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04.3
Geschichten
Stefan
Zweig
Brennendes
Geheimnis
Die
Lügner
Aber
die Zeit drängte. Der
Baron hatte nur mehr wenige Tage, und die wollten genützt sein.
Widerstand
gegen die Hartnäckigkeit des gereizten Kindes war, das fühlten sie,
vergeblich,
und so griffen sie zum letzten, zum schmählichsten Ausweg: zur Flucht,
nur um
für eine oder zwei Stunden seiner Tyrannei zu entgehen.
„Gib
diese Briefe
rekommandiert zur Post“, sagte die Mutter zu Edgar. Sie standen beide
in der
Hall, der Baron sprach draußen mit einem Fiaker.
Mißtrauisch
übernahm Edgar
die beiden Briefe. Er hatte bemerkt, daß früher ein Diener irgendeine
Botschaft
seiner Mutter übermittelt hatte. Bereiteten sie am Ende etwas gemeinsam
gegen
ihn vor?
Er
zögerte. „Wo erwartest
du mich?“
„Hier.“
„Bestimmt?“
„Ja.“
„Daß
du aber nicht
weggehst! Du wartest also hier in der Hall auf mich, bis ich
zurückkomme?“
Er
sprach im Gefühl seiner
Überlegenheit mit seiner Mutter schon befehlshaberisch. Seit vorgestern
hatte
sich viel verändert.
Dann
ging er mit den beiden
Briefen. An der Tür stieß er mit dem Baron zusammen. Er sprach ihn an,
zum
erstenmal seit zwei Tagen. „Ich gebe nur die zwei Briefe auf. Meine
Mama wartet
auf mich, bis ich zurückkomme. Bitte gehen Sie nicht früher fort.“
Der
Baron drückte sich
rasch vorbei. „Ja, ja, wir warten schon.“
Edgar
stürmte zum Postamt.
Er mußte warten. Ein Herr vor ihm hatte ein Dutzend langweiliger
Fragen.
Endlich konnte er sich des Auftrags entledigen und rannte sofort mit
den
Rezipissen zurück. Und kam eben zurecht, um zu sehen, wie seine Mutter
und der
Baron im Fiaker davonfuhren.
Er
war starr vor Wut. Fast
hätte er sich niedergebückt und ihnen einen Stein nachgeschleudert. Sie
waren
ihm also doch entkommen, aber mit einer wie gemeinen, wie schurkischen
Lüge!
Daß seine Mutter log, wußte er seit gestern. Aber daß sie so schamlos
sein
konnte, ein offenes Versprechen zu mißachten, das zerriß ihm ein
letztes
Vertrauen. Er verstand das ganze Leben nicht mehr, seit er sah, daß die
Worte,
hinter denen er die Wirklichkeit vermutet hatte, nur farbige Blasen
waren, die
sich blähten und in nichts zersprangen. Aber was für ein furchtbares
Geheimnis
mußte das sein, das erwachsene Menschen so weit trieb, ihn, ein Kind,
zu
belügen, sich wegzustehlen wie Verbrecher? In den Büchern, die er
gelesen
hatte, mordeten und betrogen die Menschen, um Geld zu gewinnen, oder
Macht,
oder Königreiche. Was aber war hier die Ursache, was wollten diese
beiden,
warum versteckten sie sich vor ihm, was suchten sie unter hundert Lügen
zu
verhüllen? Er zermarterte sein Gehirn. Dunkel spürte er, daß dieses
Geheimnis
der Riegel der Kindheit sei, daß, es erobert zu haben, bedeutete,
erwachsen zu
sein, endlich, endlich ein Mann. Oh, es zu fassen! Aber er konnte nicht
mehr
klar denken. Die Wut, daß sie ihm entkommen waren, verbrannte und
verqualmte
ihm den klaren Blick.
Er
lief hinaus in den Wald,
gerade konnte er sich noch ins Dunkel retten, wo ihn niemand sah, und
da brach
es heraus, in einem Strom heißer Tränen. „Lügner, Hunde, Betrüger,
Schurken“ –
er mußte diese Worte laut herausschreien, sonst wäre er erstickt. Die
Wut, die
Ungeduld, der Ärger, die Neugier, die Hilflosigkeit und der Verrat der
letzten
Tage, im kindischen Krampf, im Wahn seiner Erwachsenheit
niedergehalten,
sprengten jetzt die Brust und wurden Tränen. Es war das letzte Weinen
seiner
Kindheit, das letzte wildeste Weinen, zum letztenmal gab er sich
weibisch hin
an die Wollust der Tränen. Er weinte in dieser Stunde fassungsloser Wut
alles
aus sich heraus, Vertrauen, Liebe, Gläubigkeit, Respekt – seine ganze
Kindheit.
Der
Knabe, der dann zum
Hotel zurückging, war ein anderer. Er war kühl und handelte vorbedacht.
Zunächst ging er in sein Zimmer, wusch sorgfältig das Gesicht und die
Augen, um
den beiden nicht den Triumph zu gönnen, die Spuren seiner Tränen zu
sehen. Dann
bereitete er die Abrechnung vor. Und wartete geduldig, ohne jede
Unruhe.
Die
Hall war recht gut
besucht, als der Wagen mit den beiden Flüchtigen draußen wieder hielt.
Ein paar
Herren spielten Schach, andere lasen ihre Zeitung, die Damen
plauderten. Unter
ihnen hatte reglos, ein wenig blaß mit zitternden Blicken das Kind
gesessen.
Als jetzt seine Mutter und der Baron zur Türe hereinkamen, ein wenig
geniert,
ihn so plötzlich zu sehen, und schon die vorbereitete Ausrede stammeln
wollten,
trat er ihnen aufrecht und ruhig entgegen und sagte herausfordernd:
„Herr
Baron, ich möchte Ihnen etwas sagen.“
Dem
Baron wurde es
unbehaglich. Er kam sich irgendwie ertappt vor. „Ja, ja, später,
gleich!“
Aber
Edgar warf die Stimme
hoch und sagte hell und scharf, daß alle rings es hören konnten: „Ich
will aber
jetzt mit Ihnen reden. Sie haben sich niederträchtig benommen. Sie
haben mich
angelogen. Sie wußten, daß meine Mama auf mich wartet, und sind …“
„Edgar!“
schrie die Mutter,
die alle Blicke auf sich gerichtet sah, und stürzte gegen ihn los.
Aber
das Kind kreischte
jetzt, da es sah, daß sie seine Worte überschreien wollten, plötzlich
gellend
auf:
„Ich
sage es Ihnen nochmals
vor allen Leuten. Sie haben infam gelogen, und das ist gemein, das ist
erbärmlich.“
Der
Baron stand blaß, die
Leute starrten auf, einige lächelten.
Die
Mutter packte das vor
Erregung zitternde Kind: „Komm sofort auf dein Zimmer, oder ich prügle
dich
hier vor allen Leuten“, stammelte sie heiser.
Edgar
aber war schon wieder
ruhig. Es tat ihm leid, so leidenschaftlich gewesen zu sein. Er war
unzufrieden
mit sich selbst, denn eigentlich wollte er ja den Baron kühl
herausfordern,
aber die Wut war wilder gewesen als sein Wille. Ruhig, ohne Hast wandte
er sich
zur Treppe.
„Entschuldigen
Sie, Herr
Baron, seine Ungezogenheit. Sie wissen ja, er ist ein nervöses Kind“,
stotterte
sie noch, verwirrt von den ein wenig hämischen Blicken der Leute, die
sie
ringsum anstarrten. Nichts in der Welt war ihr fürchterlicher als
Skandal, und
sie wußte, daß sie nun Haltung bewahren mußte. Statt gleich die Flucht
zu
ergreifen, ging sie zuerst zum Portier, fragte nach Briefen und anderen
gleichgültigen Dingen und rauschte dann hinauf, als ob nichts geschehen
wäre.
Aber hinter ihr wisperte ein leises Kielwasser von Zischeln und
unterdrücktem
Gelächter.
Unterwegs
verlangsamte sich
ihr Schritt. Sie war immer ernsten Situationen gegenüber hilflos und
hatte
eigentlich Angst vor dieser Auseinandersetzung. Daß sie schuldig war,
konnte
sie nicht leugnen, und dann: sie fürchtete sich vor dem Blick des
Kindes,
diesem neuen, fremden, so merkwürdigen Blick, der sie lähmte und
unsicher
machte. Aus Furcht beschloß sie, es mit Milde zu versuchen. Denn bei
einem
Kampf war, das wußte sie, dieses gereizte Kind jetzt der Stärkere.
Leise
klinkte sie die Türe
auf. Der Bub saß da, ruhig und kühl. Die Augen, die er zu ihr aufhob,
waren
ganz ohne Angst, verrieten nicht einmal Neugierde. Er schien sehr
sicher zu
sein.
„Edgar,“
begann sie
möglichst mütterlich, „was ist dir eingefallen? Ich habe mich geschämt
für
dich. Wie kann man nur so ungezogen sein, schon gar als Kind zu einem
Erwachsenen!
Du wirst dich dann sofort beim Herrn Baron entschuldigen.“
Edgar
schaute zum Fenster
hinaus. Das „Nein“ sagte er gleichsam zu den Bäumen gegenüber.
Seine
Sicherheit begann sie
zu befremden.
„Edgar,
was geht denn vor
mit dir? Du bist ja ganz anders als sonst? Ich kenne mich gar nicht
mehr in dir
aus. Du warst doch sonst immer ein kluges, artiges Kind, mit dem man
reden
konnte. Und auf einmal benimmst du dich so, als sei der Teufel in dich
gefahren. Was hast du denn gegen den Baron? Du hast ihn doch sehr gern
gehabt.
Er war immer so lieb gegen dich.“
„Ja,
weil er dich kennen
lernen wollte.“
Ihr
wurde unbehaglich.
„Unsinn! Was fällt dir ein. Wie kannst du so etwas denken?“
Aber
da fuhr das Kind auf.
„Ein
Lügner ist er, ein
falscher Mensch. Was er tut, ist Berechnung und Gemeinheit. Er hat dich
kennen
lernen wollen, deshalb war er freundlich zu mir und hat mir einen Hund
versprochen. Ich weiß nicht, was er dir versprochen hat und warum er zu
dir
freundlich ist, aber auch von dir will er etwas, Mama, ganz bestimmt.
Sonst
wäre er nicht so höflich und freundlich. Er ist ein schlechter Mensch.
Er lügt.
Sieh dir ihn nur einmal an, wie falsch er immer schaut. Oh, ich hasse
ihn,
diesen erbärmlichen Lügner, diesen Schurken …“
„Aber
Edgar, wie kann man
so etwas sagen.“ Sie war verwirrt und wußte nicht zu antworten. In ihr
regte
sich ein Gefühl, das dem Kind recht gab.
„Ja,
er ist ein Schurke,
das lasse ich mir nicht ausreden. Das mußt du selbst sehen. Warum hat
er denn
Angst vor mir? Warum versteckt er sich vor mir? Weil er weiß, daß ich
ihn
durchschaue, daß ich ihn kenne, diesen Schurken!“
„Wie
kann man so etwas
sagen, wie kann man so etwas sagen.“ Ihr Gehirn war ausgetrocknet, nur
die
Lippen stammelten blutlos immer wieder die beiden Sätze. Sie begann
jetzt
plötzlich eine furchtbare Angst zu haben und wußte eigentlich nicht, ob
vor dem
Baron oder vor dem Kinde.
Edgar
sah, daß seine
Mahnung Eindruck machte. Und es verlockte ihn, sie zu sich
herüberzureißen,
einen Genossen zu haben im Hasse, in der Feindschaft gegen ihn. Weich
ging er
auf seine Mutter zu, umfaßte sie, und seine Stimme wurde
schmeichlerisch vor
Erregung. „Mama,“ sagte er, „du mußt es doch selbst bemerkt haben, daß
er
nichts Gutes will. Er hat dich ganz anders gemacht. Du bist verändert
und nicht
ich. Er hat dich aufgehetzt gegen mich, nur um dich allein zu haben.
Sicher
will er dich betrügen. Ich weiß nicht, was er dir versprochen hat. Ich
weiß
nur, er wird es nicht halten. Du solltest dich hüten vor ihm. Wer einen
belügt,
belügt auch den andern. Er ist ein böser Mensch, dem man nicht trauen
soll.“
Diese
Stimme, weich und
fast in Tränen, klang wie aus ihrem eigenen Herzen. In ihr war seit
gestern ein
Mißbehagen erwacht, das ihr dasselbe sagte: eindringlicher und
eindringlicher.
Aber sie schämte sich, dem eigenen Kinde recht zu geben. Und rettete
sich, wie
viele, aus der Verlegenheit eines überwältigenden Gefühls in die
Rauheit des
Ausdrucks. Sie reckte sich auf.
„Kinder
verstehen so etwas
nicht. Du hast in solche Sachen nicht dreinzureden. Du hast dich
anständig zu
benehmen. Das ist alles.“
Edgars
Gesicht fror wieder
kalt ein. „Wie du meinst,“ sagte er hart, „ich habe dich gewarnt.“
„Also
du willst dich nicht
entschuldigen?“
„Nein.“
Sie
standen sich schroff
gegenüber. Sie fühlte, es ging um ihre Autorität.
„Dann
wirst du hier oben
speisen. Allein. Und nicht eher an unseren Tisch kommen, bis du dich
entschuldigt hast. Ich werde dich noch Manieren lehren. Du wirst dich
nicht vom
Zimmer rühren, bis ich es dir erlaube. Hast du verstanden?“
Edgar
lächelte. Dieses
tückische Lächeln schien schon mit seinen Lippen verwachsen zu sein.
Innerlich
war er zornig gegen sich selbst. Wie töricht von ihm, daß er wieder
einmal sein
Herz hat entlaufen lassen und sie, die Lügnerin, noch warnen wollte.
Die
Mutter rauschte hinaus,
ohne ihn noch einmal anzusehen. Sie fürchtete diese schneidenden Augen.
Das
Kind war ihr unbehaglich geworden, seit sie fühlte, daß es seine Augen
offen
hatte und ihr gerade das sagte, was sie nicht wissen und nicht hören
wollte.
Schreckhaft war es ihr, eine innere Stimme, ihr Gewissen, abgelöst von
sich
selber, als Kind verkleidet, als ihr eigenes Kind herumgehen und sie
warnen,
sie verhöhnen zu sehn. Bisher war dieses Kind neben ihrem Leben
gewesen, ein
Schmuck, ein Spielzeug, irgendein Liebes und Vertrautes, manchmal
vielleicht
eine Last, aber immer etwas, das in derselben Strömung im gleichen Takt
ihres
Lebens lief. Zum erstenmal bäumte das sich heute auf und trotzte gegen
ihren
Willen. Etwas wie Haß mischte sich jetzt immer in die Erinnerung an ihr
Kind.
Aber
dennoch: jetzt, da sie
die Treppe, ein wenig müde, niederstieg, klang die kindische Stimme aus
ihrer eigenen
Brust. „Du solltest dich hüten vor ihm.“ – Die Mahnung ließ sich nicht
zum
Schweigen bringen. Da glänzte ihr im Vorüberschreiten ein Spiegel
entgegen,
fragend blickte sie hinein, tiefer und immer tiefer, bis sich dort die
Lippen
leise lächelnd auftaten und sich rundeten wie zu einem gefährlichen
Wort. Noch
immer klang von innen die Stimme; aber sie warf die Achseln hoch, als
schüttelte sie all diese unsichtbaren Bedenken von sich ab, gab dem
Spiegel
einen hellen Blick, raffte das Kleid und ging hinab mit der
entschlossenen
Geste eines Spielers, der sein letztes Goldstück klingend über den
Tisch rollen
läßt.
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