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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Angst





Angst
Seite 9


Grauen fiel sie an, sie lösche das Licht, flüchtete frierend in das verlassene Bett und lag wach bis in den dämmernden Tag.
 
Am Vormittag verbrannte sie ihre Briefschaften, brachte Ordnung in allerhand kleine Dinge, aber sie vermied nach Möglichkeit, die Kinder zu sehen und alles überhaupt, was ihr lieb war. Sie wollte das Leben jetzt nur abhalten, sich an sie mit Lust und Verlockung anzuklammern und ihr den gefaßten  Entschluß durch ein nur vergebliches Zögern noch zu erschweren. Dann ging sie noch einmal auf die Straße, zum letztenmal das Schicksal zu versuchen und der Erpresserin zu begegnen. Sie ging wieder rastlos die Straßen ab, aber nicht mehr mit jenem gesteigerten Gefühl der Spannung. In ihr war schon etwas müde geworden, und sie verzagte, weiterkämpfen zu können. Sie ging und ging wie aus Pflichtbewußtsein zwei Stunden. Nirgends war die Person zu sehen. Es tat ihr nicht mehr weh. Fast wünschte sie nicht mehr die Begegnung, so kraftlos fühlte sie sich. Sie sah in die Gesichter der Menschen hinein, und alle schienen ihr fremd, alle tot und irgendwie abgestorben. Das alles war irgendwie schon fern und verloren und gehörte ihr nicht mehr.
 
Nur einmal schrak sie zusammen. Ihr war, als hätte sie beim Umblicken auf der anderen Seite der Straße aus dem Gewühl plötzlich den Blick ihres Mannes gefühlt, jenen merkwürdigen, harten, stoßenden Blick, den sie erst seit kurzem an ihm kannte. Ängstlich starrte sie hinüber, aber die Gestalt war rasch hinter einem vorbeifahrenden Wagen verschwunden, und sie beruhigte sich mit dem Gedanken, daß er zu dieser Zeit immer bei Gericht beschäftig sei. Das Gefühl für die Stunde wurde ihr unsicher in der spähenden Erregung, und sie kam verspätet zum Mittagsmahl. Aber auch er war noch nicht zur Stelle wie sonst, sondern kam erst zwei Minuten später und, wie ihr dünkte, ein wenig erregt.
 
Sie zählte jetzt die Stunden bis zum Abend und erschrak, wie viele es noch waren, wie wunderlich das war, wie wenig Zeit man brauchte zum Abschiednehmen, wie wenig wert alles schien, wenn man wußte, daß man es nicht mitnehmen könne. Etwas wie Schläfrigkeit kam über sie. Mechanisch ging sie wieder auf die Straße hinab, aufs Geradewohl, ohne zu denken oder zu schauen. An einer Kreuzung riß ein Kutscher im letzten Augenblick die Pferde zurück, schon hatte sie die Deichsel des Wagens knapp vor sich hinstoßen gesehen. Der Kutscher fluchte gemein, sie wandte sich kaum um: das wäre Rettung gewesen oder Aufschub. Ein Zufall hätte ihr den Entschluß erspart. Müde ging sie weiter: es war wohltuend, so gar nichts zu denken, nur wirr ein dunkles Gefühl vom Ende innen zu spüren, einen Nebel, der sacht niederstieg und alles verhüllte.
 
Als sie zufällig aufblickte, nach dem Namen der Straße zu sehen, schauerte sie zusammen: in ihrem verworrenen Wandeln war sie durch Zufall bis beinahe vor das Haus ihres einstigen Geliebten gekommen. War das ein Zeichen? Er könnte ihr vielleicht noch helfen, er mußte die Adresse jener Person wissen. Sie zitterte beinahe vor Freude. Wie hatte sie dies nicht bedenken können, dies Einfachste? Mit einem Male spürte sie die Glieder wieder reg, die Hoffnung beschwingte die trägen Gedanken, die jetzt wirr durcheinanderstoben. Er müßte jetzt hingehen mit ihr zu jener Person und ein für allemal ein Ende machen. Er müßte sie bedrohen, diese Erpressungen einzustellen, vielleicht genügte eine Summe sogar, sie aus der Stadt zu entfernen. Es tat ihr plötzlich leid, den Armen jüngst so schlecht behandelt zu haben, aber er würde ihr helfen, sie war dessen gewiß. Wie seltsam, daß diese Rettung jetzt erst kam, jetzt, in letzter Stunde.
 
Hastig eilte sie die Treppen hinauf und läutete. Niemand öffnete. Sie horchte: es war ihr, als hätte sie vorsichtige Schritte hinter der Tür gehört. Sie läutete nochmals. Wieder ein Schweigen. Und wieder ein leises Geräusch von innen. Da riß ihr die Geduld: sie läutete ohne Unterlaß, es galt ja ihr Leben.
 
Endlich rührte sich etwas hinter der Tür, das Schloß knackte, und ein schmaler Spalt tat sich auf. „Ich bis es“, hastete sie rasch.
 
Wie mit einem Erschrecken öffnete er jetzt die Tür. „Du bist . . . Sie sind es . . . gnädige Frau“, stammelte er, sichtlich verlegen. „Ich war . . . verzeihen Sie . . . ich war nicht darauf vorbereitet . . . auf Ihren Besuch . . . verzeihen Sie meinen Aufzug.“ Dabei deutete er auf seine Hemdärmel. Sein Hemd war halb offen, und er trug keinen Kragen.
 
„Ich muß Sie dringend sprechen . . . Sie müssen mir helfen“, sagte sie nervös, weil er sie noch immer im Flur stehen ließ wie eine Bettlerin. „Wollen Sie mich nicht eintreten lassen und mich eine Minute anhören“, fügte sie gereizt hinzu.
 
„Bitte“, murmelte er verlegen und mit einem seitlichen Blick, „Ich bin nur jetzt . . . ich kann nicht recht . . .“
 
„Sie müssen mich hören. Es ist ja Ihre Schuld. Sie haben die Pflicht, mir zu helfen . . . Sie müssen mir den Ring schaffen, Sie müssen. Oder sagen Sie mir wenigstens die Adresse . . . Sie verfolgt mich immer, und jetzt ist sie fort . . . Sie müssen, hören Sie, Sie müssen.“
 
Er starrte sie an. Jetzt merkte sie erst, daß sie ganz zusammenhanglos die Worte keuchte.
 
„Ach so . . . Sie wissen nicht . . . Also, Ihre Geliebte, Ihre frühere, die Person hat mich damals von Ihnen fortgehen sehen, und seitdem verfolgt sie mich und erpreßt von mir . . . sie foltert mich zu Tode . . . Jetzt hat sie mir den Ring genommen, und den, den muß ich haben. Bis heute abend muß ich ihn haben, ich habe es gesagt, bis heute abend  . . . Wollen sie mir also helfen.“ „Aber . . . aber ich . . .“ „Wollen Sie oder nicht?“
 
„Aber ich kenne doch keine Person. Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Ich habe nie Beziehungen gehabt zu Erpresserinnen.“ Er war beinahe grob.
 
„So . . . Sie kennen sie nicht. Sie sagt das so aus der Luft. Und sie kennt Ihren Namen und meine Wohnung. Vielleicht ist es auch nicht wahr, daß sie erpreßt. Vielleicht träume ich das nur.“
 
Sie lachte grell. Ihm wurde unbehaglich. Einen Augenblick fuhr es ihm durch den Sinn, sie könnte wahnsinnig sein, so funkelten ihre Augen. Ihr Gehaben war verstört, die Worte sinnlos. Ängstlich sah er sich um.
 
„Bitte beruhigen Sie sich doch . . . gnädige Frau . . . ich versichere Ihnen, Sie täuschen sich. Es ist ganz ausgeschlossen, daß muß . . . nein, ich verstehe es selbst nicht. Ich kenne Frauen dieser Sorte nicht. Die beiden Beziehungen, die ich hier seit meinem, wie Sie wissen, doch kurzen Aufenthalt hatte, sind nicht derart . . . ich keinen Namen nennen, aber . . . es ist so lächerlich . . . ich versichere Ihnen, es muß ein Irrtum sein . . .“
 
„Sie wollen mir also nicht helfen?“ „Aber gewiß . . . wenn ich kann.“ „Dann . . . kommen Sie. Wir gehen zusammen zu ihr . . .“
 
„Zu wem . . . zu wem denn?“ Er fühlte wieder das Grauen, sie sei wahnsinnig, als sie ihn jetzt beim Arm faßte.
 
„Zu ihr . . . Wollen Sie oder wollen Sie nicht?! „Aber gewiß . . . gewiß“ – sein Verdacht wurde immer mehr bestärkt durch die Gier, mit der sie ihn drängte – gewiß . . . gewiß . . .“
 
„So kommen Sie . . . es geht mir um Leben oder Tod!“
 
Er hielt an sich, um nicht zu lächeln. Dann wurde er mit einem Male förmlich.
 
„Verzeihung, gnädige Frau . . . aber es ist mir momentan nicht möglich . . . ich habe eine Klavierstunde . . . ich kann jetzt nicht unterbrechen . . .“
 
„So . . . so . . .“, grell lachte sie ihm ins Gesicht, „so geben Sie Klavierstunden . . . in Hemdärmeln . . . Sie Lügner, Sie.“ Und plötzlich, gepackt von einer Idee, stürmte sie vorwärts. Er suchte sie zurückzuhalten. „Hier ist sie also, die Erpresserin, bei Ihnen? Am Ende spielt ihr gemeinsames Spiel. Vielleicht teilt ihr alles, was ihr aus mir herausgepreßt habt. Aber ich will sie mir fassen. Jetzt habe ich vor nichts mehr Angst.“ Sie schrie laut. Er hielt sie fest, aber sie rang mit ihm, riß sich los und stürzte zur Tür des Schlafzimmers.
 
Eine Gestalt fuhr zurück, die offenbar an der Tür gelauscht hatte. Irene starrte entgeistert eine fremde Dame in etwas unordentlicher Toilette an, die ihr Gesicht hastig abwandte. Ihr Geliebter war ihr nachgestürmt, um Irene zu halten, die er für wahnsinnig hielt, und ein Unglück zu verhüten, aber schon trat sie wieder aus dem Zimmer zurück. „Verzeihen Sie,“ murmelte sie. Es war ihr ganz wirr. Sie verstand nichts mehr, nur Ekel fühlte sie, unendlichen Ekel, und eine Müdigkeit.
 
„Verzeihen Sie“, sagte sie noch einmal, als sie ihn unruhig ihr nachschauen sah. „Morgen . . . morgen werden Sie alles begreifen . . . das heißt, ich . . . ich verstehe selbst nichts mehr.“ Wie zu einem Fremden sprach sie zu ihm. Nichts erinnerte sie, daß sie jemals diesem Menschen angehört hatte, und kaum spürte sie noch den eigenen Körper. Es war alles jetzt noch viel wirrer als zuvor, sie wußte nur, daß irgendwo eine Lüge sein müßte. Aber sie war zu müde, noch zu denken, zu müde, zu schauen. Mit geschlossenen Augen stieg sie die Treppe hinab wie ein Verurteilter zum Schafott.
 
Dunkel war die Straße, als sie hinaustrat. Vielleicht, flog es ihr durch den Sinn, wartet sie jetzt drüben, vielleicht kommt jetzt im letzten Augenblick noch Rettung. Es war ihr, als müßte sie die Hände falten und beten zu einem vergessenen Gott. Oh, nur noch ein paar Monate sich kaufen können, die paar Monate bis zum Sommer, und dann dort friedlich leben, unerreichbar für die Erpresserin, leben zwischen Wiesen und Feldern, nur einen Sommer, aber ihn so ganz und voll, daß er mehr zählt wie ein ganzes Menschenleben. Gierig spähte sie auf die schon dunkle Straße. Drüben in einem Haustor vermeinte sie eine Gestalt lauern zu sehen, aber jetzt, wie sie näher trat, schwand sie tiefer in den Flur zurück. Einen Augenblick glaubte sie, Ähnlichkeit mit ihrem Mann zu entdecken. Zum zweitenmal kam ihr heute diese Angst, ihn und seinen Blick auf der Straße plötzlich zu spüren. Sie zögerte, um sich zu überzeugen. Aber die Gestalt war verschwunden im Schatten. Unruhig ging sie weiter, ein seltsam gespanntes Gefühl im Nacken wie von einem rückwärts brennenden Blick. Einmal wandte sie sich noch um. Aber da war niemand mehr zu sehen.
 
Die Apotheke war nicht weit. Mit einem leisen Schauer trat sie ein. Der Provisor nahm das Rezept und machte sich an die Bereitung. Alles sah sie in dieser einen Minute, die blanke Waage, die zierlichen Gewichte, die kleinen Etiketten, und oben in den Schränken die Reihen der Essenzen mit den fremdartigen lateinischen Namen, die sie unbewußt alle mit den Blicken buchstabierte. Sie hörte die Uhr ticken, spürte den eigentümlichen Duft, diesen fettig-süßlichen Geruch der Arzneien, und erinnerte sich mit einem Male, als Kind ihre Mutter immer gebeten zu haben, die Besorgungen für die Apotheke übernehmen zu dürfen, weil sie diesen Geruch liebte und den fremdartigen Anblick der vielen blinkenden Tiegel. Dabei entsann sie sich entsetzt, daß sie es verabsäumt habe, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen, und die arme Frau tat ihr furchtbar leid. Wie sie erschrecken würde, dachte sie entsetzt, aber schon zählte der Provisor aus einem bauchigen Gefäß die hellen Tropen in ein blaues Fläschchen. Starr sah sie zu, wie der Tod aus diesem Gefäß in das kleine wanderte, von dem er bald in ihre Adern strömen sollte, und ein Gefühl der Kälte rieselte durch ihre Glieder. Sinnlos, in einer Art von Hypnose, starrte sie auf seine Finger, die jetzt den Pfropfen in das gefüllte Glas bohrten und jetzt mit Papier die gefährliche Rundung überklebten. Alle ihre Sinne waren gefesselt und gelähmt von dem grausigen Gedanken.
 
„Zwei Kronen, bitte“, sagte der Provisor. Sie wachte auf aus ihrer Starre und sah fremd um sich. Dann griff sie mechanisch in die Tasche, um das Geld hervorzuholen. Noch traumhaft war alles in ihr, sie sah die Münzen an, ohne sie gleich zu erkennen, und verzögerte sich unwillkürlich im Zählen.
 
In diesem Augenblick fühlte sie ihren Arm erregt beiseite geschoben und hörte Geld auf die gläserne Schüssel klingen. Eine Hand streckte sich neben ihr aus und griff nach dem Fläschchen.
 
Unwillkürlich wandte sie sich herum! Und ihr Blick erstarrte. Es war ihr Mann, der da stand mit hart zusammengepreßten Lippen. Sein Gesicht war fahl, und auf der Stirn funkelte ihm feuchter Schweiß.
 
Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe und mußte sich am Tisch festhalten. Mit einem Male begriff sie, daß er es gewesen, den sie auf der Straße gesehen und der eben noch im Haustor gelauert; etwas in ihr hatte ihn schon dort ahnend erkannt und besann sich wirr in der einen Sekunde.
 
 





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