Angst
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„Aber
ich habe sie nicht!“
schrie Irene verzweifelt. Wenn jetzt ihr Mann käme, dachte sie
zwischendurch,
jeden Augenblick konnte er kommen. „Ich schwöre es Ihnen, ich habe sie
nicht .
."
„Dann
suchen Sie sich’s zu
verschaffen . . .“
„Ich
kann nicht.“
Die
Person sah sie an, von
oben bis unten, als wollte sie sie abschätzen.
„Na
.
. . zum Beispiel der
Ring da . . . Wenn man den versetzte, dann würde es gleich gehen. Ich
kenn’
mich freilich nicht mit Schmuck so gut aus . . . ich hab’ ja nie einen
gehabt .
. . aber vierhundert Kronen, glaube ich, kriegt man schon dafür . . .“
„Den
Ring!“ schrie Frau
Irene auf. Es war ihr Verlobungsring, der einzige, den sie nie ablegte
und dem
ein sehr kostbarer und schöner Stein hohen Wert gab.
„No,
warum denn nicht? Ich
schick’ Ihnen den Versatzschein, da können S‘ ihn einlösen, wann Sie
wollen.
Sie krieg’n ihn ja wieder zurück. Ich wer’ ihn nicht behalten. Was
macht denn
so eine arme Person wie ich mit einem so noblen Ring?“
„Warum
verfolgen Sie mich?
Warum quälen Sie mich? Ich kann nicht . . . ich kann nicht. Das müssen
Sie doch
begreifen . . . Sie sehen, ich habe getan, was ich kann. Das müssen Sie
doch
begreifen. Haben Sie doch Mitleid!“
„Mit
mir hat auch keiner
Mitleid gehabt. Mich haben sie beinahe krepieren lassen vor Hunger.
Warum soll
gerade ich Mitleid haben mit einer so reichen Frau?“
Irene
wollte eben heftig
erwidern. Da hörte sie – und ihr Blut stockte –außen eine Tür ins
Schloß
fallen. Das mußte ihr Mann sein, der von seinem Büro zurückkehrte. Ohne
erst zu
überlegen, riß sie sich den Ring vom Finger und streckte ihn der
Wartenden hin,
die ihn eilig verschwinden ließ.
„Haben
Sie keine Angst. Ich
geh’ schon weg“, nickte die Person, als sie die namenlose Angst in dem
Gesichte
gewahrte und das gespannte Lauschen gegen das Vorzimmer, wo ein
Männerschritt
deutlich vernehmbar war. Sie öffnete die Tür, grüßte Irenes
eintretenden
Gemahl, der für einen Augenblick zu ihr aufsah und sie nicht sonderlich
zu
beachten schien, und verschwand.
„Eine
Dame, die um eine
Auskunft kam“, sagte Irene mit letzter Kraft zur Erklärung, sobald die
Tür
hinter der Person ins Schloß gefallen war. Die ärgste Sekunde war
überstanden.
Ihr Mann erwiderte nichts und trat ruhig in das Zimmer, wo der
Mittagstisch
bereits gedeckt war. Irene war, als brenne die Luft auf jene Stelle an
ihrem
Finger, die sonst der kühle Reif des Ringes schützte, und als müßte
jeder auf
die nackte Stelle wie auf ein Brandmal blicken. Immer wieder versteckte
sie
während des Speisens die Hand, und indes sie’s tat, höhnte sie eine
merkwürdige
Überreizung des Gefühls, ein Blick ihres Mannes streifte unablässig
gegen ihre
Hand und verfolgte sie auf all ihren Wanderungen. Mit aller Kraft
bemühte sie
sich, seine Aufmerksamkeit abzulenken und mit unablässigen Fragen ein
Gespräch
in Fluß zu bringen. Sie sprach und sprach zu ihm, zu den Kindern, zu
der
Gouvernante, immer wieder entzündete sie mit den kleinen Flammen der
Frage das
Gespräch, aber immer versagte ihr der Atem, und immer brach es wieder
erstickt
in sich zusammen. Sie versuchte übermütig zu scheinen und auch die
andern zu
einer Fröhlichkeit zu verleiten, sie neckte die Kinder und stachelte
sie
gegeneinander auf, aber sie stritten nicht und sie lachten nicht: es
mußte, so
spürte sie selbst, in ihrer Heiterkeit etwas Falsches sein, das die
anderen
unbewußt befremdete. Je mehr sie sich anspannte, desto weniger gelang
der
Versuch. Schließlich wurde sie müde und schwieg.
Auch
die anderen schwiegen;
sie hörte nur das leise Klirren der Teller und innen die quellenden
Stimmen der
Angst. Da mit einem Male sagte ihr Mann: „Wo hast du denn heute deinen
Ring?“
Sie
zuckte zusammen, Innen
sagte etwas ganz laut ein Wort: Vorbei! Aber noch wehrte sich ihr
Instinkt.
Jetzt alle Kraft zusammenhalten, fühlte sie. Nur für einen Satz noch,
für ein
Wort. Nur eine Lüge noch finden, eine letzte Lüge.
„Ich
. . . ich hab’ ihn zum
Putzen gegeben.“
Und
gleichsam erstarkt an
der Unwahrheit, fügte sie nun entschlossen bei: „Übermorgen hol’ ich
mir ihn
ab.“ Übermorgen. Jetzt war sie gebunden, die Lüge mußte zerbrechen und
sie mit,
wenn es ihr nicht gelang. Jetzt hatte sie sich selbst die Frist
gestellt, und
all die wirre Angst durchdrang jetzt mit einem Male ein neues Gefühl,
eine Art
Glück, die Entscheidung so nahe zu wissen. Übermorgen: nun wußte sie
ihre Frist
und fühlte aus dieser Gewißheit eine merkwürdige Ruhe in ihre Angst
überströmen. Innen wuchs etwas auf, eine neue Kraft, Kraft zum Leben
und die
Kraft zum Sterben.
Das
endlich gesicherte
Bewußtsein der nahen Entscheidung begann eine unerwartete Klarheit in
ihr zu
verbreiten. Die Nervosität wich wunderbar einer geordneten Überlegung,
die
Angst einem ihr selbst fremden Gefühl kristallener Ruhe, dank der sie
alle ihre
Dinge ihres Lebens plötzlich durchsichtig und in ihrem wahrhaften Wert
sah. Sie
maß ihr Leben und spürte, es wog noch immer schwer, durfte sie es
behalten und
steigern in dem neuen und erhöhten Sinne, den diese Tage der Angst sie
gelehrt
hatten, konnte sie es noch einmal rein und sicher, ohne Lügen beginnen,
sie
fühlte sich bereit. Aber als geschiedene Frau, Ehebrecherin, befleckt
vom
Skandal, hinzuleben, dazu war sie zu müde, und zu müde auch, weiter
dies
gefährliche Spiel einer erkauften und auf Frist gewährten Beruhigung
fortzusetzen. Widerstand war, das fühlte sie, jetzt nicht mehr denkbar,
das
Ende schon nahe, Verrat drohte von ihrem Mann, ihren Kindern, von
allem, das
sie umgab, und von ihr selbst. Flucht war unmöglich vor einem Gegner,
der
allgegenwärtig schien. Und das Bekenntnis, die sichere Hilfe, blieb ihr
verwehrt, das wußte sie nun. Ein einziger Weg war noch frei, aber von
dem gab
es keine Wiederkehr.
Noch
lockte das Leben. Es
war einer jener elementaren Frühlingstage, wie sie manchmal aus dem
verschlossenen Schoß des Winters stürmisch hervorbrechen, ein Tag mit
unendlich
erblautem Himmel, dessen erhobene Weite man wie Aufatmen nach all den
umdüsterten Winterstunden zu fühlen meinte.
Die
Kinder stürmten herein
in hellen Kleidern, die sie zum erstenmal in diesem Jahre trugen, und
sie mußte
sich bezwingen, ihren aufstürmenden Jubel nicht mit Tränen zu erwidern.
Sobald
das Lachen der Kinder mit seinem schmerzlichen Nachhall in ihr
verklungen war,
machte sie sich daran, ihre eigenen Beschlüsse entschlossen
auszuführen.
Zunächst wollte sie versuchen, sich wieder in den Besitz des Ringes zu
setzen,
denn, wie immer sich jetzt ihr Schicksal entschiede, sollte kein
Verdacht auf
ihre Erinnerung fallen, niemand einen sichtlichen Beweis ihrer Schuld
besitzen.
Niemand, und vor allem die Kinder nicht, sollten jemals das furchtbare
Geheimnis
ahnen, das sie ihnen entrissen hatte; ein Zufall müßte es scheinen, den
keiner
zu verantworten hatte.
Sie
ging zunächst in eine
Leihanstalt, dort ein ererbtes Schmuckstück, das sie fast niemals trug,
zu
versetzen, und sich so mit genug Geld zu versehen, um der Person
eventuell den
verräterischen Ring wieder abkaufen zu können. Gesicherter im Gefühl,
sobald
sie die bare Summe in der Tasche hatte, promenierte sie dann weiter
aufs
Geratewohl, im Innersten das ersehnend, was sie bis gestern am meisten
gefürchtet hatte: der Erpresserin zu begegnen. Die Luft war lind und
ein
Geleucht von Sonne über den Häusern. Etwas von der ungestümen Bewegung
des
Windes, der weiße Wolken eilig über den Himmel jagte, schien in den
Rhythmus
der Menschen eingedrungen zu sein, die leichter und beschwingter
ausschritten
als bisher in all den trostlosen winterdämmerigen Tagen. Und sie selbst
vermeinte, etwas davon in sich zu fühlen. Der Gedanke des Sterbens,
gestern wie
im Flug gefaßt und nicht mehr aus der zitternden Hand gelassen, wuchs
plötzlich
zur Ungeheuerlichkeit, entsank ihren Sinnen. Sollte es denn möglich
sein, daß
ein Wort irgendeines widrigen Weibes all dies zerstören könnte, die
Häuser da
mit den blinkenden Fassaden, die sausenden Wagen, die lachenden
Menschen und
innen dies rauschende Gefühl von Blut? Sollte ein Wort die unendliche
Flamme
verlöschen können, mit der die ganze Welt aufloderte in ihrem atmenden
Herzen?
Sie
ging und ging, aber
nicht mehr mit gesenktem Blick, sondern offen spürend und beinahe voll
Gier,
endlich die Langgesuchte zu entdecken. Das Opfer suchte jetzt den
Jäger, und
wie das gehetzte schwächere Tier, wenn es fühlt, daß ein Entrinnen
nicht mehr
möglich ist, sich mit dem Entschluß der Verzweiflung plötzlich wendet
und dem
Verfolger kampfbereit entgegenstellt, so verlangte sie es jetzt, der
Peinigerin
sich Antlitz in Antlitz zu stellen und mit jener letzten Kraft zu
ringen, die
der Trieb des Lebens den Verzweifelten verleiht. Mit Absicht blieb sie
in der
Nähe der Wohnung, wo sonst die Erpresserin sie zu belauern pflegte,
einmal
eilte sie sogar über die Straße, weil in der Tracht irgendeine
Frauensperson an
die Gesuchte erinnerte. Es war längst nicht mehr der Ring, um den sie
kämpfte
und der ja doch nur Aufschub bedeutete und nicht Befreiung, sondern wie
ein
Zeichen des Schicksals ersehnte sie diese Begegnung, als Entscheidung
über
Leben und Tod von höherer Macht, aus ihrem eigenen Entschlusse gefällt,
schien
ihr sein Wiederbesitz. Aber nirgends war die Person zu erspähen. Wie
eine Ratte
im Loch war sie verschwunden im unendlichen Gewirr der Riesenstadt.
Enttäuscht,
aber noch nicht hoffnungslos kehrte sie mittags zurück, um sogleich
nach dem
Mittagsmahle die vergebliche Suche wieder zu beginnen. Neuerdings
streife sie
die Straßen ab, und jetzt, da sie sie nirgends fand, wuchs wieder das
fast
entwöhnte Grauen in ihr empor. Nicht die Person war es mehr, nicht der
Ring,
der sie beunruhigte, sonder das grauenhafte Geheimnisvolle in all
diesen
Begegnungen, das mit der Vernunft nicht mehr voll zu begreifen war.
Diese
Person hatte wie durch Magie ihren Namen erfahren und ihre Wohnung, sie
wußte
all ihre Stunden und häuslichen Verhältnisse, sie war immer im
schreckhaftesten
und gefährlichsten Momente gekommen, um nun im erwünschtesten mit einem
Male
verschwunden zu sein. Irgendwo mußte sie sein in dem riesigen Getriebe,
nah,
wenn sie wollte, und doch unerreichbar, sobald man sie begehrte, und
dies
Gestaltlose der Drohung, das unfaßbare Nahe der Erpresserin, hart an
ihrem
Leben und doch nicht zu fassen, lieferte die schon Ermattete machtlos
an die
immer mehr mystische Angst. Es war, als hätten sich höhere Kräfte zu
ihrem
Untergang teuflisch verschworen, eine solche Verhöhnung ihrer Schwäche
war in
diesem übermächtigen Gewirr feindlicher Zufälle. Nervös schon, mit
einem
fiebernden Schritt, lief sie immer noch dieselbe Straße auf und nieder.
Wie
eine Dirne, dachte sie selbst. Aber die Person blieb unsichtbar. Nur
das Dunkel
kam jetzt drohend herabgeglitten, der frühe
Frühlingsabend löste die helle Farbe des Himmels in schmutzige Trübe,
und eilig brach die Nacht herein. Lichter entflammten sich in den
Straßen, der
Strom der Menschen flutete rascher in die Häuser zurück, das ganze
Leben schien
in dunkler Strömung zu entschwinden. Ein paarmal ging sie noch auf und
ab,
spähte noch einmal mit letzter Hoffnung die Straße entlang, dann wandte
sie
sich ihrem Hause zu. Sie fror.
Müde
ging sie hinauf. Sie
hörte, wie man nebenan die Kinder zu Bett brachte, aber sie vermied,
ihnen gute
Nacht zu wünschen, Abschied zu nehmen für die eine und dabei an die
ewige zu
denken. Wozu sie jetzt auch sehen? Um an ihren übermütigen Küssen
ungetrübtes
Glück zu fühlen, in ihren hellen Gesichtern die Liebe? Wozu sich noch
martern
mit einer Freude, die doch schon verloren war? Sie biß die Zähne
zusammen:
nein, sie wollte nichts mehr vom Leben fühlen, nicht mehr das Gute und
Lachende, das sie mit vieler Erinnerung band, da sie doch all diesen
Zusammenhalt morgen mit einem Ruck zerreißen mußte. Nur an das
Widerwärtige
wollte sie jetzt denken, an das Häßliche, das Gemeine, an das
Verhängnis, die
Erpresserin, an den Skandal, an alles, was sie forttrieb, dem Abgrund
entgegen.
Die
Heimkehr ihres Mannes
unterbrach das dumpfe und einsame Sinnen. Freundlich um ein reges
Gespräch
bemüht, suchte er sich ihr im Worte zu nähern und fragte vielerlei.
Eine
gewisse Nervosität meinte sie dieser plötzlich so regen Sorgsamkeit
entraten zu
können, aber sie widerstrebte jedem Gespräch in Erinnerung an das von
gestern.
Irgendeine innere Angst hielt sie zurück, sich durch Liebe zu binden,
durch
Sympathie halten zu lassen. Er schien ihren Widerstand zu spüren und
irgendwie
besorgt. Sie wiederum fürchtete von seiner Besorgnis neuerliche
Annäherung und
bot ihm frühzeitig gute Nacht. „Auf morgen“, antwortete er. Dann ging
sie.
Morgen:
wie nah das war und
wie unendlich fern! Ungeheuer weit und finster schien ihr die
schlaflose Nacht.
Allmählich wurden die Geräusche der Straße seltener, an den Reflexen
des
Zimmers sah sie, daß die Lichter draußen verloschen. Manchmal meinte
sie, die
nahen Atemzüge von den andern Zimmern fühlen zu können, das Leben ihrer
Kinder,
ihres Mannes und der ganzen nahen und doch fernen, fast schon
entschwundenen
Welt, aber auch gleichzeitig ein namenloses Schweigen, das nicht aus
der Natur,
nicht von ringsum zu kommen schien, sondern von innen, aus
geheimnisvoll
rauschender Quelle. Eingesargt fühlte sie sich in einer Unendlichkeit
von
Stille und das Dunkel unsichtbarer Himmel auf ihrer Brust. Manchmal
sprachen
die Stunden laut eine Zahl in das Dunkel, dann ward die Nacht schwarz
und
leblos, aber zum erstenmal meinte sie den Sinn dieser endlosen, leeren
Dunkelheit zu verstehen. Sie sann jetzt nicht mehr über Abschied und
Tod,
sondern dachte nur, wie sie ihm entgegenflüchten und möglichst
unauffällig den
Kindern und sich die Schande des Aufsehens ersparen könnte. An alle
Wege sann
sie, von denen sie wußte, daß sie zum Tode führten, dachte alle
Möglichkeiten
der Selbstvernichtung aus, bis sie sich mit einer Art freudigen
Schreckens
plötzlich erinnerte, daß der Arzt bei einer schmerzhaften Krankheit,
die
Schlaflosigkeit im Gefolge hatte, ihr Morphium verschrieben hatte, und
sie
damals tropfenweise das süß-bittere Gift aus einem kleinen Fläschchen
genommen
hatte, dessen Inhalt, wie man ihr damals sagte, hinreichend war, einen
sanft
entschlummern zu lassen. Oh, nicht mehr gejagt zu werden, ruhen können,
ruhen
ins Unendliche, nicht mehr den Hammer der Angst auf dem Herzen zu
spüren! Der
Gedanke dieses sanften Entschlummerns reizte die Schlaflose unendlich,
schon
meinte sie den galligen Geschmack auf den Lippen zu fühlen und die
weiche
Umnachtung der Sinne. Eilig raffte sie sich auf und entzündete das
Licht. Das
Fläschchen, das sie bald fand, war nur mehr halbvoll und sie
befürchtete, es
möchte nicht genügen. Fieberhaft durchforschte sie alle Laden, bis sie
schließlich das Rezept fand, das die Bereitung größerer Quantitäten
ermöglichte. Wie eine kostbare Banknote faltete sie es lächelnd
zusammen: Nun
hielt sie den Tod in der Hand. Kühl durchschauert und doch beruhigt
wollte sie
wieder zurück ins Bett, aber jetzt, wie sie am beleuchteten Spiegel
vorbeischritt,
sah sie plötzlich aus dem dunklen Rahmen sich selbst entgegentreten,
gespenstisch, bleich, hohlen Auges und vom weißen Nachgewand wie in ein
Leichenlaken gehüllt.