Terzett
Der
Plan war, wie sich eine
Stunde später erwies, vortrefflich und bis in die letzten Einzelheiten
gelungen. Als der junge Baron, mit Absicht etwas verspätet, den
Speisesaal
betrat, zuckte Edgar vom Sessel auf, grüßte eifrig mit einem beglückten
Lächeln
und winkte ihm zu. Gleichzeitig zupfte er seine Mutter am Ärmel, sprach
hastig
und erregt auf sie ein, mit auffälligen Gesten gegen den Baron
hindeutend. Sie
verwies ihm geniert und errötend sein allzu reges Benehmen, konnte es
aber doch
nicht vermeiden, einmal hinüberzusehen, um dem Buben seinen Willen zu
tun, was
der Baron sofort zum Anlaß einer respektvollen Verbeugung nahm. Die
Bekanntschaft war gemacht.
Sie
mußte danken, beugte aber von nun ab das Gesicht
tiefer über den Teller und vermied sorgfältig während des ganzen Diners
nochmals hinüberzublicken. Anders Edgar, der unablässig hinguckte,
einmal sogar
versuchte hinüberzusprechen, eine Unstatthaftigkeit, die ihm sofort von
seiner
Mutter energisch verwiesen wurde. Nach Tisch wurde ihm bedeutet, daß er
schlafen
zu gehen habe, und ein emsiges Wispern begann zwischen ihm und seiner
Mama,
dessen Endresultat war, daß es seinen heißen Bitten verstattet wurde,
zum
andern Tisch hinüberzugehen und sich bei seinem Freund zu empfehlen.
Der Baron
sagte ihm ein paar herzliche Worte, die wieder die Augen des Kindes zum
Flackern brachten, plauderte mit ihm ein paar Minuten. Plötzlich aber,
mit
einer geschickten Wendung, drehte er sich, aufstehend, zum andern Tisch
hinüber, beglückwünschte die etwas verwirrte Nachbarin zu ihrem klugen,
aufgeweckten Sohn, rühmte den Vormittag, den er so vortrefflich mit ihm
verbracht hatte – Edgar stand dabei, rot vor Freude und
Stolz –, und
erkundigte sich schließlich nach seiner Gesundheit so ausführlich und
mit so
viel Einzelfragen, daß die Mutter zur Antwort gezwungen war. Und so
gerieten
sie unaufhaltsam in ein längeres Gespräch, dem der Bub beglückt und mit
einer
Art Ehrfurcht lauschte. Der Baron stellte sich vor und glaubte zu
bemerken, daß
sein klingender Name auf die Eitle einen gewissen Eindruck machte.
Jedenfalls
war sie von außerordentlicher Zuvorkommenheit gegen ihn, wiewohl sie
sich
nichts vergab und sogar frühen Abschied nahm, des Buben halber, wie sie
entschuldigend beifügte.
Der
protestierte heftig, er
sei nicht müde und gerne bereit, die ganze Nacht aufzubleiben. Aber
schon hatte
seine Mutter dem Baron die Hand geboten, der sie respektvoll küßte.
Edgar
schlief schlecht in
dieser Nacht. Es war eine Wirrnis in ihm von Glückseligkeit und
kindischer
Verzweiflung. Denn heute war etwas Neues in seinem Leben geschehn. Zum
ersten
Male hatte er in die Schicksale von Erwachsenen eingegriffen. Er
vergaß, schon
im Halbtraum, seine eigene Kindheit und dünkte sich mit einem Male
groß. Bisweilen
hatte er, einsam erzogen und oft kränklich, wenig Freunde gehabt. Für
all sein
Zärtlichkeitsbedürfnis war niemand dagewesen als die Eltern, die sich
wenig um
ihn kümmerten, und die Dienstboten. Und die Gewalt einer Liebe wird
immer
falsch bemessen, wenn man sie nur nach ihrem Anlaß wertet und nicht
nach der
Spannung, die ihr vorausgeht, jenem hohlen, dunkeln Raum von
Enttäuschung und
Einsamkeit, der vor allen großen Ereignissen des Herzens liegt. Ein
überschweres, ein unverbrauchtes Gefühl hatte hier gewartet und stürzte
nun mit
ausgebreiteten Armen dem ersten entgegen, der es zu verdienen schien.
Edgar lag
im Dunkeln, beglückt und verwirrt, er wollte lachen und mußte weinen.
Denn er
liebte diesen Menschen, wie er nie einen Freund, nie Vater und Mutter
und nicht
einmal Gott geliebt hatte. Die ganze unreife Leidenschaft seiner
früheren Jahre
umklammerte das Bild dieses Menschen, dessen Namen er vor zwei Stunden
noch
nicht gekannt hatte.
Aber
er war doch klug
genug, um durch das Unerwartete und Eigenartige dieser neuen
Freundschaft nicht
bedrängt zu sein. Was ihn so sehr verwirrte, war das Gefühl seiner
Unwertigkeit, seiner Nichtigkeit. „Passe ich denn zu ihm, ich, ein
kleiner Bub,
zwölf Jahre alt, der noch die Schule vor sich hat, der abends vor allen
andern
ins Bett geschickt wird?“ quälte er sich ab. „Was kann ich ihm sein,
was kann
ich ihm bieten?“ Gerade dieses qualvoll empfundene Unvermögen,
irgendwie sein
Gefühl zeigen zu können, machte ihn unglücklich. Sonst, wenn er einen
Kameraden
liebgewonnen hatte, war es sein Erstes, die paar kleinen Kostbarkeiten
seines
Pultes, Briefmarken und Steine, den kindischen Besitz der Kindheit, mit
ihm zu
teilen, aber all diese Dinge, die ihm gestern noch von hoher Bedeutung
und
seltenem Reiz waren, schienen ihm mit einem Male entwertet, läppisch
und
verächtlich. Denn wie konnte er derlei diesem neuen Freunde bieten, dem
er
nicht einmal wagen durfte, das Du zu erwidern; wo war ein Weg, eine
Möglichkeit, seine Gefühle zu verraten? Immer mehr und mehr empfand er
die Qual,
klein zu sein, etwas Halbes, Unreifes, ein Kind von zwölf Jahren, und
noch nie
hatte er so stürmisch das Kindsein verflucht, so herzlich sich gesehnt,
anders
aufzuwachen, so wie er sich träumte: groß und stark, ein Mann, ein
Erwachsener
wie die andern.
In
diese unruhigen Gedanken
flochten sich rasch die ersten farbigen Träume von dieser neuen Welt
des
Mannseins. Edgar schlief endlich mit einem Lächeln ein, aber doch, die
Erinnerung der morgigen Verabredung unterhöhlte seinen Schlaf. Er
schreckte
schon um sieben Uhr mit der Angst auf, zu spät zu kommen. Hastig zog er
sich
an, begrüßte die erstaunte Mutter, die ihn sonst nur mit Mühe aus dem
Bette
bringen konnte, in ihrem Zimmer und stürmte, ehe sie weitere Fragen
stellen
konnte, hinab. Bis neun Uhr trieb er sich ungeduldig umher, vergaß, daß
er
frühstücken sollte, einzig besorgt, den Freund für den Spaziergang
nicht lange
warten zu lassen.
Um
halb zehn kam endlich
der Baron sorglos angeschlendert. Er hatte natürlich längst die
Verabredung
vergessen, jetzt aber, da der Knabe gierig auf ihn losschnellte, mußte
er
lächeln über soviel Leidenschaft und zeigte sich bereit, sein
Versprechen
einzuhalten. Er nahm den Buben wieder unterm Arm, ging mit dem
Strahlenden auf
und nieder, nur daß er sanft, aber nachdrücklich abwehrte, schon jetzt
den
gemeinsamen Spaziergang zu beginnen. Er schien auf irgend etwas zu
warten,
wenigstens deutete darauf sein nervös die Türen abgreifender Blick.
Plötzlich
straffte er sich empor. Edgars Mama war hereingetreten und kam, den
Gruß erwidernd,
freundlich auf beide zu. Sie lächelte zustimmend, als sie von dem
beabsichtigten Spaziergang vernahm, den ihr Edgar als etwas zu
Kostbares
verschwiegen hatte, ließ sich aber rasch von der Einladung des Barons
zum
Mitgehen bestimmen.
Edgar
wurde sofort mürrisch
und biß die Lippen. Wie ärgerlich, daß sie gerade jetzt vorbeikommen
mußte!
Dieser Spaziergang hatte doch ihm allein gehört, und wenn er seinen
Freund auch
der Mama vorgestellt hatte, so war das nur eine Liebenswürdigkeit von
ihm
gewesen, aber teilen wollte er ihn deshalb nicht. Schon regte sich in
ihm etwas
wie Eifersucht, als er die Freundlichkeit des Barons zu seiner Mutter
bemerkte.
Sie
gingen dann zu dritt
spazieren, und das gefährliche Gefühl seiner Wichtigkeit und
plötzlichen
Bedeutsamkeit wurde in dem Kinde noch genährt durch das auffällige
Interesse,
das beide ihm widmeten. Edgar war fast ausschließlich Gegenstand der
Konversation, indem sich die Mutter mit etwas erheuchelter Besorgnis
über seine
Blässe und Nervosität aussprach, während der Baron wieder dies lächelnd
abwehrte und sich rühmend über die nette Art seines „Freundes“, wie er
ihn
nannte, erging. Es war Edgars schönste Stunde. Er hatte Rechte, die ihm
niemals
im Laufe seiner Kindheit zugestanden worden waren. Er durfte mitreden,
ohne
sofort zur Ruhe verwiesen zu werden, sogar allerhand vorlaute Wünsche
äußern,
die ihm bislang übel aufgenommen worden wären. Und es war nicht
verwunderlich,
daß in ihm das trügerische Gefühl üppig wuchernd wuchs, daß er ein
Erwachsener
sei. Schon lag die Kindheit in seinen hellen Träumen hinter ihm, wie
ein
weggeworfenes, entwachsenes Kleid.
Mittag
saß der Baron, der
Einladung der immer freundlicheren Mutter Edgars folgend, an ihrem
Tisch. Aus
dem vis-à-vis war ein Nebeneinander geworden, aus der Bekanntschaft
eine Freundschaft. Das Terzett war im Gang, und die drei Stimmen der
Frau, des
Mannes und des Kindes klangen rein zusammen.