Angst
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Sie
sah auf, Ihr war so,
als zielte er jedes Wort gegen sie. Aber er schien sie gar nicht zu
beachten,
sondern fuhr, ihre Bewegung vielleicht
mißdeutend, entschiedener fort: „Es ist wirklich so, du kannst es mir
glauben.
Ich kenne das vom Gericht und aus den Untersuchungen. Die Angeklagten
leiden am
meisten unter den Verheimlichungen, unter der Drohung der
Entdeckung, unter dem grauenvollen Zwang,
eine Lüge gegen tausend kleine versteckte Angriffe verteidigen zu
müssen. Es
ist furchtbar, so einen Fall zu sehen, wo der Richter schon alles in
Händen
hat, die Schuld, den Beweis, vielleicht sogar das Urteil bereits, und
nur das
Geständnis noch nicht, das steckt innen im Angeklagten und will nicht
heraus,
so sehr er auch zieht und zerrt. Entsetzlich ist das zu sehen, wie der
Angeklagte sich windet und krümmt, weil man ihm sein ‚Ja‘ wie mit einem
Haken
aus dem widerstrebenden Fleisch reißen muß. Manchmal sitzt es schon
ganz oben
in der Kehle, von innen drängt’s eine unwiderstehliche Macht nach oben,
sie
würgen daran, beinahe ist es schon Wort: da kommt die böse Gewalt über
sie,
jenes unbegreifliche Gefühl von Trotz und Angst, und sie schlucken es
wieder
hinab. Und der Kampf beginnt von neuem. Die Richter leiden manchmal
mehr dabei
als die Opfer. Und dabei betrachten die Angeklagten ihn immer als den
Feind, der
in Wahrheit ihr Helfer ist. Und ich als ihr Anwalt, als Verteidiger,
sollte ja
eigentlich meine Klienten warnen, zu gestehen, ihre Lügen festigen und
stärken,
aber innerlich wage ich es oft nicht, denn sie leiden mehr am
Nichtgestehen als
am Geständnis und seiner Bestrafung. Ich verstehe das eigentlich noch
immer
nicht, daß man eine Tat tun kann, mit Bewußtsein der Gefahr, und dann
nicht den
Mut zum Geständnis haben. Diese kleine Angst vor dem Wort finde ich
kläglicher
als jedes Verbrechen.“
„Meinst
du . . . daß es
immer . . . immer nur Angst ist . . . die die Menschen hindert? Könnte
es nicht
. . . könnte es nicht Scham sein . . .
die Scham, sich auszusprechen . . . sich auszukleiden vor all den
Menschen?“
Verwundert
blickte er auf.
Er war sonst nicht gewohnt, von ihr Antwort zu empfangen. Aber das Wort
faszinierte
in.
„Scham,
sagst du . . . das
. . . das ist ja auch nur eine Angst . . . aber eine bessere . . .
eine, nicht
vor der Strafe, sondern . . . ja, ich verstehe . . .“
Er
war aufgestanden,
merkwürdig erregt, und ging auf und ab. Der Gedanke schien in ihm
irgend etwas
getroffen zu haben, das jetzt aufzuckte und sich stürmisch regte.
Plötzlich
blieb er stehen.
„Ich
gebe zu . . . Scham
vor den Menschen, vor den Fremden . . . vor dem Pöbel, der aus der
Zeitung
fremdes Schicksal frißt wie ein Butterbrot . . . Aber deshalb könnte
man doch
sich wenigstens jenen bekennen, denen man nahesteht . . . Du erinnerst
dich an
jenen Brandstifter, den ich im vergangenen Jahr verteidigte . . . der
zu mir
eine so merkwürdige Zuneigung gefaßt hatte . . . er erzählte mir alles,
kleine
Geschichten aus seiner Kindheit . . . sogar von intimeren Dingen . . .
Siehst
du, der hatte die Tat bestimmt begangen, er ist auch verurteilt worden
. . .
aber auch mir hatte er sie nicht eingestanden . . . das war eben die
Angst, ich
könnte ihn verraten . . . nicht die Scham, denn mir vertraute er ja . .
. ich
war, glaube ich, der einzige, zu dem er im Leben so etwas wie
Freundlichkeit
empfunden hatte . . . da war es also doch nicht Scham vor dem Fremden .
. . was
war es da, wo er doch vertrauen konnte?“
„Vielleicht“
– sie mußte
sich abwenden, weil er sie so ansah und sie ihre Stimme zittern spürte
–
„vielleicht . . . ist die Scham am größten . . . denen gegenüber, denen
man
sich . . . am nächsten fühlt.“
Er
blieb plötzlich stehen,
wie gepackt von einer innerlichen Gewalt.
„Du
meinst also . . . du
meinst . . .“ – und mit einem Male wurde seine Stimme anders, ganz
weich und
dunkel . . . „du meinst. . . daß Helene . . . jemand anderem ihre
Schuld
leichter gestanden hätte . . . der Gouvernante vielleicht . . . daß sie
. . .“
„Ich
bin überzeugt davon .
. . sie hat gerade dir so viel Widerstand nur entgegengesetzt . . .
weil . . .
weil . . . dein Urteil ihr das wichtigste ist . . . weil . . . weil . .
. sie .
. . dich am meisten liebt . . .“
Wieder
blieb er stehen.
„Du .
. . du hast
vielleicht recht . . . ja sogar bestimmt . . . das ist doch seltsam . .
.
gerade daran habe ich nie gedacht . . . es ist doch so einfach . . .
Ich war
vielleicht zu streng, du kennst mich ja . . . ich meine es nicht
so. Aber ich gehe jetzt gleich hinein . . . sie
darf natürlich hin . . . ich wollte ja nur ihren Trotz bestrafen, ihren
Widerstand und daß . . . daß sie kein Vertrauen hatte zu mir . . . Aber
du hast
recht, ich will nicht, daß du glaubst, ich könnte nicht verzeihen . . .
das
möchte ich nicht . . . gerade von dir möchte ich das nicht, Irene . .
.“
Er
sah sie an, und sie
spürte , wie sie errötete unter seinem Blick. War das Absicht, daß er
so
sprach, oder ein Zufall, ein tückischer, gefährlicher Zufall? Noch
immer fühlte
sie die entsetzliche Unentschlossenheit.
„Das
Urteil ist kassiert“ –
irgendeine Heiterkeit schien jetzt über ihn zu kommen – „Helene ist
frei, und
ich gehe, es ihr selbst anzukündigen. Bist du jetzt zufrieden mit mir?
Oder
hast du noch einen Wunsch? . . . Du . . . du siehst . . . du siehst,
ich bin in
generöser Laune heute . . . vielleicht weil ich froh bin, ein Unrecht
rechtzeitig einbekannt zu haben. Das schafft immer eine Erleichterung,
Irene,
immer . . .“
Sie
glaubte zu verstehen,
was diese Betonung meinte. Unwillkürlich trat sie ihm näher, schon
fühlte sie
das Wort in sich aufquellen, und auch er trat vor, als wollte er ihr
eilig aus
den Händen nehmen, was sie so sichtlich bedrückte. Da traf sie sein
Blick, in
dem eine Gier war, nach dem Geständnis, nach irgend etwas von ihrem
Wesen, eine
glühende Ungeduld, und plötzlich brach alles in ihr zusammen. Müde fiel
ihre
Hand, und sie wandte sich ab. Es war vergeblich, fühlte sie, nie würde
sie es
aussprechen können, das eine befreiende Wort, das innen brannte und
ihre Ruhe
verzehrte. Wie naher Donner rollte die Warnung, aber sie wußte, daß sie
nicht
entfliehn konnte. Und im geheimsten Wunsch ersehnte sie schon, was sie
bislang
gefürchtet, den erlösenden Blitz: die Entdeckung.
Rascher,
als sie ahnte,
schien ihr Wunsch sich erfüllen zu wollen. Vierzehn Tage währte jetzt
der
Kampf, und Irene fühlte sich am Ende ihrer Kraft. Nun waren es schon
vier Tage,
daß die Person sich nicht gemeldet hatte, und so in den Körper
gedrungen, so
eins mit dem Blute war schon die Angst, daß sie bei jedem Klingeln an
der Tür
immer jäh aufschoß, um selbst eine erpresserische Botschaft rechtzeitig
abzufangen.
Eine Ungeduld,
beinahe eine Sehnsucht, war in dieser Gier, denn mit jeder dieser
Bezahlungen
kaufte sie ja einen Abend Beruhigung, ein paar Stunden mit den Kindern,
einen
Spaziergang. Für einen Abend, einen Tag konnte sie dann aufatmen, auf
der
Straße gehen und zu Freunden; freilich, der Schlaf war weise, er ließ
sich sein
sicheres Wissen um die beständig nahe Gefahr nicht von so kärglichem
Trost
betrügerisch nehmen und füllte ihr Blut nachts mit zehrenden
Angstträumen.
Ungestüm
war sie wiederum
bei dem Klingelruf hinausgeeilt, die Tür zu öffnen, so sehr ihr auch
bewußt
sein mußte, diese Unruhe, den Dienstboten zuvorzukommen, müße Verdacht
erwecken
und leicht zu feindlichen Vermutungen verlocken. Aber wie schwach
wurden diese
kleinen Widerstände des besonnenen Überlegens, wenn beim Telefonsignal,
einem
Schritt auf der Straße hinter ihr her oder dem Ruf der Türglocke ihr
ganzer
Körper gleichsam aufschnellte wie von einem Peitschenschlag. Wieder
hatte sie
ein Klingelzeichen aus dem Zimmer und hin zur Tür gerissen, sie
öffnete, um im
ersten Augenblick eine fremde Dame verwundert anzusehen und dann,
entsetzt
zurückfahrend, in der neuen Ausstaffierung und unter einem eleganten
Hut das
verhaßte Gesicht der Erpresserin zu erkennen.
„Ach,
Sie sind es selbst,
Frau Wagner, das ist mir angenehm. Ich hab’ Sie wichtig zu sprechen.“
Und ohne
eine Antwort der Erschrockenen abzuwarten, die sich mit zitternder Hand
auf die
Türklinke stützte, trat sie ein, legte den Schirm ab, einen grellen,
roten
Sonnenschirm, offenbar schon eine erste Verwertung ihrer
erpresserischen
Raubzüge, Sie bewegte sich mit einer ungeheuren Sicherheit, als ob sie
in ihrer
eigenen Wohnung wäre und, wohlgefällig und gleichsam mit dem Gefühl der
Beruhigung die stattliche Einrichtung betrachtend, schritt sie
unaufgefordert
weiter gegen die halb offene Tür zum Empfangszimmer. „Nicht wahr, hier
hinein?“
fragte sie mit einem verhaltenen Hohn, und als die Erschreckte, des
Wortes noch
immer nicht mächtig, ihr abwehren wollte, fügte sie beruhigend bei:
„Wir können
es ja rasch erledigen, wenn es Ihnen unangenehm ist.“
Frau
Irene folgte ihr ohne
Widerrede. Der Gedanke, die Erpresserin in ihrer eigenen Wohnung zu
wissen,
diese Verwegenheit, die ihre entsetzlichsten Vermutungen übertraf,
betäubte
sie. Ihr war, als träumte sie dies alles.
„Schön
haben Sie’s hier,
sehr schön“, bewunderte mit sichtlicher Behaglichkeit die Person,
während sie
sich niederließ. „Ah, wie gut sich’s da sitzt. Und die vielen Bilder.
Da sieht
man’s erst, wie armselig es unsereiner hat. Sehr schön haben Sie’s,
sehr schön,
Frau Wagner.“
Da,
wie sie diese
Verbrecherin in ihren eigenen Räumen so behaglich sah, brach endlich
die Wut in
der Gemarterten auf. „Was wollen Sie denn, Sie Erpresserin! Bis in
meine
Wohnung verfolgen Sie mich. Aber ich werde mich nicht zu Tode quälen
lassen von
Ihnen. Ich werde . . .!“
„Sprechen
Sie doch nicht so
laut“, unterbrach die andere mit einer beleidigenden Vertraulichkeit.
„Die Tür
ist ja offen, und die Dienstboten könnten Sie hören. Mir liegt doch
nicht viel
daran. Ich leugne ja nichts, mein Gott, und schließlich im Gefängnis
kann’s mir
doch auch nicht schlechter gehen wie jetzt, bei dem elenden Leben. Aber
Sie,
Frau Wagner, sollten etwas vorsichtiger sein. Ich will vor allem einmal
die Tür
zumachen, wenn Sie’s für nötig befinden, sich zu ereifern. Aber das
sag’ ich
Ihnen gleich, daß Beschimpfungen auf mich keinen Eindruck machen.“
Frau
Irenes Kraft, für
einen Augenblick durch den Zorn gestählt, sank wieder ohnmächtig
zusammen vor
der Unerschütterlichkeit dieser Person. Wie ein Kind, das wartet,
welche
Aufgabe ihm diktiert wird, stand sie da, demütig beinahe und unruhig.
„Also,
Frau Wagner, ich will keine langen
Umstände machen. Mir geht’ nicht gut, das wissen Sie. Das hab’ ich
Ihnen schon
gesagt. Und jetzt brauch’ ich Geld auf den Zins. Ich bin ihn schon so
lang
schuldig, und noch auf andere Sachen. Ich möcht’ endlich einmal ein
bißchen in
Ordnung kommen. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, daß Sie mir da halt
aushelfen mit –na, mit halt vierhundert Kronen.“
„Ich
kann nicht“, stammelte
Frau Irene, von der Summe erschrocken, die sie tatsächlich nicht mehr
in barem
besaß. „Ich hab’s jetzt wirklich nicht. Dreihundert Kronen hab’ ich
Ihnen schon
gegeben in diesem Monat. Woher soll ich’s den nehmen?“
„Na,
es wird schon gehn,
denken Sie nur nach. Eine so reiche Frau wie Sie kann doch Geld haben,
soviel
sie will. Aber wollen muß sie halt. Also denken S‘ nur nach, Frau
Wagner, es
wird schon gehen.“
„Aber
ich hab’ es wirklich
nicht. Ich möchte es Ihnen ja gern geben. Aber soviel hab’ ich wirklich
nicht.
Ich könnte Ihnen etwas geben . . .
hundert Kronen vielleicht . . .“
„Vierhundert
Kronen, hab’
ich gesagt, bra„Ob es mir nicht leid tut, fragst du? Darauf sage ich:
heute
nicht mehr. Ihr ist jetzt leicht, seit sie bestraft ist, ob’s ihr auch
bitter
scheint. Unglücklich war sie gestern, als das arme Pferdchen zerbrochen
im Ofen
steckte, alles im Hause danach suchte und sie tagaus, tagein die Angst
hatte,
man würde , man müsse es entdecken. Die Angst ist ärger als die Strafe,
denn
die ist ja etwas Bestimmtes und, viel oder wenig, immer mehr als das
entsetzlich Unbestimmte, dies Grauenhaft-Unendliche der Spannung.
Sobald sie
ihre Strafe wußte, war ihr leicht. Das Weinen darf dich ja nicht
irremachen: es
ist nur jetzt herausgefahren, und früher stak es drinnen. Und innen
tut’s ärger
als draußen. Wär’ sie nicht ein Kind oder könnte man irgendwie ganz in
ihr
Letztes schauen, ich glaube, man würde finden, daß sie eigentlich froh
ist
trotz der Bestrafung und der Tränen und sicher froher als gestern, wo
sie
anscheinend sorglos herumging und niemand sie verdächtigte uch’ ich.“
Wie
beleidigt durch die Zumutung warf sie schroff die Worte hin.