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04.3
Geschichten Stefan Zweig
Die Gouvernante
aus
Vier
Geschichten aus Kinderland
Die
Gouvernante
Ganz
zeitig stehen sie dann auf. Wie sie, die schönen
vollen Rosen in der leicht zitternden Hand, an die Tür des Fräuleins
pochen,
antwortet ihnen niemand. Sie glauben das Fräulein schlafend und
schleichen
vorsichtig hinein. Aber das Zimmer ist leer, das Bett unberührt. Alles
liegt in
Unordnung herum verstreut, auf der dunklen Tischdecke schimmern ein
paar
Briefe.
Die
beiden Kinder erschrecken. Was ist geschehen?
»Ich
gehe hinein zu Mama«, sagt die Ältere
entschlossen. Und trotzig, mit finsteren Augen, ganz ohne Angst pflanzt
sie
sich vor ihrer Mutter auf und fragt: »Wo ist unser Fräulein?«
»Sie
wird in ihrem Zimmer sein«, sagt die Mutter ganz
erstaunt.
»Ihr
Zimmer ist leer, das Bett ist unberührt. Sie muß
schon gestern abend weggegangen sein. Warum hat man uns nichts davon
gesagt?«
Die
Mutter merkt gar nicht den bösen, herausfordernden
Ton. Sie ist blaß geworden und geht hinein zum Vater, der dann rasch im
Zimmer des
Fräuleins verschwindet.
Er
bleibt lange aus. Das Kind beobachtet die Mutter,
die sehr erregt scheint, mit einem steten zornigen Blick, dem ihre
Augen nicht
recht zu begegnen wagen.
Da
kommt der Vater zurück. Er ist ganz fahl im Gesicht
und trägt einen Brief in der Hand. Er geht mit der Mutter hinein ins
Zimmer und
spricht drinnen mit ihr leise. Die Kinder stehen draußen und wagen auf
einmal
nicht mehr zu horchen. Sie haben Angst vor dem Zorn des Vaters, der
jetzt
aussah, wie sie ihn nie gekannt hatten.
Ihre
Mutter, die jetzt aus dem Zimmer tritt, hat
verweinte Augen und blickt verstört. Die Kinder kommen
ihr, unbewußt, wie von ihrer Angst gestoßen, entgegen und wollen sie
wieder
fragen. Aber sie sagt hart: »Geht jetzt in die Schule, es ist schon
spät.«
Und
die Kinder müssen gehen. Wie im Traum sitzen sie
dort vier, fünf Stunden unter all den anderen und hören kein Wort. Wild
stürmen
sie nach Hause zurück.
Dort
ist alles wie immer, nur ein furchtbarer Gedanke
scheint die Menschen zu erfüllen. Keiner spricht, aber alle, selbst die
Dienstboten, haben so eigene Blicke. Die Mutter kommt den Kindern
entgegen. Sie
scheint sich vorbereitet zu haben, ihnen etwas zu sagen. Sie beginnt:
»Kinder,
euer Fräulein kommt nicht mehr, sie ist . . .«
Aber
sie wagt nicht zu Ende zu sprechen. So funkelnd,
so drohend, so gefährlich sind die Augen der beiden Kinder in die ihren
gebohrt, daß sie nicht wagt, ihnen eine Lüge zu sagen. Sie wendet sich
um und
geht weiter, flüchtet in ihr Zimmer hinein.
Nachmittags
taucht plötzlich Otto auf. Man hat ihn
hergerufen, ein Brief für ihn war da. Auch er ist bleich. Verstört
steht er
herum. Niemand redet mit ihm. Alle weichen ihm aus. Da sieht er die
beiden
Kinder in der Ecke kauern und will sie begrüßen.
»Rühr
mich nicht an!« sagt die eine, schauernd
vor Ekel.
Und die andere spuckt vor ihm aus. Er irrt
noch verlegen, verwirrt eine Zeitlang herum. Dann verschwindet er.
Keiner
spricht mit den Kindern. Sie selbst wechseln
kein Wort. Blaß und verstört, rastlos, wie Tiere in einem Käfig,
wandern sie in
den Zimmern herum, begegnen sich immer wieder, sehen sich in die
verweinten
Augen und sagen kein Wort. Sie wissen jetzt alles. Sie wissen, daß man
sie
belogen hat, daß alle Menschen schlecht und niederträchtig sein können.
Sie
lieben ihre Eltern nicht mehr, sie glauben nicht mehr an sie. Zu
keinem, wissen
sie, werden sie Vertrauen haben dürfen, nun wird sich auf ihre schmalen
Schultern die ganze Last des ungeheuren Lebens türmen. Wie in einen
Abgrund
sind sie aus der heiteren Behaglichkeit ihrer Kindheit gestürzt. Noch
können
sie das Furchtbare, das um sie geschehen ist, nicht fassen, aber ihr
Denken
würgt daran und droht sie damit zu ersticken. Fiebrige Glut liegt auf
ihren
Wangen, und sie haben einen bösen, gereizten Blick. Wie frierend in
ihrer Einsamkeit
irren sie auf und ab. Keiner, nicht einmal die Eltern, wagt mit ihnen
zu
sprechen, so furchtbar sehen sie jeden an, ihr unablässiges
Herumwandern
spiegelt die Erregung, die in ihnen wühlt. Und eine schreckhafte
Gemeinsamkeit
ist in den beiden, ohne daß sie zusammen
sprechen. Das
Schweigen, das undurchdringliche, fraglose Schweigen, der tückische
verschlossene Schmerz ohne Schrei und ohne Träne macht sie allen fremd
und
gefährlich. Niemand kommt ihnen nahe, der Zugang zu ihren Seelen ist
abgebrochen, vielleicht auf Jahre hinaus. Feinde sind sie, fühlen alle
um sie,
und entschlossene Feinde, die nicht mehr verzeihen können. Denn seit
gestern
sind sie keine Kinder mehr.
An
diesem Nachmittag werden sie älter um viele Jahre.
Und erst, wie sie dann abends im Dunkel ihres Zimmers allein sind,
erwacht in
ihnen die Kinderangst, die Angst vor der Einsamkeit, vor den Bildern
der Toten
und dann eine ahnungsvolle Angst vor unbestimmten Dingen. In der
allgemeinen
Erregung des Hauses hat man das Zimmer zu heizen vergessen. So kriechen
sie
fröstelnd zusammen in ein Bett, umschlingen sich fest mit den mageren
Kinderarmen und pressen die schmalen, noch nicht ausgeblühten Körper
eine an
die andere, wie um Hilfe zu suchen vor ihrer Angst.
Noch
immer wagen sie nicht mitsammen zu sprechen. Aber
jetzt bricht die Jüngere endlich in Tränen aus, und die Ältere
schluchzt wild
mit. Eng umschlungen weinen sie, baden sich das Gesicht mit den warmen,
zaghaft
und dann rascher niederrollenden Tränen, fangen, Brust an
Brust, die eine der anderen schluchzenden Stoß auf und geben ihn
schauernd
zurück. Ein einziger Schmerz sind die beiden, ein einziger weinender
Körper im
Dunkel. Es ist nicht mehr das Fräulein, um das sie weinen, nicht die
Eltern,
die nun für sie verloren sind, sondern ein jähes Grauen schüttelt sie,
eine
Angst vor alledem, was nun kommen wird aus dieser unbekannten Welt, in
die sie
heute den ersten erschreckten Blick getan haben. Angst haben sie vor
dem Leben,
in das sie nun aufwachsen, vor dem Leben, das dunkel und drohend vor
ihnen
steht, wie ein finsterer Wald, den sie durchschreiten müssen. Immer
dämmerhafter wird ihr wirres Angstgefühl, traumhaft fast, immer leiser
ihr
Schluchzen. Ihre Atemzüge fließen nun sanft ineinander, wie vordem ihre
Tränen.
Und so schlafen sie endlich ein.
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