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04.3
Geschichten Stefan Zweig
Die Gouvernante
aus
Vier
Geschichten aus Kinderland
Die
Gouvernante
»Es
war ganz merkwürdig . . . so ganz anders, als ich
mir es dachte. Ich glaube, wie er ins Zimmer kam, hat er sie umarmen
wollen
oder küssen, denn sie hat zu ihm gesagt: ›Laß das, ich hab mit dir
Ernstes zu
bereden.‹ Sehen habe ich nichts können, der Schlüssel hat von innen
gesteckt,
aber ganz genau gehört habe ich. ›Was ist denn los?‹ hat der Otto
darauf
gesagt, doch ich hab ihn nie so reden hören. Du weißt doch, er redet
sonst gern
so frech und laut, das hat er aber so zaghaft gesagt, daß ich gleich
gespürt
habe, er hat irgendwie Angst. Und auch sie muß gemerkt haben, daß er
lügt, denn
sie hat nur ganz leise gesagt: ›Du weißt es ja schon.‹ – ›Nein, ich
weiß gar
nichts.‹ – ›So,‹ hat sie da gesagt – und so traurig, so furchtbar
traurig –
›und warum ziehst du dich denn auf einmal von mir zurück? Seit acht
Tagen hast
du kein Wort mit mir geredet, du weichst mir aus, wo du kannst, mit den
Kindern
gehst du nicht mehr, kommst nicht mehr in den Park. Bin ich dir auf
einmal so
fremd? O, du weißt schon, warum
du dich auf einmal
fernhältst.‹ Er hat geschwiegen und dann gesagt: ›Ich steh jetzt vor
der
Prüfung, ich habe viel zu arbeiten und für nichts anderes mehr Zeit. Es
geht
jetzt nicht anders.‹ Da hat sie zu weinen angefangen und hat ihm dann
gesagt,
unter Tränen, aber so mild und gut: ›Otto, warum lügst du denn? Sag
doch die
Wahrheit, das habe ich wirklich nicht verdient um dich. Ich habe ja
nichts
verlangt, aber geredet muß doch darüber werden zwischen uns zweien. Du
weißt es
ja, was ich dir zu sagen habe, an den Augen seh ich dirs an.‹ – ›Was
denn?‹ hat
er gestammelt, aber ganz, ganz schwach. Und da sagte sie . . .«
Das
Mädchen fängt plötzlich zu zittern an und kann
nicht weiterreden vor Erregung. Die Jüngere preßt sich enger an sie.
»Was . . .
was denn?«
»Da
sagte sie: ›Ich hab doch ein Kind von dir!‹«
Wie
ein Blitz fährt die Kleine auf: »Ein Kind! Ein
Kind! Das ist doch unmöglich!«
»Aber
sie hat es gesagt.«
»Du
mußt schlecht gehört haben.«
»Nein,
nein! Und er hat es wiederholt; genau so wie du
ist er aufgefahren und hat gerufen: ›Ein Kind!‹ Sie hat lange
geschwiegen und
dann gesagt: ›Was soll jetzt geschehn?‹ Und dann . . .«
»Und
dann?«
»Dann
hast du gehustet, und ich hab weglaufen müssen.«
Die
Jüngere starrt ganz verstört vor sich hin. »Ein
Kind! Das ist doch unmöglich. Wo soll sie denn das Kind haben?«
»Ich
weiß nicht. Das ist es ja, was ich nicht verstehe.«
»Vielleicht
zu Hause wo . . . bevor sie zu uns herkam.
Mama hat ihr natürlich nicht erlaubt, es mitzubringen wegen uns. Darum
ist sie
auch so traurig.«
»Aber
geh, damals hat sie doch Otto noch gar nicht
gekannt!«
Sie
schweigen wieder, ratlos, unschlüssig
herumgrübelnd. Der Gedanke peinigt sie. Und wieder fängt die Kleinere
an: »Ein
Kind, das ist ganz unmöglich! Wieso kann sie ein Kind haben? Sie ist
doch nicht
verheiratet, und nur verheiratete Leute haben Kinder, das weiß ich.«
»Vielleicht
war sie verheiratet.«
»Aber
sei doch nicht so dumm. Doch nicht mit Otto.«
»Aber
wieso ...?«
Ratlos
starren sie sich an.
»Das
arme Fräulein«, sagt die eine ganz traurig. Es
kommt immer wieder dieses Wort, ausklingend in
einen
Seufzer des Mitleids. Und immer wieder flackert die Neugier dazwischen.
»Ob
es ein Mädchen ist oder ein Bub?«
»Wer
kann das wissen.«
»Was
glaubst du . . . wenn ich sie einmal fragen würde
. . . ganz, ganz vorsichtig . . .«
»Du
bist verrückt!«
»Warum
. . . sie ist doch so gut zu uns.«
»Aber
was fällt dir ein! Uns sagt man doch solche
Sachen nicht. Uns verschweigt man alles. Wenn wir ins Zimmer kommen,
hören sie
immer auf zu sprechen und reden dummes Zeug mit uns, als ob wir Kinder
wären,
und ich bin doch schon dreizehn Jahre. Wozu willst du sie fragen, uns
sagt man
ja doch nur Lügen.«
»Aber
ich hätte es so gern gewußt.«
»Glaubst
du, ich nicht?«
»Weißt
du . . . was ich eigentlich am wenigsten
verstehe, ist, daß Otto nichts davon gewußt haben soll. Man weiß doch,
daß man
ein Kind hat, so wie man weiß, daß man Eltern hat.«
»Er
hat sich nur so gestellt, der Schuft. Er verstellt
sich immer.«
»Aber
bei so etwas doch nicht. Nur . . . nur . . .
wenn er uns etwas vormachen will . . .«
Da
kommt das Fräulein herein. Sie sind sofort still
und scheinen zu arbeiten. Von der Seite schielen sie hin
zu ihr. Ihre Augen scheinen gerötet, ihre Stimme etwas tiefer und
vibrierender
als sonst. Die Kinder sind ganz still, mit einer ehrfürchtigen Scheu
sehen sie
plötzlich zu ihr auf. »Sie hat ein Kind,« müssen sie immer wieder
denken, »darum
ist sie so traurig.« Und langsam werden sie es selbst.
Am
nächsten Tag, bei Tisch, erwartet sie eine jähe
Nachricht. Otto verläßt das Haus. Er hat dem Onkel erklärt, er stände
jetzt
knapp vor den Prüfungen, müsse intensiv arbeiten, und hier sei er zu
sehr
gestört. Er würde sich irgendwo ein Zimmer nehmen für diese ein, zwei
Monate,
bis alles vorüber sei.
Die
beiden Kinder sind furchtbar erregt, wie sie es
hören. Sie ahnen irgendeinen geheimen Zusammenhang mit dem Gespräch von
gestern, spüren mit ihrem geschärften Instinkt eine Feigheit, eine
Flucht. Wie
Otto ihnen Adieu sagen will, sind sie grob und wenden ihm den Rücken.
Aber sie
schielen hin, wie er jetzt vor dem Fräulein steht. Der zuckt es um die
Lippen,
aber sie reicht ihm ruhig, ohne ein Wort, die Hand.
Ganz
anders sind die Kinder geworden in diesen paar
Tagen. Sie haben ihre Spiele verloren und ihr Lachen, die
Augen sind ohne den munteren, unbesorgten Schein. Eine Unruhe und
Ungewißheit
ist in ihnen, ein wildes Mißtrauen gegen alle Menschen um sie herum.
Sie
glauben nicht mehr, was man ihnen sagt, wittern Lüge und Absicht hinter
jedem
Wort. Sie blicken und spähen den ganzen Tag, jede Bewegung belauern
sie, jedes
Zucken, jede Betonung fangen sie auf. Wie Schatten geistern sie hinter
allem her,
vor den Türen horchen sie, um etwas zu erhaschen, eine
leidenschaftliche
Bemühung ist in ihnen, das dunkle Netz dieser Geheimnisse abzuschütteln
von
ihren unwilligen Schultern oder durch eine Masche in die Welt der
Wirklichkeit
wenigstens einen Blick zu tun. Der kindische Glaube, diese heitere,
unbesorgte
Blindheit, ist von ihnen abgefallen. Und dann: sie ahnen aus der
Schwüle der
Geschehnisse irgendeine neue Entladung und haben Angst, sie könnten sie
versäumen. Seit sie wissen, daß Lüge um sie ist, sind sie zäh und
lauernd
geworden, selbst verschlagen und verlogen. Sie ducken sich in der Nähe
der
Eltern in eine nun geheuchelte Kinderhaftigkeit hinein und flackern
dann aus in
eine jähe Beweglichkeit. Ihr ganzes Wesen ist aufgelöst in eine nervöse
Unruhe,
ihre Augen, die früher einen seichten Glanz sanft trugen, scheinen
funkelnder
und tiefer.
So hilflos sind sie in ihrem steten Spähen
und Spionieren, daß sie gegenseitig inniger werden in ihrer Liebe.
Manchmal
umarmen sie einander plötzlich stürmisch aus dem Gefühl ihrer
Unwissenheit, nur
dem jäh aufquellenden Zärtlichkeitsbedürfnis überschwänglich
nachgebend, oder
sie brechen in Tränen aus. Anscheinend ohne Ursache ist ihr Leben mit
einem
Male eine Krise geworden.
Unter
den vielen Kränkungen, für die ihnen erst jetzt
das Gefühl erweckt worden ist, spüren sie eine am meisten. Ganz still,
ohne
Wort haben sie sich verpflichtet, dem Fräulein, das so traurig ist,
möglichst
viel Freude zu bereiten. Sie machen ihre Aufgaben fleißig und sorgsam,
helfen sich
beide aus, sie sind still, geben kein Wort zur Klage, springen jedem
Wunsch
voraus. Aber das Fräulein merkt es gar nicht, und das tut ihnen so weh.
Ganz
anders ist sie geworden in letzter Zeit. Manchmal, wenn eines der
Mädchen sie
anspricht, zuckt sie zusammen, wie aus dem Schlaf geschreckt. Und ihr
Blick
kommt dann immer erst suchend aus einer weiten Ferne zurück.
Stundenlang sitzt
sie oft da und schaut träumerisch vor sich hin. Dann schleichen die
Mädchen auf
den Zehen herum, um sie nicht zu stören, sie spüren dumpf und
geheimnisvoll:
jetzt denkt sie an ihr Kind, das irgendwo in der Ferne ist. Und immer
mehr, aus
den Tiefen ihrer
nun erwachenden Weiblichkeit, lieben
sie das Fräulein, das jetzt so milde geworden ist und so sanft. Ihr
sonst
frischer und übermütiger Gang ist nun bedächtiger, ihre Bewegungen
vorsichtiger, und die Kinder ahnen in alldem eine geheime Traurigkeit.
Weinen
haben sie sie nie gesehen, aber ihre Lider sind oft gerötet. Sie
merken, daß
das Fräulein den Schmerz vor ihnen geheimhalten will, und sind
verzweifelt, ihr
nicht helfen zu können.
Und
einmal, wie sich das Fräulein zum Fenster hin
abgewandt hat und mit dem Taschentuch über die Augen fährt, faßt die
Kleinere
plötzlich Mut, ergreift leise ihre Hand und sagt: »Fräulein, Sie sind
so traurig
die letzte Zeit. Nicht wahr, wir sind doch nicht schuld daran?«
Das
Fräulein sieht sie bewegt an und streift ihr mit
der Hand über das weiche Haar. »Nein, Kind, nein«, sagt sie. »Ihr gewiß
nicht.«
Und küßt sie sanft aus die Stirn.
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