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04.3
Geschichten Stefan Zweig
Die Gouvernante
aus
Vier
Geschichten aus
Kinderland
Die
Gouvernante
Die
beiden Kinder sind nun allein in ihrem Zimmer. Das
Licht ist ausgelöscht. Dunkel liegt zwischen ihnen, nur von den Betten
her
kommt ein leiser weißer Schimmer. Ganz leise atmen die beiden, man
möchte
glauben, sie schliefen.
»Du!«
sagt da eine Stimme. Es ist die Zwölfjährige,
die leise, fast ängstlich, in das Dunkel hinfragt.
»Was
ists?« antwortet vom anderen Bett die Schwester.
Ein Jahr nur ist sie älter.
»Du
bist noch wach. Das ist gut. Ich . . . ich möchte
dir gern etwas erzählen . . .«
Keine
Antwort kommt von drüben. Nur ein Rascheln im
Bett. Die Schwester hat sich aufgerichtet, erwartend blickt sie
herüber, man
kann ihre Augen funkeln sehn.
»Weißt
du . . . ich wollte dir sagen . . . Aber sag du
mir zuerst, ist dir nicht etwas aufgefallen in den letzten Tagen an
unserm Fräulein?«
Die
andere zögert und denkt nach. »Ja,« sagt sie dann,
»aber ich weiß nicht recht, was es ist. Sie ist nicht mehr so streng.
Letzthin
habe ich zwei Tage keine Aufgaben gemacht, und sie hat mir gar nichts
gesagt.
Und dann ist sie so, ich weiß nicht wie. Ich glaube, sie kümmert sich
gar nicht
mehr um uns, sie setzt sich immer abseits und spielt nicht mehr mit, so
wie
früher.«
»Ich
glaube, sie ist sehr traurig und will es nur
nicht zeigen. Sie spielt auch nie mehr Klavier.«
Das
Schweigen kommt wieder.
Da
mahnt die Ältere: »Du wolltest etwas erzählen.«
»Ja,
aber du darfst es niemandem sagen, wirklich
niemandem, der Mama nicht und nicht deiner Freundin.«
»Nein,
nein!« Sie ist schon ungeduldig. »Was ists
also!«
»Also
. . . jetzt, wie wir schlafen gegangen sind, ist
mir plötzlich eingefallen, daß ich dem Fräulein nicht ›Gute Nacht!‹
gesagt habe. Die Schuhe hab ich schon ausgezogen gehabt, aber ich bin
doch
hinüber in
ihr Zimmer, weißt du, ganz leise, um sie zu überraschen. Ganz
vorsichtig mach
ich also die Tür auf. Zuerst hab ich geglaubt, sie ist nicht im Zimmer.
Das
Licht hat gebrannt, aber ich hab sie nicht gesehn. Da plötzlich – ich
bin
furchtbar erschrocken – hör ich jemand weinen und seh auf einmal, daß
sie ganz
angezogen auf dem Bett liegt, den Kopf in den Kissen. Geschluchzt hat
sie, daß
ich zusammengefahren bin. Aber sie hat mich nicht bemerkt. Und da hab
ich die
Tür ganz leise wieder zugemacht. Einen Augenblick hab ich stehen
bleiben
müssen, so hab ich gezittert. Da kam es noch einmal ganz deutlich durch
die Tür, dieses Schluchzen, und ich bin rasch
heruntergelaufen.«
Sie
schweigen beide. Dann sagt die eine ganz leise:
»Das arme Fräulein!« Das Wort zittert hin ins Zimmer wie ein verlorener
dunkler
Ton und wird wieder still.
»Ich
möchte wissen, warum sie geweint hat«, sängt die
Jüngere an. »Sie hat doch mit niemand Zank gehabt in den letzten Tagen,
Mama
läßt sie endlich auch in Ruh mit ihren ewigen Quälereien, und wir haben
ihr
doch sicher nichts getan. Warum weint sie dann so?«
»Ich
kann es mir schon denken«, sagt die Ältere.«
»Warum,
sag mir, warum?«
Die
Schwester zögert. Endlich sagt sie: »Ich glaube,
sie ist verliebt.«
»Verliebt?«
Die Jüngere zuckt nur so auf. »Verliebt?
In wen?«
»Hast
du gar nichts bemerkt?«
»Doch
nicht in Otto?«
»Nicht?
Und er nicht in sie? Warum hat er denn, der
jetzt schon drei Jahre bei uns wohnt und studiert, uns nie begleitet
und jetzt
seit den paar Monaten auf einmal täglich? War er je nett zu mir oder zu
dir,
bevor das Fräulein zu uns kam? Den ganzen Tag ist er jetzt um uns herum
gewesen. Immer haben wir
ihn zufällig getroffen,
zufällig, im Volksgarten oder Stadtpark oder Prater, wo immer wir mit
dem
Fräulein waren. Ist dir denn das nie aufgefallen?«
Ganz
erschreckt stammelt die Kleine:
»Ja
.
. . ja, natürlich hab ichs bemerkt. Ich hab nur
immer gedacht, es ist . . .«
Die
Stimme schlägt ihr um. Sie spricht nicht weiter.
»Ich
hab es auch zuerst geglaubt, wir Mädchen sind ja
immer so dumm. Aber ich habe noch rechtzeitig bemerkt, daß er uns nur
als
Vorwand nimmt.«
Jetzt
schweigen beide. Das Gespräch scheint zu Ende.
Beide
sind in Gedanken oder schon in Träumen.
Da
sagt noch einmal die Kleine ganz hilflos aus dem
Dunkel: »Aber warum weint sie dann wieder? Er hat sie doch gern. Und
ich hab
mir immer gedacht, es muß so schön sein, wenn man verliebt ist.«
»Ich
weiß nicht,« sagt die Ältere ganz träumerisch,
»ich habe auch geglaubt, es muß sehr schön sein.«
Und
einmal noch, leise und bedauernd, von schon
schlafmüden Lippen weht es herüber: »Das arme Fräulein!«
Und
dann wird es still im Zimmer.
Am
nächsten Morgen reden
sie nicht wieder davon, und doch, eine spürt es von der andern, daß
ihre
Gedanken das gleiche umkreisen. Sie gehen aneinander vorbei, weichen
sich aus,
aber doch begegnen sich unwillkürlich ihre Blicke, wenn sie beide von
der Seite
die Gouvernante betrachten. Bei Tisch beobachten sie Otto, den Cousin,
der seit
Jahren im Hause lebt, wie einen Fremden. Sie reden nicht mit ihm, aber
unter
den gesenkten Lidern schielen sie immer hin, ob er sich mit ihrem
Fräulein
verständige. Eine Unruhe ist in beiden. Sie spielen heute nicht,
sondern tun in
ihrer Nervosität, hinter das Geheimnis zu kommen, unnütze und
gleichgültige
Dinge. Abends fragt nur die eine, kühl, als ob es ihr gleichgültig sei:
»Hast
du wieder etwas bemerkt?« – »Nein«, sagt die Schwester und wendet sich
ab.
Beide haben irgendwie Angst vor einem Gespräch. Und so geht es ein paar
Tage
weiter, dieses stumme Beobachten und im Kreise Herumspüren der beiden
Kinder, die
unruhig und unbewußt sich einem funkelnden Geheimnis nahe fühlen.
Endlich,
nach ein paar Tagen, merkt die eine, wie bei
Tisch die Gouvernante Otto leise mit den Augen zuwinkt. Er nickt mit
dem Kopf
Antwort. Das Kind zittert vor Erregung. Unter dem Tisch tastet sie
leise an die
Hand der älteren Schwester. Wie die sich ihr
zuwendet,
funkelt sie ihr mit den Augen entgegen. Die versteht sofort die Geste
und wird
auch unruhig.
Kaum
daß sie aufstehn von der Mahlzeit, sagt die
Gouvernante zu den Mädchen: »Geht in euer Zimmer und beschäftigt euch
ein
bißchen. Ich habe Kopfschmerzen und will für eine halbe Stunde
ausruhen.«
Die
Kinder sehen nieder. Vorsichtig rühren sie sich an
mit den Händen, wie um sich gegenseitig aufmerksam zu machen. Und kaum
ist die
Gouvernante fort, so springt die Kleinere auf die Schwester zu:
»Paß
auf, jetzt geht Otto in ihr Zimmer.«
»Natürlich!
Darum hat sie uns doch hineingeschickt!«
»Wir
müssen vor der Tür horchen!«
»Aber
wenn jemand kommt?«
»Wer
denn?«
»Mama.«
Die
Kleine erschrickt. »Ja dann . . .«
»Weißt
du was? Ich horche an der Tür, und du bleibst
draußen im Gang und gibst mir ein Zeichen, wenn jemand kommt. So sind
wir
sicher.«
Die
Kleine macht ein verdrossenes Gesicht. »Aber du
erzählst mir dann nichts!«
»Alles!«
»Wirklich
alles . . . aber alles!«
»Ja,
mein Wort darauf. Und du hustest, wenn du
jemanden kommen hörst.«
Sie
warten im Gang, zitternd, aufgeregt. Ihr Blut
pocht wild. Was wird kommen? Eng drücken sie sich aneinander.
Ein
Schritt. Sie stieben fort. In das Dunkel hinein.
Richtig: es ist Otto. Erfaßt die Klinke, die Tür schließt sich. Wie ein
Pfeil
schießt die Ältere nach und drückt sich an die Tür, ohne Atemholen
horchend.
Die Jüngere sieht sehnsüchtig hin. Die Neugierde verbrennt sie, es
reißt sie
vom angewiesenen Platz. Sie schleicht heran, aber die Schwester stößt
sie
zornig weg. So wartet sie wieder draußen, zwei, drei Minuten, die ihr
eine
Ewigkeit scheinen. Sie fiebert vor Ungeduld, wie auf glühendem Boden
zappelt sie
hin und her. Fast ist ihr das Weinen nah vor Erregung und Zorn, daß die
Schwester alles hört und sie nichts. Da fällt drüben, im dritten
Zimmer, eine
Tür zu. Sie hustet. Und beide stürzen sie weg, hinein in ihren Raum.
Dort
stehen sie einen Augenblick atemlos, mit pochenden Herzen.
Dann
drängt die Jüngere gierig: »Also . . . erzähle
mir.«
Die
Ältere macht ein nachdenkliches Gesicht. Endlich
sagt sie, ganz versonnen, wie zu sich selbst: »Ich verstehe es nicht!«
»Was?«
»Es
ist so merkwürdig.«
»Was
. . . was . . .?« Die Jüngere keucht die Worte
nur so heraus. Nun versucht die Schwester sich zu besinnen. Die Kleine
hat sich
an sie gepreßt, ganz nah, damit ihr kein Wort entgehen könne.
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