Angst
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Grauen
fiel sie an, sie
lösche das Licht, flüchtete frierend in das verlassene Bett und lag
wach bis in
den dämmernden Tag.
Am
Vormittag verbrannte sie
ihre Briefschaften, brachte Ordnung in allerhand kleine Dinge, aber sie
vermied
nach Möglichkeit, die Kinder zu sehen und alles überhaupt, was ihr lieb
war.
Sie wollte das Leben jetzt nur abhalten, sich an sie mit Lust und
Verlockung
anzuklammern und ihr den gefaßten
Entschluß durch ein nur vergebliches Zögern noch zu erschweren. Dann
ging sie noch einmal auf die Straße, zum letztenmal das Schicksal zu
versuchen
und der Erpresserin zu begegnen. Sie ging wieder rastlos die Straßen
ab, aber
nicht mehr mit jenem gesteigerten Gefühl der Spannung. In ihr war schon
etwas
müde geworden, und sie verzagte, weiterkämpfen zu können. Sie ging und
ging wie
aus Pflichtbewußtsein zwei Stunden. Nirgends war die Person zu sehen.
Es tat
ihr nicht mehr weh. Fast wünschte sie nicht mehr die Begegnung, so
kraftlos
fühlte sie sich. Sie sah in die Gesichter der Menschen hinein, und alle
schienen ihr fremd, alle tot und irgendwie abgestorben. Das alles war
irgendwie
schon fern und verloren und gehörte ihr nicht mehr.
Nur
einmal schrak sie
zusammen. Ihr war, als hätte sie beim Umblicken auf der anderen Seite
der
Straße aus dem Gewühl plötzlich den Blick ihres Mannes gefühlt, jenen
merkwürdigen, harten, stoßenden Blick, den sie erst seit kurzem an ihm
kannte.
Ängstlich starrte sie hinüber, aber die Gestalt war rasch hinter einem
vorbeifahrenden Wagen verschwunden, und sie beruhigte sich mit dem
Gedanken,
daß er zu dieser Zeit immer bei Gericht beschäftig sei. Das Gefühl für
die
Stunde wurde ihr unsicher in der spähenden Erregung, und sie kam
verspätet zum
Mittagsmahl. Aber auch er war noch nicht zur Stelle wie sonst, sondern
kam erst
zwei Minuten später und, wie ihr dünkte, ein wenig erregt.
Sie
zählte jetzt die
Stunden bis zum Abend und erschrak, wie viele es noch waren, wie
wunderlich das
war, wie wenig Zeit man brauchte zum Abschiednehmen, wie wenig wert
alles
schien, wenn man wußte, daß man es nicht mitnehmen könne. Etwas wie
Schläfrigkeit kam über sie. Mechanisch ging sie wieder auf die Straße
hinab,
aufs Geradewohl, ohne zu denken oder zu schauen. An einer Kreuzung riß
ein
Kutscher im letzten Augenblick die Pferde zurück, schon hatte sie die
Deichsel
des Wagens knapp vor sich hinstoßen gesehen. Der Kutscher fluchte
gemein, sie
wandte sich kaum um: das wäre Rettung gewesen oder Aufschub. Ein Zufall
hätte
ihr den Entschluß erspart. Müde ging sie weiter: es war wohltuend, so
gar
nichts zu denken, nur wirr ein dunkles Gefühl vom Ende innen zu spüren,
einen
Nebel, der sacht niederstieg und alles verhüllte.
Als
sie zufällig
aufblickte, nach dem Namen der Straße zu sehen, schauerte sie zusammen:
in
ihrem verworrenen Wandeln war sie durch Zufall bis beinahe vor das Haus
ihres
einstigen Geliebten gekommen. War das ein Zeichen? Er könnte ihr
vielleicht
noch helfen, er mußte die Adresse jener Person wissen. Sie zitterte
beinahe vor
Freude. Wie hatte sie dies nicht bedenken können, dies Einfachste? Mit
einem
Male spürte sie die Glieder wieder reg, die Hoffnung beschwingte die
trägen
Gedanken, die jetzt wirr durcheinanderstoben. Er müßte jetzt hingehen
mit ihr
zu jener Person und ein für allemal ein Ende machen. Er müßte sie
bedrohen,
diese Erpressungen einzustellen, vielleicht genügte eine Summe sogar,
sie aus
der Stadt zu entfernen. Es tat ihr plötzlich leid, den Armen jüngst so
schlecht
behandelt zu haben, aber er würde ihr helfen, sie war dessen gewiß. Wie
seltsam, daß diese Rettung jetzt erst kam, jetzt, in letzter Stunde.
Hastig
eilte sie die
Treppen hinauf und läutete. Niemand öffnete. Sie horchte: es war ihr,
als hätte
sie vorsichtige Schritte hinter der Tür gehört. Sie läutete nochmals.
Wieder
ein Schweigen. Und wieder ein leises Geräusch von innen. Da riß ihr die
Geduld:
sie läutete ohne Unterlaß, es galt ja ihr Leben.
Endlich
rührte sich etwas
hinter der Tür, das Schloß knackte, und ein schmaler Spalt tat sich
auf. „Ich
bis es“, hastete sie rasch.
Wie
mit einem Erschrecken
öffnete er jetzt die Tür. „Du bist . . . Sie sind es . . . gnädige
Frau“,
stammelte er, sichtlich verlegen. „Ich war . . . verzeihen Sie . . .
ich war
nicht darauf vorbereitet . . . auf Ihren Besuch . . . verzeihen Sie
meinen
Aufzug.“ Dabei deutete er auf seine Hemdärmel. Sein Hemd war halb
offen, und er
trug keinen Kragen.
„Ich
muß Sie dringend
sprechen . . . Sie müssen mir helfen“, sagte sie nervös, weil er sie
noch immer
im Flur stehen ließ wie eine Bettlerin. „Wollen Sie mich nicht
eintreten lassen
und mich eine Minute anhören“, fügte sie gereizt hinzu.
„Bitte“,
murmelte er
verlegen und mit einem seitlichen Blick, „Ich bin nur jetzt . . . ich
kann
nicht recht . . .“
„Sie
müssen mich hören. Es
ist ja Ihre Schuld. Sie haben die Pflicht, mir zu helfen . . . Sie
müssen mir
den Ring schaffen, Sie müssen. Oder sagen Sie mir wenigstens die
Adresse . . .
Sie verfolgt mich immer, und jetzt ist sie fort . . . Sie müssen, hören
Sie,
Sie müssen.“
Er
starrte sie an. Jetzt
merkte sie erst, daß sie ganz zusammenhanglos die Worte keuchte.
„Ach
so . . . Sie wissen
nicht . . . Also, Ihre Geliebte, Ihre frühere, die Person hat mich
damals von
Ihnen fortgehen sehen, und seitdem verfolgt sie mich und erpreßt von
mir . . .
sie foltert mich zu Tode . . . Jetzt hat sie mir den Ring genommen, und
den,
den muß ich haben. Bis heute abend muß ich ihn haben, ich habe es
gesagt, bis
heute abend . . . Wollen sie mir also
helfen.“ „Aber . . . aber ich . . .“ „Wollen Sie oder nicht?“
„Aber
ich kenne doch keine
Person. Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Ich habe nie Beziehungen gehabt
zu
Erpresserinnen.“ Er war beinahe grob.
„So
.
. . Sie kennen sie
nicht. Sie sagt das so aus der Luft. Und sie kennt Ihren Namen und
meine
Wohnung. Vielleicht ist es auch nicht wahr, daß sie erpreßt. Vielleicht
träume
ich das nur.“
Sie
lachte grell. Ihm wurde
unbehaglich. Einen Augenblick fuhr es ihm durch den Sinn, sie könnte
wahnsinnig
sein, so funkelten ihre Augen. Ihr Gehaben war verstört, die Worte
sinnlos.
Ängstlich sah er sich um.
„Bitte
beruhigen Sie sich
doch . . . gnädige Frau . . . ich versichere Ihnen, Sie täuschen sich.
Es ist
ganz ausgeschlossen, daß muß . . . nein, ich verstehe es selbst nicht.
Ich
kenne Frauen dieser Sorte nicht. Die beiden Beziehungen, die ich hier
seit
meinem, wie Sie wissen, doch kurzen Aufenthalt hatte, sind nicht derart
. . .
ich keinen Namen nennen, aber . . . es ist so lächerlich . . . ich
versichere
Ihnen, es muß ein Irrtum sein . . .“
„Sie
wollen mir also nicht
helfen?“ „Aber gewiß . . . wenn ich kann.“ „Dann . . . kommen Sie. Wir
gehen
zusammen zu ihr . . .“
„Zu
wem . . . zu wem denn?“
Er fühlte wieder das Grauen, sie sei wahnsinnig, als sie ihn jetzt beim
Arm
faßte.
„Zu
ihr . . . Wollen Sie
oder wollen Sie nicht?! „Aber gewiß . . . gewiß“ – sein Verdacht wurde
immer
mehr bestärkt durch die Gier, mit der sie ihn drängte – gewiß . . .
gewiß . .
.“
„So
kommen Sie . . . es
geht mir um Leben oder Tod!“
Er
hielt an sich, um nicht
zu lächeln. Dann wurde er mit einem Male förmlich.
„Verzeihung,
gnädige Frau .
. . aber es ist mir momentan nicht möglich . . . ich habe eine
Klavierstunde .
. . ich kann jetzt nicht unterbrechen . . .“
„So
.
. . so . . .“, grell
lachte sie ihm ins Gesicht, „so geben Sie Klavierstunden . . . in
Hemdärmeln .
. . Sie Lügner, Sie.“ Und plötzlich, gepackt von einer Idee, stürmte
sie
vorwärts. Er suchte sie zurückzuhalten. „Hier ist sie also, die
Erpresserin,
bei Ihnen? Am Ende spielt ihr gemeinsames Spiel. Vielleicht teilt ihr
alles,
was ihr aus mir herausgepreßt habt. Aber ich will sie mir fassen. Jetzt
habe
ich vor nichts mehr Angst.“ Sie schrie laut. Er hielt sie fest, aber
sie rang
mit ihm, riß sich los und stürzte zur Tür des Schlafzimmers.
Eine
Gestalt fuhr zurück,
die offenbar an der Tür gelauscht hatte. Irene starrte entgeistert eine
fremde
Dame in etwas unordentlicher Toilette an, die ihr Gesicht hastig
abwandte. Ihr
Geliebter war ihr nachgestürmt, um Irene zu halten, die er für
wahnsinnig
hielt, und ein Unglück zu verhüten, aber schon trat sie wieder aus dem
Zimmer
zurück. „Verzeihen Sie,“ murmelte sie. Es war ihr ganz wirr. Sie
verstand
nichts mehr, nur Ekel fühlte sie, unendlichen Ekel, und eine Müdigkeit.
„Verzeihen
Sie“, sagte sie
noch einmal, als sie ihn unruhig ihr nachschauen sah. „Morgen . . .
morgen
werden Sie alles begreifen . . . das heißt, ich . . . ich verstehe
selbst
nichts mehr.“ Wie zu einem Fremden sprach sie zu ihm. Nichts erinnerte
sie, daß
sie jemals diesem Menschen angehört hatte, und kaum spürte sie noch den
eigenen
Körper. Es war alles jetzt noch viel wirrer als zuvor, sie wußte nur,
daß
irgendwo eine Lüge sein müßte. Aber sie war zu müde, noch zu denken, zu
müde,
zu schauen. Mit geschlossenen Augen stieg sie die Treppe hinab wie ein
Verurteilter zum Schafott.
Dunkel
war die Straße, als
sie hinaustrat. Vielleicht, flog es ihr durch den Sinn, wartet sie
jetzt
drüben, vielleicht kommt jetzt im letzten Augenblick noch Rettung. Es
war ihr,
als müßte sie die Hände falten und beten zu einem vergessenen Gott. Oh,
nur
noch ein paar Monate sich kaufen können, die paar Monate bis zum
Sommer, und
dann dort friedlich leben, unerreichbar für die Erpresserin, leben
zwischen
Wiesen und Feldern, nur einen Sommer, aber ihn so ganz und voll, daß er
mehr
zählt wie ein ganzes Menschenleben. Gierig spähte sie auf die schon
dunkle
Straße. Drüben in einem Haustor vermeinte sie eine Gestalt lauern zu
sehen,
aber jetzt, wie sie näher trat, schwand sie tiefer in den Flur zurück.
Einen
Augenblick glaubte sie, Ähnlichkeit mit ihrem Mann zu entdecken. Zum
zweitenmal
kam ihr heute diese Angst, ihn und seinen Blick auf der Straße
plötzlich zu
spüren. Sie zögerte, um sich zu überzeugen. Aber die Gestalt war
verschwunden
im Schatten. Unruhig ging sie weiter, ein seltsam gespanntes Gefühl im
Nacken
wie von einem rückwärts brennenden Blick. Einmal wandte sie sich noch
um. Aber
da war niemand mehr zu sehen.
Die
Apotheke war nicht
weit. Mit einem leisen Schauer trat sie ein. Der Provisor nahm das
Rezept und
machte sich an die Bereitung. Alles sah sie in dieser einen Minute, die
blanke
Waage, die zierlichen Gewichte, die kleinen Etiketten, und oben in den
Schränken die Reihen der Essenzen mit den fremdartigen lateinischen
Namen, die
sie unbewußt alle mit den Blicken buchstabierte. Sie hörte die Uhr
ticken,
spürte den eigentümlichen Duft, diesen fettig-süßlichen Geruch der
Arzneien,
und erinnerte sich mit einem Male, als Kind ihre Mutter immer gebeten
zu haben,
die Besorgungen für die Apotheke übernehmen zu dürfen, weil sie diesen
Geruch
liebte und den fremdartigen Anblick der vielen blinkenden Tiegel. Dabei
entsann
sie sich entsetzt, daß sie es verabsäumt habe, von ihrer Mutter
Abschied zu
nehmen, und die arme Frau tat ihr furchtbar leid. Wie sie erschrecken
würde,
dachte sie entsetzt, aber schon zählte der Provisor aus einem bauchigen
Gefäß
die hellen Tropen in ein blaues Fläschchen. Starr sah sie zu, wie der
Tod aus
diesem Gefäß in das kleine wanderte, von dem er bald in ihre Adern
strömen
sollte, und ein Gefühl der Kälte rieselte durch ihre Glieder. Sinnlos,
in einer
Art von Hypnose, starrte sie auf seine Finger, die jetzt den Pfropfen
in das
gefüllte Glas bohrten und jetzt mit Papier die gefährliche Rundung
überklebten.
Alle ihre Sinne waren gefesselt und gelähmt von dem grausigen Gedanken.
„Zwei
Kronen, bitte“, sagte
der Provisor. Sie wachte auf aus ihrer Starre und sah fremd um sich.
Dann griff
sie mechanisch in die Tasche, um das Geld hervorzuholen. Noch traumhaft
war
alles in ihr, sie sah die Münzen an, ohne sie gleich zu erkennen, und
verzögerte sich unwillkürlich im Zählen.
In
diesem Augenblick fühlte
sie ihren Arm erregt beiseite geschoben und hörte Geld auf die gläserne
Schüssel klingen. Eine Hand streckte sich neben ihr aus und griff nach
dem
Fläschchen.
Unwillkürlich
wandte sie
sich herum! Und ihr Blick erstarrte. Es war ihr Mann, der da stand mit
hart
zusammengepreßten Lippen. Sein Gesicht war fahl, und auf der Stirn
funkelte ihm
feuchter Schweiß.
Sie
fühlte sich einer
Ohnmacht nahe und mußte sich am Tisch festhalten. Mit einem Male
begriff sie,
daß er es gewesen, den sie auf der Straße gesehen und der eben noch im
Haustor
gelauert; etwas in ihr hatte ihn schon dort ahnend erkannt und besann
sich wirr
in der einen Sekunde.