,
alle
gütig zu ihr sein, und hinter der Wolke des Leidens stünde schon fern
wie eine
große gütige Sonne die Genesung. Hatte man Schmerzen, so durfte man
wenigstens
laut schreien, sie aber mußte unaufhörlich die tragische Komödie eines
heiteren
Gesundseins spielen, für die jeder Tag und beinahe jede Stunde ihr neue
und
furchtbare Situationen fand. Mit zuckenden Nerven mußte sie lächeln und
froh
erscheinen, ohne daß jemand die unendliche Anstrengung dieser
vorgetäuschten
Heiterkeit ahnte, die heroische Kraft, die sie verschwendete an solche
tägliche
und doch nutzlose Selbstvergewaltigung.
Nur
einer von allen Menschen
rings um sie schien, so dünkte es ihr, etwas zu ahnen von dem
Furchtbaren, das
in ihr vorging, und dieser nur, weil er sie belauerte. Sie spürte, und
diese
Sicherheit zwang sie zu doppelter Vorsicht, daß er sich unablässig mit
ihre
beschäftigte, so wie sie mit ihm. Sie umschlichen sich Tag und Nacht,
gleichsam
einander umkreisend, um einer des andern Geheimnis aufzuspähen und das
eigene
hinter dem Rücken zu bergen. Auch ihr Mann war anders geworden in der
letzten
Zeit. Die drohende Strenge jener ersten inquisitorischen Tage war bei
ihm einer
eigenen Art von Güte und Besorgtheit gewichen, die sie unwillkürlich an
ihr
Brautzeit erinnerte. Wie eine Kranke behandelte er sie, mit einer
Sorgsamkeit,
die sie verwirrte, weil sie sich beschämt fühlte durch so unverdiente
Liebe,
und die sie andererseits doch fürchtete, weil sie doch auch eine List
bedeuten
könnte, um ihr jäh in unvermutetem Augenblick das Geheimnis aus den
erschlafften Händen zu winden. Seit jener Nacht, da er sie im Schlafe
belauscht, und jenem Tag, da er den Brief in ihren Händen erblickt, war
sein
Mißtrauen wie in Mitleid verwandelt, er warb um ihr Vertrauen mit einer
Zartheit, die sie manchmal beruhigte und schon nachgiebig stimmte, um
in der
nächsten Sekunde dem Argwohn wieder nachzugeben. War es nur eine List,
die
verführerische Lockung des Untersuchungsrichters für den Angeklagten,
eine
Fangbrücke des Vertrauens, die ihr Geständnis überschreiten sollte und
die
dann, plötzlich hochgezogen, sie wehrlos in seiner Willkür ließ? Oder
war auch schon
in ihm das Gefühl, daß dieser gesteigerte Zustand des Belauerns und
Belauschens
ein unerträglicher war, und seine Sympathie so stark, daß er heimlich
mitlitt
an ihrem täglich mehr sichtbaren Leiden? Sie spürte in einem
merkwürdigen
Schauer, wie er ihr manchmal das erlösende Wort gleichsam hinreichte,
wie
verlockend leicht er ihr das Geständnis machte; sie verstand seine
Absicht und
war seiner Güte dankbar froh. Aber sie empfand auch, daß mit dem
regeren Gefühl
der Neigung auch ihre Scham vor ihm wuchs und ihr strenger das Wort
verwehrte
als vordem ihr Mißtrauen.
Einmal
in diesen Tagen
sprach er zu ihr ganz deutlich und Blick in Blick. Sie war nach Hause
gekommen
und hatte vom Vorzimmer laute Stimmen gehört, die ihres Mannes, scharf
und
energisch, das zänkische Geschwätz der Gouvernante und dazwischen
Weinen und
schluchzende Laute. Ihr erstes Gefühl war Erschrecken. Immer, wenn sie
laute
Stimmen hörte oder eine Erregung im Hause, schauerte sie zusammen.
Angst war
das Gefühl, das bei ihr auf alles antwortete, was außergewöhnlich war,
die
brennende Angst, der Brief sei schon gekommen, das Geheimnis enthüllt.
Immer,
wenn sie die Tür auftat, stürzte ihr erster fragender Blick sich auf
die
Gesichter und fragte sie ab, ob nichts in ihrer Abwesenheit geschehen
sei, die
Katastrophe nicht schon hereingebrochen, indes sie fern war. Diesmal
war es nur
Kinderzank, wie sie bald beruhigt erkannte, eine kleine improvisierte
Gerichtsverhandlung. Eine Tante hatte vor wenigen Tagen dem Knaben ein
Spielzeug, ein buntes Pferdchen, gebracht, was das jüngere Mädchen, das
mindere
Gaben erhalten, neidisch erbitterte. Vergeblich hatte sie ihr Recht
geltend zu
machen gesucht und so gierig, daß der Knabe ihr verweigerte, sein
Spielzeug
überhaupt zu berühren, was zuerst lauten Zorn des Kindes erregte und
dann ein
dumpfes, geducktes, hartnäckiges Schweigen. Aber am nächsten Morgen war
das
Pferdchen plötzlich verschwunden, spurlos, und alle Bemühungen des
Knaben
vergebens, bis man durch Zufall das Verlorene schließlich zerstückelt
im Ofen
entdeckte, die Holzteile zerbrochen, das bunte Fell abgerissen und das
Innere
ausgeweidet. Der Verdacht fiel selbstverständlich auf das kleine
Mädchen;
weinend war der Bub zum Vater gestürzt, die Boshafte zu verklagen, die
einer
Rechtfertigung nicht ausweichen konnte, und eben begann das
Verhör.
Irene
fühlte einen jähen
Neid. Warum kamen die Kinder mit all ihren Sorgen immer zu ihm und
niemals zu
ihr? Von je vertrauten sie alle ihre Streitigkeiten und Klagen immer
ihrem
Manne an; bisher war ihr’s lieb gewesen, von diesen kleinen Plackereien
befreit
zu sein, aber auf einmal geizte sie danach, weil sie darin die Liebe
fühlte und
Vertrauen.
Die
kleine
Gerichtsverhandlung war bald entschieden. Das Kind leugnete zuerst,
freilich
mit scheugesenkten Augen und einem verräterischen Zittern in der
Stimme. Die
Gouvernante zeugte gegen sie, sie hatte gehört, wie das kleine Mädchen
im Zorn
gedroht hatte, das Pferdchen zum Fenster hinunterzuwerfen, was das Kind
vergeblich abzuleugnen sich bemühte. Es gab einen kleinen Tumult von
Schluchzen
und Verzweiflung. Irene blickte auf ihren Mann; ihr war es, als säße er
zu
Gericht nicht über das Kind, sondern schon über ihr eigenes Schicksal,
denn so
würde sie vielleicht morgen schon ihm gegenübersehen, mit dem gleichen
Zittern
und demselben Sprung in der Stimme. Ihr Mann blickte zuerst streng,
solange das
Kind bei der Lüge beharrte, zwang dann Wort für Wort den Widerstand
nieder,
ohne je bei einer Weigerung in Zorn zu geraten. Dann aber, als sich das
Leugnen
in eine dumpfe Verstocktheit löste, sprach er ihr gütig zu, bewies
geradezu die
innere Notwendigkeit der Handlung und entschuldigte gewissermaßen, daß
sie im
ersten unbedachten Zorn etwas so Abscheuliches getan habe, damit, daß
sie dabei
nicht besonnen habe, es würde ihren Bruder tatsächlich kränken. Und so
warm und
eindringlich erläuterte er dem immer unsicherer werdenden Kinde die
eigene Tat
als etwas Begreifliches, aber doch Verurteilenswertes, daß es endlich
in Tränen
ausbrach und wild zu heulen begann. Und bald, gedeckt vom Schwall der
Tränen,
stammelte es endlich das gestehende Wort.
Irene
stürzte hin, die
Weinende zu umarmen, aber die Kleine stieß sie weg im Zorn. Auch ihr
Mann
verwies ihr mahnend dies voreilige Mitleid, denn er wollte das Vergehen
doch
nicht straflos hingehen lassen,, und verhängte die zwar geringfügige,
für das
Kind aber empfindliche Strafe, am nächsten Tage nicht zu einer
Veranstaltung
gehen zu dürfen, auf die sich das Mädchen seit Wochen gefreut hatte.
Heulend
hörte das Kind sein Urteil; der Knabe begann laut zu triumphieren, aber
dieser
frühzeitige und gehässige Hohn verwickelte ihn augenblicklich
gleichfalls in
die Strafe, und auch ihm wurde für seine Schadenfreude die Erlaubnis,
jenes
Kinderfest zu besuchen, entzogen. Traurig, und nur getröstet durch die
Gemeinsamkeit ihrer Bestrafung, zogen die beiden schließlich ab, und
Irene
blieb allein mit ihrem Mann.
Jetzt,
fühlte sie plötzlich,
war endlich Gelegenheit, statt der Anspielungen hinter der Maske eines
Gespräches über die Schuld des Kindes und sein Geständnis von ihrer
eigenen zu
sprechen und irgendein Gefühl der Erleichterung überkam sie, wenigstens
in
verhüllter Form die Beichte ablegen und um Mitleid bitten zu dürfen.
Denn wie
ein Zeichen war es ihr, ob er ihre Fürsprache für das Kind nun gütig
aufnahm,
und sie wußte, dann würde sie vielleicht wagen können, für sich selbst
zu
sprechen.
„Sag,
Fritz“, begann sie,
„willst du wirklich die Kinder morgen nicht gehen lassen? Sie werden
ganz
unglücklich sein, besonders die Kleine. So arg war es ja gar nicht, was
sie
angestellt hat. Warum willst du sie so streng bestrafen? Tut sie dir
gar nicht
leid, die Kleine?“
Er
sah sie an. Dann setzte
er sich gemächlich. Er schien sichtlich willig, das Thema ausführlicher
zu
erörtern und ein Vorgefühl, angenehm und ängstlich zugleich, ließ sie
vermuten,
er würde Wort für Wort gegen sie münzen; alles in ihr wartete die Pause
zu
Ende, die er, wohl mit Absicht oder in angestregtem Überlegen,
besonders
dehnte.