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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Angst





Angst
Seite 7

 
Sie sah auf, Ihr war so, als zielte er jedes Wort gegen sie. Aber er schien sie gar nicht zu beachten, sondern fuhr,  ihre Bewegung vielleicht mißdeutend, entschiedener fort: „Es ist wirklich so, du kannst es mir glauben. Ich kenne das vom Gericht und aus den Untersuchungen. Die Angeklagten leiden am meisten unter den Verheimlichungen, unter der Drohung der  Entdeckung, unter dem grauenvollen Zwang, eine Lüge gegen tausend kleine versteckte Angriffe verteidigen zu müssen. Es ist furchtbar, so einen Fall zu sehen, wo der Richter schon alles in Händen hat, die Schuld, den Beweis, vielleicht sogar das Urteil bereits, und nur das Geständnis noch nicht, das steckt innen im Angeklagten und will nicht heraus, so sehr er auch zieht und zerrt. Entsetzlich ist das zu sehen, wie der Angeklagte sich windet und krümmt, weil man ihm sein ‚Ja‘ wie mit einem Haken aus dem widerstrebenden Fleisch reißen muß. Manchmal sitzt es schon ganz oben in der Kehle, von innen drängt’s eine unwiderstehliche Macht nach oben, sie würgen daran, beinahe ist es schon Wort: da kommt die böse Gewalt über sie, jenes unbegreifliche Gefühl von Trotz und Angst, und sie schlucken es wieder hinab. Und der Kampf beginnt von neuem. Die Richter leiden manchmal mehr dabei als die Opfer. Und dabei betrachten die Angeklagten ihn immer als den Feind, der in Wahrheit ihr Helfer ist. Und ich als ihr Anwalt, als Verteidiger, sollte ja eigentlich meine Klienten warnen, zu gestehen, ihre Lügen festigen und stärken, aber innerlich wage ich es oft nicht, denn sie leiden mehr am Nichtgestehen als am Geständnis und seiner Bestrafung. Ich verstehe das eigentlich noch immer nicht, daß man eine Tat tun kann, mit Bewußtsein der Gefahr, und dann nicht den Mut zum Geständnis haben. Diese kleine Angst vor dem Wort finde ich kläglicher als jedes Verbrechen.“
 
„Meinst du . . . daß es immer . . . immer nur Angst ist . . . die die Menschen hindert? Könnte es nicht . . . könnte es nicht Scham sein  . . . die Scham, sich auszusprechen . . . sich auszukleiden vor all den Menschen?“
 
Verwundert blickte er auf. Er war sonst nicht gewohnt, von ihr Antwort zu empfangen. Aber das Wort faszinierte in.
 
„Scham, sagst du . . . das . . . das ist ja auch nur eine Angst . . . aber eine bessere . . . eine, nicht vor der Strafe, sondern . . . ja, ich verstehe . . .“
 
Er war aufgestanden, merkwürdig erregt, und ging auf und ab. Der Gedanke schien in ihm irgend etwas getroffen zu haben, das jetzt aufzuckte und sich stürmisch regte. Plötzlich blieb er stehen.
 
„Ich gebe zu . . . Scham vor den Menschen, vor den Fremden . . . vor dem Pöbel, der aus der Zeitung fremdes Schicksal frißt wie ein Butterbrot . . . Aber deshalb könnte man doch sich wenigstens jenen bekennen, denen man nahesteht . . . Du erinnerst dich an jenen Brandstifter, den ich im vergangenen Jahr verteidigte . . . der zu mir eine so merkwürdige Zuneigung gefaßt hatte . . . er erzählte mir alles, kleine Geschichten aus seiner Kindheit . . . sogar von intimeren Dingen . . . Siehst du, der hatte die Tat bestimmt begangen, er ist auch verurteilt worden . . . aber auch mir hatte er sie nicht eingestanden . . . das war eben die Angst, ich könnte ihn verraten . . . nicht die Scham, denn mir vertraute er ja . . . ich war, glaube ich, der einzige, zu dem er im Leben so etwas wie Freundlichkeit empfunden hatte . . . da war es also doch nicht Scham vor dem Fremden . . . was war es da, wo er doch vertrauen konnte?“
 
„Vielleicht“ – sie mußte sich abwenden, weil er sie so ansah und sie ihre Stimme zittern spürte – „vielleicht . . . ist die Scham am größten . . . denen gegenüber, denen man sich . . . am nächsten fühlt.“
 
Er blieb plötzlich stehen, wie gepackt von einer innerlichen Gewalt.
 
„Du meinst also . . . du meinst . . .“ – und mit einem Male wurde seine Stimme anders, ganz weich und dunkel . . . „du meinst. . . daß Helene . . . jemand anderem ihre Schuld leichter gestanden hätte . . . der Gouvernante vielleicht . . . daß sie . . .“
 
„Ich bin überzeugt davon . . . sie hat gerade dir so viel Widerstand nur entgegengesetzt . . . weil . . . weil . . . dein Urteil ihr das wichtigste ist . . . weil . . . weil . . . sie . . . dich am meisten liebt . . .“
 
Wieder blieb er stehen.
 
„Du . . . du hast vielleicht recht . . . ja sogar bestimmt . . . das ist doch seltsam . . . gerade daran habe ich nie gedacht . . . es ist doch so einfach . . . Ich war vielleicht zu streng, du kennst mich ja . . . ich meine es nicht so.  Aber ich gehe jetzt gleich hinein . . . sie darf natürlich hin . . . ich wollte ja nur ihren Trotz bestrafen, ihren Widerstand und daß . . . daß sie kein Vertrauen hatte zu mir . . . Aber du hast recht, ich will nicht, daß du glaubst, ich könnte nicht verzeihen . . . das möchte ich nicht . . . gerade von dir möchte ich das nicht, Irene . . .“
 
Er sah sie an, und sie spürte , wie sie errötete unter seinem Blick. War das Absicht, daß er so sprach, oder ein Zufall, ein tückischer, gefährlicher Zufall? Noch immer fühlte sie die entsetzliche Unentschlossenheit.
 
„Das Urteil ist kassiert“ – irgendeine Heiterkeit schien jetzt über ihn zu kommen – „Helene ist frei, und ich gehe, es ihr selbst anzukündigen. Bist du jetzt zufrieden mit mir? Oder hast du noch einen Wunsch? . . . Du . . . du siehst . . . du siehst, ich bin in generöser Laune heute . . . vielleicht weil ich froh bin, ein Unrecht rechtzeitig einbekannt zu haben. Das schafft immer eine Erleichterung, Irene, immer . . .“
 
Sie glaubte zu verstehen, was diese Betonung meinte. Unwillkürlich trat sie ihm näher, schon fühlte sie das Wort in sich aufquellen, und auch er trat vor, als wollte er ihr eilig aus den Händen nehmen, was sie so sichtlich bedrückte. Da traf sie sein Blick, in dem eine Gier war, nach dem Geständnis, nach irgend etwas von ihrem Wesen, eine glühende Ungeduld, und plötzlich brach alles in ihr zusammen. Müde fiel ihre Hand, und sie wandte sich ab. Es war vergeblich, fühlte sie, nie würde sie es aussprechen können, das eine befreiende Wort, das innen brannte und ihre Ruhe verzehrte. Wie naher Donner rollte die Warnung, aber sie wußte, daß sie nicht entfliehn konnte. Und im geheimsten Wunsch ersehnte sie schon, was sie bislang gefürchtet, den erlösenden Blitz: die Entdeckung.
 
Rascher, als sie ahnte, schien ihr Wunsch sich erfüllen zu wollen. Vierzehn Tage währte jetzt der Kampf, und Irene fühlte sich am Ende ihrer Kraft. Nun waren es schon vier Tage, daß die Person sich nicht gemeldet hatte, und so in den Körper gedrungen, so eins mit dem Blute war schon die Angst, daß sie bei jedem Klingeln an der Tür immer jäh aufschoß, um selbst eine erpresserische Botschaft rechtzeitig abzufangen. Eine Ungeduld, beinahe eine Sehnsucht, war in dieser Gier, denn mit jeder dieser Bezahlungen kaufte sie ja einen Abend Beruhigung, ein paar Stunden mit den Kindern, einen Spaziergang. Für einen Abend, einen Tag konnte sie dann aufatmen, auf der Straße gehen und zu Freunden; freilich, der Schlaf war weise, er ließ sich sein sicheres Wissen um die beständig nahe Gefahr nicht von so kärglichem Trost betrügerisch nehmen und füllte ihr Blut nachts mit zehrenden Angstträumen.
 
Ungestüm war sie wiederum bei dem Klingelruf hinausgeeilt, die Tür zu öffnen, so sehr ihr auch bewußt sein mußte, diese Unruhe, den Dienstboten zuvorzukommen, müße Verdacht erwecken und leicht zu feindlichen Vermutungen verlocken. Aber wie schwach wurden diese kleinen Widerstände des besonnenen Überlegens, wenn beim Telefonsignal, einem Schritt auf der Straße hinter ihr her oder dem Ruf der Türglocke ihr ganzer Körper gleichsam aufschnellte wie von einem Peitschenschlag. Wieder hatte sie ein Klingelzeichen aus dem Zimmer und hin zur Tür gerissen, sie öffnete, um im ersten Augenblick eine fremde Dame verwundert anzusehen und dann, entsetzt zurückfahrend, in der neuen Ausstaffierung und unter einem eleganten Hut das verhaßte Gesicht der Erpresserin zu erkennen.
 
„Ach, Sie sind es selbst, Frau Wagner, das ist mir angenehm. Ich hab’ Sie wichtig zu sprechen.“ Und ohne eine Antwort der Erschrockenen abzuwarten, die sich mit zitternder Hand auf die Türklinke stützte, trat sie ein, legte den Schirm ab, einen grellen, roten Sonnenschirm, offenbar schon eine erste Verwertung ihrer erpresserischen Raubzüge, Sie bewegte sich mit einer ungeheuren Sicherheit, als ob sie in ihrer eigenen Wohnung wäre und, wohlgefällig und gleichsam mit dem Gefühl der Beruhigung die stattliche Einrichtung betrachtend, schritt sie unaufgefordert weiter gegen die halb offene Tür zum Empfangszimmer. „Nicht wahr, hier hinein?“ fragte sie mit einem verhaltenen Hohn, und als die Erschreckte, des Wortes noch immer nicht mächtig, ihr abwehren wollte, fügte sie beruhigend bei: „Wir können es ja rasch erledigen, wenn es Ihnen unangenehm ist.“
 
Frau Irene folgte ihr ohne Widerrede. Der Gedanke, die Erpresserin in ihrer eigenen Wohnung zu wissen, diese Verwegenheit, die ihre entsetzlichsten Vermutungen übertraf, betäubte sie. Ihr war, als träumte sie dies alles.
 
„Schön haben Sie’s hier, sehr schön“, bewunderte mit sichtlicher Behaglichkeit die Person, während sie sich niederließ. „Ah, wie gut sich’s da sitzt. Und die vielen Bilder. Da sieht man’s erst, wie armselig es unsereiner hat. Sehr schön haben Sie’s, sehr schön, Frau Wagner.“
 
Da, wie sie diese Verbrecherin in ihren eigenen Räumen so behaglich sah, brach endlich die Wut in der Gemarterten auf. „Was wollen Sie denn, Sie Erpresserin! Bis in meine Wohnung verfolgen Sie mich. Aber ich werde mich nicht zu Tode quälen lassen von Ihnen. Ich werde . . .!“
 
„Sprechen Sie doch nicht so laut“, unterbrach die andere mit einer beleidigenden Vertraulichkeit. „Die Tür ist ja offen, und die Dienstboten könnten Sie hören. Mir liegt doch nicht viel daran. Ich leugne ja nichts, mein Gott, und schließlich im Gefängnis kann’s mir doch auch nicht schlechter gehen wie jetzt, bei dem elenden Leben. Aber Sie, Frau Wagner, sollten etwas vorsichtiger sein. Ich will vor allem einmal die Tür zumachen, wenn Sie’s für nötig befinden, sich zu ereifern. Aber das sag’ ich Ihnen gleich, daß Beschimpfungen auf mich keinen Eindruck machen.“
 
Frau Irenes Kraft, für einen Augenblick durch den Zorn gestählt, sank wieder ohnmächtig zusammen vor der Unerschütterlichkeit dieser Person. Wie ein Kind, das wartet, welche Aufgabe ihm diktiert wird, stand sie da, demütig beinahe und unruhig.
 
 „Also, Frau Wagner, ich will keine langen Umstände machen. Mir geht’ nicht gut, das wissen Sie. Das hab’ ich Ihnen schon gesagt. Und jetzt brauch’ ich Geld auf den Zins. Ich bin ihn schon so lang schuldig, und noch auf andere Sachen. Ich möcht’ endlich einmal ein bißchen in Ordnung kommen. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, daß Sie mir da halt aushelfen mit –na, mit halt vierhundert Kronen.“
 
„Ich kann nicht“, stammelte Frau Irene, von der Summe erschrocken, die sie tatsächlich nicht mehr in barem besaß. „Ich hab’s jetzt wirklich nicht. Dreihundert Kronen hab’ ich Ihnen schon gegeben in diesem Monat. Woher soll ich’s den nehmen?“
 
„Na, es wird schon gehn, denken Sie nur nach. Eine so reiche Frau wie Sie kann doch Geld haben, soviel sie will. Aber wollen muß sie halt. Also denken S‘ nur nach, Frau Wagner, es wird schon gehen.“
 
„Aber ich hab’ es wirklich nicht. Ich möchte es Ihnen ja gern geben. Aber soviel hab’ ich wirklich nicht. Ich könnte Ihnen etwas  geben . . . hundert Kronen vielleicht . . .“
 
„Vierhundert Kronen, hab’ ich gesagt, bra„Ob es mir nicht leid tut, fragst du? Darauf sage ich: heute nicht mehr. Ihr ist jetzt leicht, seit sie bestraft ist, ob’s ihr auch bitter scheint. Unglücklich war sie gestern, als das arme Pferdchen zerbrochen im Ofen steckte, alles im Hause danach suchte und sie tagaus, tagein die Angst hatte, man würde , man müsse es entdecken. Die Angst ist ärger als die Strafe, denn die ist ja etwas Bestimmtes und, viel oder wenig, immer mehr als das entsetzlich Unbestimmte, dies Grauenhaft-Unendliche der Spannung. Sobald sie ihre Strafe wußte, war ihr leicht. Das Weinen darf dich ja nicht irremachen: es ist nur jetzt herausgefahren, und früher stak es drinnen. Und innen tut’s ärger als draußen. Wär’ sie nicht ein Kind oder könnte man irgendwie ganz in ihr Letztes schauen, ich glaube, man würde finden, daß sie eigentlich froh ist trotz der Bestrafung und der Tränen und sicher froher als gestern, wo sie anscheinend sorglos herumging und niemand sie verdächtigte uch’ ich.“ Wie beleidigt durch die Zumutung warf sie schroff die Worte hin.

 





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