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04.3
Geschichten
Stefan Zweig
Brennendes
Geheimnis
Brennendes
Geheimnis
Was
hat sie so verwandelt?“
sann das Kind, das ihnen im rollenden Wagen gegenübersaß. „Warum sind
sie nicht
mehr zu mir wie früher? Weshalb vermeidet Mama immer meinen Blick, wenn
ich sie
ansehe? Warum sucht er immer vor mir Witze zu machen und den Hanswurst
zu
spielen? Beide reden sie nicht mehr zu mir wie gestern und vorgestern,
mir ist
beinahe, als hätten sie andere Gesichter bekommen. Mama hat heute so
rote
Lippen, sie muß sie gefärbt haben. Das habe ich nie gesehen an ihr. Und
er
zieht immer die Stirne kraus, als sei er beleidigt. Ich habe ihnen doch
nichts
getan, kein Wort gesagt, das sie verdrießen konnte? Nein, ich kann
nicht die
Ursache sein, denn sie sind selbst zueinander anders wie vordem. Sie
sind so,
als ob sie etwas angestellt hätten, das sie sich nicht zu sagen
getrauen. Sie
plaudern nicht mehr wie gestern, sie lachen auch nicht, sie sind
befangen, sie
verbergen etwas. Irgendein Geheimnis ist zwischen ihnen, das sie mir
nicht
verraten wollen. Ein Geheimnis, das ich ergründen muß um jeden Preis.
Ich kenne
es schon, es muß dasselbe sein, vor dem sie mir immer die Türe
verschließen,
von dem in den Büchern die Rede ist und in den Opern, wenn die Männer
und die
Frauen mit ausgebreiteten Armen gegeneinander singen, sich umfassen und
sich
wegstoßen. Es muß irgendwie dasselbe sein, wie das mit meiner
französischen
Lehrerin, die sich mit Papa so schlecht vertrug und die dann
weggeschickt
wurde. All diese Dinge hängen zusammen, das spüre ich, aber ich weiß
nur nicht,
wie. Oh, es zu wissen, endlich zu wissen, dieses Geheimnis, ihn zu
fassen,
diesen Schlüssel, der alle Türen aufschließt, nicht länger mehr Kind
sein, vor
dem man alles versteckt und verhehlt, sich nicht mehr hinhalten lassen
und
betrügen. Jetzt oder nie! Ich will es ihnen entreißen, dieses
furchtbare
Geheimnis.“ Eine Falte grub sich in seine Stirne, beinahe alt sah der
schmächtige Zwölfjährige aus, wie er so ernst vor sich hin grübelte,
ohne einen
einzigen Blick an die Landschaft zu wenden, die sich in klingenden
Farben rings
entfaltete, die Berge im gereinigten Grün ihrer Nadelwälder, die Täler
im noch
zarten Glanz des verspäteten Frühlings.
Er sah nur immer die
beiden ihm
gegenüber im Rücksitz des Wagens an, als könnte er mit diesen heißen
Blicken
wie mit einer Angel das Geheimnis aus den glitzernden Tiefen ihrer
Augen
herausreißen. Nichts schärft Intelligenz mehr als ein
leidenschaftlicher
Verdacht, nichts entfaltet mehr alle Möglichkeiten eines unreifen
Intellekts
als eine Fährte, die ins Dunkel läuft. Manchmal ist es ja nur eine
einzige, dünne
Tür, die Kinder von der Welt, die wir die wirkliche nennen, abtrennt,
und ein
zufälliger Windhauch weht sie ihnen auf.
Edgar
fühlte sich mit einem
Male dem Unbekannten, dem großen Geheimnis so greifbar nahe wie noch
nie, er
spürte es knapp vor sich, zwar noch verschlossen und unenträtselt, aber
nah,
ganz nah. Das erregte ihn und gab ihm diesen plötzlichen, feierlichen
Ernst.
Denn unbewußt ahnte er, daß er am Rand seiner Kindheit stand.
Die
beiden gegenüber
fühlten irgendeinen dumpfen Widerstand vor sich, ohne zu ahnen, daß er
von dem
Knaben ausging. Sie fühlten sich eng und gehemmt zu dritt im Wagen. Die
beiden
Augen ihnen gegenüber mit ihrer dunkel in sich flackernden Glut
behinderten sie.
Sie wagten kaum zu reden, kaum zu blicken. Zu ihrer vormaligen
leichten,
gesellschaftlichen Konversation fanden sie jetzt nicht mehr zurück,
schon zu
sehr verstrickt in dem Ton der heißen Vertraulichkeiten, jener
gefährlichen
Worte, in denen die schmeichelnde Unzüchtigkeit von heimlichen
Betastungen
zittert. Ihr Gespräch stieß immer auf Lücken und Stockungen. Es blieb
stehen,
wollte weiter, aber stolperte immer wieder über das hartnäckige
Schweigen des
Kindes.
Besonders
für die Mutter
war sein verbissenes Schweigen eine Last. Sie sah ihn vorsichtig von
der Seite
an und erschrak, als sie plötzlich in der Art, wie das Kind die Lippen
verkniff, zum erstenmal eine Ähnlichkeit mit ihrem Mann erkannte, wenn
er
gereizt oder verärgert war. Der Gedanke war ihr unbehaglich, gerade
jetzt an
ihren Mann erinnert zu werden, da sie mit einem Abenteuer Versteck
spielen
wollte. Wie ein Gespenst, ein Wächter des Gewissens, doppelt
unerträglich hier
in der Enge des Wagens, zehn Zoll gegenüber mit seinen dunkel
arbeitenden Augen
und dem Lauern hinter der blassen Stirn, schien ihr das Kind. Da
schaute Edgar
plötzlich auf, eine Sekunde lang.
Beide senkten sie sofort
den Blick: sie
spürten, daß sie sich belauerten, zum erstenmal in ihrem Leben. Bisher
hatten
sie einander blind vertraut, jetzt aber war etwas zwischen Mutter und
Kind,
zwischen ihr und ihm plötzlich anders geworden. Zum ersten Male in
ihrem Leben
begannen sie, sich zu beobachten, ihre beiden Schicksale voneinander zu
trennen, beide schon mit einem heimlichen Haß gegeneinander, der nur
noch zu
neu war, als daß sie sich ihn einzugestehen wagten.
Alle
drei atmeten sie auf,
als die Pferde wieder vor dem Hotel hielten. Es war ein verunglückter
Ausflug
gewesen, alle fühlten es, und keiner wagte es zu sagen. Edgar sprang
zuerst ab.
Seine Mutter entschuldigte sich mit Kopfschmerzen und ging eilig
hinauf. Sie
war müde und wollte allein sein. Edgar und der Baron blieben zurück.
Der Baron
zahlte dem Kutscher, sah auf die Uhr und schritt gegen die Hall zu,
ohne den
Buben zu beachten. Er ging vorbei an ihm mit seinem feinen, schlanken
Rücken,
diesem rhythmisch leichten Wiegegang, der das Kind so bezauberte und
den es
gestern schon nachzuahmen versucht hatte. Er ging vorbei, glatt vorbei.
Offenbar hatte er den Knaben vergessen und ließ ihn stehen neben dem
Kutscher,
neben den Pferden, als gehörte er nicht zu ihm.
In
Edgar riß irgend etwas
entzwei, wie er ihn so vorübergehen sah, ihn, den er trotz alldem noch
immer so
abgöttisch liebte. Verzweiflung brach aus seinem Herzen, als er so
vorbeiging,
ohne ihn mit dem Mantel zu streifen, ohne ihm ein Wort zu sagen, der
sich doch
keiner Schuld bewußt war.
Die mühsam bewahrte Fassung zerriß, die künstlich
erhöhte Last der Würde glitt ihm von den zu schmalen Schultern, er
wurde wieder
ein Kind, klein und demütig wie gestern und vordem. Es riß ihn weiter
wider
seinen Willen. Mit rasch zitternden Schritten ging er dem Baron nach,
trat ihm,
der eben die Treppe hinauf wollte, in den Weg und sagte gepreßt, mit
schwer
verhaltenen Tränen:
„Was
habe ich Ihnen getan,
daß Sie nicht mehr auf mich achten? Warum sind Sie jetzt immer so mit
mir? Und
die Mama auch? Warum wollen Sie mich immer wegschicken? Bin ich Ihnen
lästig,
oder habe ich etwas getan?“
Der
Baron schrak auf. In
der Stimme war etwas, das ihn verwirrte und weich stimmte. Mitleid
überkam ihn
mit dem arglosen Buben. „Edi, du bist ein Narr! Ich war nur schlechter
Laune
heute. Und du bist ein lieber Bub, den ich wirklich gern hab.“ Dabei
schüttelte
er ihn am Schopf tüchtig hin und her, aber doch das Gesicht halb
abgewendet, um
nicht diese großen, feuchten, flehenden Kinderaugen sehen zu müssen.
Die
Komödie, die er spielte, begann ihm peinlich zu werden. Er schämte sich
eigentlich schon, mit der Liebe dieses Kindes so frech gespielt zu
haben, und
diese dünne, von unterirdischem Schluchzen geschüttelte Stimme tat ihm
weh.
„Geh jetzt hinauf, Edi, heute abend werden wir uns wieder vertragen, du
wirst
schon sehen“, sagte er begütigend.
„Aber
Sie dulden nicht, daß
mich Mama gleich hinaufschickt. Nicht wahr?“
„Nein,
nein, Edi, ich dulde
es nicht“, lächelte der Baron. „Geh nur jetzt hinauf, ich muß mich
anziehen für
das Abendessen.“
Edgar
ging, beglückt für
den Augenblick. Aber bald begann der Hammer im Herzen sich wieder zu
rühren. Er
war um Jahre älter geworden seit gestern; ein fremder Gast, das
Mißtrauen, saß
jetzt schon fest in seiner kindischen Brust.
Er
wartete. Es galt ja die
entscheidende Probe. Sie saßen zusammen bei Tisch. Es wurde neun Uhr,
aber die
Mutter schickte ihn nicht zu Bett. Schon wurde er unruhig. Warum ließ
sie ihn
gerade heute so lange hier bleiben, sie, die sonst so genau war? Hatte
ihr am
Ende der Baron seinen Wunsch und das Gespräch verraten? Brennende Reue
überfiel
ihn plötzlich, ihm heute mit seinem vollen vertrauenden Herzen
nachgelaufen zu
sein. Um zehn erhob sich plötzlich seine Mutter und nahm Abschied vom
Baron.
Und seltsam, auch der schien durch diesen frühen Aufbruch keineswegs
verwundert
zu sein, suchte auch nicht, wie sonst immer, sie zurückzuhalten. Immer
heftiger
schlug der Hammer in der Brust des Kindes.
Nun
galt es scharfe Probe.
Auch er stellte sich nichtsahnend und folgte ohne Widerrede seiner
Mutter zur
Tür. Dort aber zuckte er plötzlich auf mit den Augen. Und wirklich, er
fing in
dieser Sekunde einen lächelnden Blick, der über seinen Kopf von ihr
gerade zum
Baron hinüberging, einen Blick des Einverständnisses, irgendeines
Geheimnisses.
Der Baron hatte ihn also verraten. Deshalb also der frühe Aufbruch: er
sollte
heute eingewiegt werden in Sicherheit, um ihnen morgen nicht mehr im
Wege zu
sein.
„Schuft“,
murmelte er.
„Was
meinst du?“ fragte die
Mutter.
„Nichts“,
stieß er zwischen
den Zähnen heraus. Auch er hatte jetzt sein Geheimnis. Es hieß Haß,
grenzenloser Haß gegen beide.
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