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04.3
Geschichten
Stefan Zweig
Brennendes
Geheimnis
Erste
Einsicht
Weiter
drunten am Weg blieb
er endlich stehen. Er mußte sich an einem Baum festhalten, so sehr
zitterten
seine Glieder in Angst und Erregung, so röchelnd brach ihm der Atem aus
der
überhetzten Brust. Hinter ihm war das Grauen vor der eigenen Tat
gerannt, nun
faßte es seine Kehle und schüttelte ihn wie im Fieber hin und her. Was
sollte
er jetzt tun? Wohin fliehen? Denn hier schon, mitten im nahen Wald,
eine
Viertelstunde nur vom Haus, wo er wohnte, befiel ihn das Gefühl der
Verlassenheit. Alles schien anders, feindlicher, gehässiger, seit er
allein und
ohne Hilfe war. Die Bäume, die gestern ihn noch brüderlich umrauscht
hatten,
ballten sich mit einem Male finster wie eine Drohung. Um wieviel aber
mußte all
dies, was noch vor ihm war, fremder und unbekannter sein? Dieses
Alleinsein
gegen die große, unbekannte Welt machte das Kind schwindelig. Nein, er
konnte
es noch nicht ertragen, noch nicht allein ertragen. Aber zu wem sollte
er
fliehen? Vor seinem Vater hatte er Angst, der war leicht erregbar,
unzugänglich
und würde ihn sofort zurückschicken. Zurück aber wollte er nicht, eher
noch in
die gefährliche Fremdheit des Unbekannten hinein; ihm war, als könnte
er nie
mehr das Gesicht seiner Mutter sehen, ohne zu denken, daß er mit der
Faust
hineingeschlagen hatte.
Da
fiel ihm seine
Großmutter ein, diese alte, gute, freundliche Frau, die ihn von
Kindheit an
verzärtelt hatte, immer sein Schutz gewesen war, wenn ihm zu Hause eine
Züchtigung, ein Unrecht drohte. Bei ihr in Baden wollte er sich
verstecken, bis
der erste Zorn vorüber war, wollte dort einen Brief an die Eltern
schreiben und
sich entschuldigen. In dieser Viertelstunde war er schon so gedemütigt,
bloß
durch den Gedanken, allein mit seinen unerfahrenen Händen in der Welt
zu
stehen, daß er seinen Stolz verwünschte, diesen dummen Stolz, den ihm
ein
fremder Mensch mit einer Lüge ins Blut gejagt hatte. Er wollte ja
nichts sein
als das Kind von vordem, gehorsam, geduldig ohne die Anmaßung, deren
lächerliche Übertriebenheit er jetzt fühlte.
Aber
wie hinkommen nach
Baden? Wie stundenweit das Land überfliegen? Hastig griff er in sein
kleines,
ledernes Portemonnaie, das er immer bei sich trug. Gott sei dank, da
blinkte es
noch, das neue, goldene Zwanzigkronenstück, das ihm zum Geburtstag
geschenkt
worden war. Nie hatte er sich entschließen können, es auszugeben. Aber
fast
täglich hatte er nachgesehen, ob es noch da sei, sich an seinem Anblick
geweidet, daran reich gefühlt und dann immer die Münze in dankbarer
Zärtlichkeit mit seinem Taschentuch blank geputzt, bis sie funkelte wie
eine
kleine Sonne. Aber – der jähe Gedanke erschreckte ihn – würde das
genügen? Er
war so oft schon in seinem Leben mit der Bahn gefahren, ohne daran auch
nur zu
denken, daß man dafür bezahlen mußte oder schon gar, wieviel das kosten
könnte,
ob eine Krone oder hundert. Zum ersten Male spürte er, daß es da
Tatsachen des
Lebens gab, an die er nie gedacht hatte, daß all die vielen Dinge, die
ihn
umringten, die er zwischen den Fingern gehabt und mit denen er gespielt
hatte,
irgendwie mit einem eigenen Wert gefüllt waren, einem besonderen
Gewicht. Er,
der sich noch vor einer Stunde allwissend dünkte, war, das spürte er
jetzt, an
tausend Geheimnissen und Fragen achtlos vorbeigegangen und schämte
sich, daß
seine arme Weisheit schon über die erste Stufe ins Leben hinein
stolperte.
Immer verzagter wurde er, immer kleiner waren seine unsicheren Schritte
bis
hinab zur Station. Wie oft hatte er geträumt von dieser Flucht,
gedacht, ins
Leben hinauszustürmen, Kaiser zu werden oder König, Soldat oder
Dichter, und
nun sah er zaghaft auf das kleine helle Haus hin, und dachte nur einzig
daran,
ob die zwanzig Kronen ausreichen würden, ihn bis zu seiner Großmutter
zu
bringen. Die Schienen glänzten weit ins Land hinaus, der Bahnhof war
leer und
verlassen. Schüchtern schlich sich Edgar an die Kasse hin und
flüsterte, damit
niemand anderer ihn hören könnte, wieviel eine Karte nach Baden koste.
Ein
verwundertes Gesicht sah hinter dem dunklen Verschlag heraus, zwei
Augen
lächelten hinter den Brillen auf das zaghafte Kind:
„Eine
ganze Karte?“
„Ja“,
stammelte Edgar. Aber
ganz ohne Stolz, mehr in Angst, es möchte zuviel kosten.
„Sechs
Kronen!“
„Bitte!“
Erleichtert
schob er das
blanke, vielgeliebte Stück hin, Geld klirrte zurück, und Edgar fühlte
sich mit
einem Male wieder unsäglich reich, nun, da er das braune Stück Pappe in
der
Hand hatte, das ihm die Freiheit verbürgte, und in seiner Tasche die
gedämpfte
Musik von Silber klang.
Der
Zug sollte in zwanzig
Minuten eintreffen, belehrte ihn der Fahrplan. Edgar drückte sich in
eine Ecke.
Ein paar Leute standen auf dem Perron, unbeschäftigt und ohne Gedanken.
Aber
dem Beunruhigten war, als sähen alle nur ihn an, als wunderten sich
alle, daß
so ein Kind schon allein fahre, als wäre ihm die Flucht und das
Verbrechen an
die Stirne geheftet. Er atmete auf, als endlich von ferne der Zug zum
ersten
Male heulte und dann heranbrauste. Der Zug, der ihn in die Welt tragen
sollte.
Beim Einsteigen erst bemerkte er, daß seine Karte für die dritte Klasse
galt.
Bisher war er nur immer erster Klasse gefahren, und wiederum fühlte er,
daß
hier etwas verändert sei, daß es Verschiedenheiten gab, die ihm
entgangen
waren. Andere Leute hatte er zu Nachbarn wie bisher. Ein paar
italienische
Arbeiter mit harten Händen und rauhen Stimmen, Spaten und Schaufel in
den
Händen, saßen gerade gegenüber und blickten mit dumpfen, trostlosen
Augen vor
sich hin. Sie mußten offenbar schwer am Weg gearbeitet haben, denn
einige von
ihnen waren müde und schliefen im ratternden Zug, an das harte und
schmutzige
Holz gelehnt, mit offenem Munde. Sie hatten gearbeitet, um Geld zu
verdienen,
dachte Edgar, konnte sich aber nicht denken, wieviel es gewesen sein
mochte; er
fühlte aber wiederum, daß Geld eine Sache war, die man nicht immer
hatte,
sondern die irgendwie erworben werden mußte. Zum erstenmal kam ihm
jetzt zum
Bewußtsein, daß er eine Atmosphäre von Wohlbehagen selbstverständlich
gewohnt
war und daß rechts und links von seinem Leben Abgründe tief ins Dunkel
hineinklafften, an die sein Blick nie gerührt hatte. Mit einem Male
bemerkte
er, daß es Berufe gab und Bestimmungen, daß rings um sein Leben
Geheimnisse
geschart waren, nah zum Greifen und doch nie beachtet. Edgar lernte
viel von
dieser einen Stunde, seit er allein stand, er begann vieles zu sehn aus
diesem
engen Abteil mit den Fenstern ins Freie. Und leise begann in seiner
dunklen
Angst etwas aufzublühen, das noch nicht Glück war, aber doch schon ein
Staunen
vor der Mannigfaltigkeit des Lebens. Er war geflüchtet aus Angst und
Feigheit,
das empfand er in jeder Sekunde, aber doch zum ersten Male hatte er
selbständig
gehandelt, etwas erlebt von dem Wirklichen, an dem er bisher
vorbeigegangen
war. Zum ersten Male war er vielleicht der Mutter und dem Vater selbst
Geheimnis geworden, wie ihm bislang die Welt. Mit anderen Blicken sah
er aus
dem Fenster. Und es war ihm, als ob er zum ersten Male alles Wirkliche
sähe,
als ob ein Schleier von den Dingen gefallen sei und sie ihm nun alles
zeigten,
das Innere ihrer Absicht, den geheimen Nerv ihrer Tätigkeit. Häuser
flogen
vorbei wie vom Wind weggerissen, und er mußte an die Menschen denken,
die
drinnen wohnten, ob sie reich seien oder arm, glücklich oder
unglücklich, ob
sie auch die Sehnsucht hatten wie er, alles zu wissen, und ob
vielleicht Kinder
dort seien, die auch nur mit den Dingen bisher gespielt hatten wie er
selbst.
Die Bahnwächter, die mit wehenden Fahnen am Weg standen, schienen ihm
zum
ersten Male nicht, wie bisher, lose Puppen und totes Spielzeug, Dinge,
hingestellt von gleichgültigem Zufall, sondern er verstand, daß das ihr
Schicksal war, ihr Kampf gegen das Leben. Immer rascher rollten die
Räder, nun
ließen die runden Serpentinen den Zug zum Tale niedersteigen, immer
sanfter
wurden die Berge, immer ferner, schon war die Ebene erreicht. Einmal
noch sah
er zurück, da waren sie schon blau und schattenhaft, weit und
unerreichbar, und
ihm war, als läge dort, wo sie langsam in dem nebligen Himmel sich
lösten,
seine eigene Kindheit.
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