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04.3
Geschichten
Stefan Zweig
Schachnovelle
Schachnovelle
Auf
dem grossen
Passagierdampfer, der mitternachts von New York nach Buenos Aires
abgehen
sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten
Stunde. Gäste vom
Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben,
Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen die Namen ausrufend durch
die
Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen
neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich
zur deck-show
spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von
diesem Getümmel
auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht
scharf
aufsprühte — anscheinend war irgend ein
Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt
und photographiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. “Sie
haben da einen raren
Vogel an Bord, den Czentovic.” Und da ich offenbar ein ziemlich
verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er
erklärend bei:
“Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost
nach West
mit Turnierspielen gekappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach
Argentinien”.
In der
Tat erinnerte ich
mich nun des Namens dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger
Einzelheiten im
Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere; mein Freund, ein
aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe
von
Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem
Schlag über die
bewährten Altmeister der Schachkunst wie Aljechin, Capabianca,
Tartakower, Lasker,
Boguljubow gestellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes
Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der
Einbruch eines
völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen
erregt.
Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs
eine solche
blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das
Geheimnis
durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben ausserstande
war, in
irgend einer Sprache einen Satz ohne ortographischen Fehler zu
schreiben und,
wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, war “seine
Unbildung
auf allen Gebieten gleich universell”. Sohn eines blutarmen
südslavischen
Donauschiffers, dessen winzige Barke eines nachts von einem
Getreidedampfer überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem
Tode
seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen
worden, und
der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe
wettzumachen, was
das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu
erlernen vermochte.
Aber
alle Anstrengungen
blieben vergeblich. Mirko starrte die schon hundertmal ihm erklärten
Schriftzeichen
immer wieder fremd an; auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände
fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede festhaltende Kraft.
Wenn er rechnen
sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren jedesmal die Finger zu Hilfe
nehmen,
und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen, bedeutete für den schon
halbwüchsigen Jungen
noch eine besondere Anstrengung.
Dabei
konnte man Mirko
keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen. Er tat gehorsam,was man
ihm gebot,
holte Wasser, spaltete Holz, arbeitete mit auf dem Felde, räumte die
Küche auf und erledigte verlässlich, wenn auch mit verärgernder
Langsamkeit,
jeden geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem
querköpfigen Knaben
am meisten verdross, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts
ohne
besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit
anderen
Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man
sie nicht ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des
Haushalts erledigt
hatte, sass er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie
ihn Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn
den
geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange
Bauernpfeife
schmauchend, mit dem Gendarmeriewachtmeister seine üblichen drei
Schachpartien
spielte, hockte der blondsträhnige dumpfe Bursche stumm daneben und
starrte
unter seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf
das
karrierte Brett.
Eines
Winterabends
klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche Partie vertieft
waren,
von der Dorfstrasse her die Glöckchen eines Schlittens rasch und immer
rascher
heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt, stapfte hastig
herein, seine
alte Mutter läge im Sterben und der Pfarrer möge eilen, ihr noch
rechtzeitig
die letzte Oelung zu erteilen. Ohne zu zögern, folgte ihm der Priester.
Der
Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht ausgetrunken
hatte,
zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete sich eben
vor, die
schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der
Blick
Mirkos auf dem Schachbrett mit
der angefangenen Partie haftete.
“Na,
willst du sie zuende
spielen?”, spasste er, vollkommen überzeugt, dass der schläfrige Junge
nicht
einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu rücken verstünde. Der
Knabe
starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den Platz des
Pfarrers. Nach
vierzehn Zügen war der Gendarmeriewachtmeister geschlagen und musste
zudem
eingestehen, dass keineswegs ein versehentlich nachlässiger Zug seine
Niederlage verschuldet habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.
“Bileams
Esel”, rief
erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem weniger bibelfesten
Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hätte
sich ein ähnliches
Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die Sprache der
Weisheit
gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde konnte der gute Pater sich
nicht
enthalten, seinen halb analphabetischen Famulus zu einem Zweikampf
herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte
zäh, langsam,
unerschütterlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom
Brette
aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der
Gendarmeriewachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen
imstande,
eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend
jemand
befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen,
wurde nun
ernstlich neugierig, wie weit diese einseitige sonderbare Begabung
einer
strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem
Dorfbarbier die struppigen
strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn einigermassen
präsentabel zu
machen, nahm er ihn in seinem Schlitten in die kleine Nachbarstadt, wo
er im
Kaffee des Hauptplatzes eine Ecke mit engagierten Schachspielern
wusste, denen
er selbst erfahrungsgemäss nicht gewachsen war. Es erregte bei der
ansässigen
Runde nicht geringes Staunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen
strohblonden
und rotbäckigen Burschen in seinem nach innen getragenen Schafpelz und
schweren
hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet
mit scheu niedergeschlagenen
Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem der Schachtische
hinrief.
In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte
sizilianische
Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der zweiten
Partie kam er
schon gegen den besten Spieler
auf remis. Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen
nach dem
anderen.
Nun
ereignen sich in
einer kleinen südslavischen Provinzstadt höchst selten aufregende
Dinge; so
wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für die
versammelten
Honoratioren unverzüglich zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen,
der
Wunderknabe müsse unbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt
bleiben,
damit man die anderen Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor
allem
den alten Grafen Simczic, einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem
Schlosse
verständigen könne. Der Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf
seinen
Pflegling blickte, aber über seiner Entdeckerfreude doch seinen
pflichtgemässen
Sonntagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich bereit,
Mirko für eine weitere Probe zurückzulassen.
Der
junge Czentovic wurde
auf Kosten der Schachecke im Hotel einquartiert und sah an diesem
Abend zum erstenmal ein Wasserklosett. Am
folgenden Sonntagnachmittag war der Schachraum überfüllt. Mirko,
unbeweglich
vier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen
oder
nur aufzuschauen, einen
Spieler nach dem anderen; schliesslich wurde eine Simultanpartie
vorgeschlagen.
Es dauerte eine Weile, ehe man dem Unbelehrten begreiflich machen
konnte, dass
bei einer Simultanpartie er allein gleichzeitig gegen die verschiedenen
Spieler
zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus begriffen, fand er sich
rasch
in die Aufgabe, ging mit seinen schweren, knarrenden Schuhen langsam
von Tisch
zu Tisch und gewann schliesslich sieben von den acht Partien.
Nun begannen grosse
Beratungen. Obwohl dieser neue Champion im strengeren Sinne nicht zur
Stadt
gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet.
Vielleicht
konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhandensein kaum jemand bisher
wahrgenommen, zum ersten Mal sich die Ehre erwerben, einen berühmten
Mann in
die Welt zu schicken. Ein Agent namens Koller, sonst nur Chansonetten
und
Sängerinnen für das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sich
bereit, sofern
man den Zuschuss für ein Jahr leiste, den jungen Menschen in Wien von
einem
bekannten ausgezeichneten kleinen Meister fachmässig in der Schachkunst
ausbilden
zu lassen. Graf Simoczic, dem in sechzig Jahren täglichen
Schachspiels nie ein so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war,
zeichnete
sofort den Betrag. Mit diesen Tage begann die erstaunliche Karriere des
Schiffersohnes.
Nach
einem halben Jahr
beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der Schachkunst, allerdings mit
einer
seltsamen Einschränkung, die später in den Fachkreisen viel beobachtet
und bespöttelt
wurde. Denn Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige
Schachpartie auswendig
— oder wie man fachgemäss sagt: blind — zu spielen. Ihm fehlte
vollkommen die
Fähigkeit, das Schachfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu
stellen. Er
musste immer das schwarz-weisse Karree mit den vierundsechzig Feldern
und
zweiunddreissig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit
seines
Weltruhms führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit
sich, um,
wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein
Problem für sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu
führen.
Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an
imaginärer Kraft
und wurde in dem engeren Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn
unter Musikern
ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte,
ohne
aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diese
merkwürdige Eigenheit
verzögerte keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg. Mit siebzehn Jahren
hatte er
schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die
ungarische
Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft erobert. Die
verwegensten Champions, jeder einzelne an intellektueller Begabung, an
Phantasie
und Kühnheit ihm unermesslich überlegen, erlagen ebenso seiner
zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie
Hanibal dem
Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, dass er gleichfalls in
seiner
Jugend derart auffällige Züge von Phlegma und Imbezilität gezeigt habe.
So geschah
es, dass in die illustre Galerie der Schachmeister, die in ihren Reihen
die
verschiedensten Typen intellektueller Ueberlegenheit vereinigt,
Philosophen,
Mathematiker, kalkulierende, imaginierende und oft schöpferische
Naturen, zum
ersten Mal ein völliger Outsider der geistigen Welt einbrach, ein
schwerer,
maulfauler Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges publizistisch
brauchbares Wort herauszulocken selbst den gerissensten Journalisten
nie
gelang. Freilich, was Czentovic den Zeitungen an geschliffenen
Sentenzen
vorenthielt, ersetzte er bald reichlich durch Anekdoten über seine
Person. Denn
rettungslos wurde mit der Sekunde, da er vom Schachbrette aufstand, wo
er
Meister ohnegleichen war, Czentovic zu einer grotesken und beinahe
komischen
Figur; trotz seines feierlichen
schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit der etwas
aufdringlichen
Perlennadel und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in seinem
Gehaben und
seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube
des Pfarrers
gefegt. Ungeschickt und geradezu schamlos plump suchte er zum
Gaudium und zum Aerger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung und
seinem Ruhm mit
einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier herauszuholen, was an
Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt, immer in den
billigsten
Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofern man ihm
sein
Honorar bewilligte, er liess sich abbilden auf Seifenreklamen und
verkaufte
sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten zu achten, die genau
wussten, dass er nicht
imstande war, drei Sätze richtig zu schreiben, seinen Namen für eine
“Philosophie des Schachs”, die in Wirklichkeit ein kleiner galizischer
Student
für den geschäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähen
Naturen fehlte
ihm jeder Sinn für das Lächerliche; seit seinem Siege im Weltturnier
hielt er
sich für den wichtigsten Mann der Welt, und das Bewusstsein, all diese
gescheiten, intellektuellen, blendenden Sprecher und Schreiber auf
ihrem
eigenen Felde geschlagen zu haben und vor allem die handgreifliche
Tatsache,
mehr als sie zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit
in einen
kalten und meist plump zur Schau gestellten Stolz.
“Aber wie sollte ein so
rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf besudeln?”, schloss mein
Freund, der mir
gerade einige klassische Proben von Czentovics kindischer Präpotenz
anvertraut hatte. “Wie sollte ein einundzwanzigjähriger Bauernbursche
aus dem
Banat nicht den Eitelkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein
bisschen Figurenherumschieben
auf dem Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf
daheim mit
Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr? Und
dann, ist
es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen grossen Menschen
zu
halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein
Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben?
Dieser
Bursche weiss in seinem vermauerten Gehirn nur das eine, dass er seit
Monaten
nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht
ahnt, dass
es ausser Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat
er allen
Grund, von sich begeistert zu sein.”
Diese
Mitteilungen meines
Freundes verfehlten nicht, meine besondere Neugier zu erregen. Alle
Arten von monomanischen,
in eine einzige Idee verschlossenen Menschen haben mich zeitlebens
angereizt,
denn je mehr sich einer begrenzt, umso mehr ist er andererseits dem
Unendlichen
nah; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen
Materie
sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur
der Welt.
So machte ich aus meiner Absicht, dieses sonderbare Spezimen
intellektueller
Eingleisigkeit auf der zwölftägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe
zu
nehmen, kein Hehl.
Jedoch
“Da werden Sie
wenig Glück haben”, warnte mein Freund.“ Soviel ich weiss, ist es noch
keinem
gelungen, aus Czentovic das Geringste an psychologischem Material
herauszuholen.
Hinter all seiner abgründigen Beschränktheit verbirgt dieser gerissene
Bauer
die grosse Klugheit, sich keine Blössen zu geben und zwar dank der
simplen
Technik, dass er ausser mit Landsleuten seiner eigenen Sphäre, die er
sich in
kleinen Gasthäusern zusammensucht, jedes Gespräch vermeidet. Wo er
einen gebildeten
Menschen spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus; so kann niemand sich
rühmen,
je ein dummes Wort von ihm gehört oder die angeblich unbegrenzte Tiefe
seiner
Unbildung ausgemessen zu haben.”
Mein
Freund sollte in der
Tat recht behalten. Während der ersten Tage der Reise erwies es sich
als vollkommen
unmöglich, an Czentovic ohne grobe Zudringlichkeit, die schliesslich
nicht
meine Sache ist, heranzukommen. Manchmal
schritt er zwar über das Promenadendeck, aber dann immer die Hände auf
dem Rücken
verschränkt, mit jener stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon
auf dem
bekannten Bilde; ausserdem erledigte er immer so eilig und stosshaft
seine peripatetische
Deckrunde, dass man ihm hätte im Trab nachlaufen müssen, um ihn
ansprechen zu
können. In den Gesellschaftsräumen wiederum, in der Bar, im Rauchzimmer
zeigte
er sich niemals; wie mir der Steward auf vertrauliche Erkundigung hin
mitteilte, verbrachte er den Grossteil des Tages damit, in seiner
Kabine auf
einem mächtigen Brett Schachpartien einzuüben oder zu rekapitulieren.
Nach
drei Tagen begann
ich mich tatsächlich zu ärgern, dass seine zähe Abwehrtechnik
geschickter war als
mein Wille, an ihn heranzukommen. Ich hatte in meinem Leben noch nie
Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters
zu
machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu
personifizieren, umso unvorstellbarer erschien mir eine
Gehirntätigkeit, die
ein ganzes Leben lang ausschliesslich um einen Raum von vierundsechzig
schwarzen und weissen Feldern rotiert. Ich wusste wohl aus eigener
Erfahrung um die
geheimnisvolle Attraktion des “königlichen Spiels” , dieses einzigen
unter
allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder
Tyrannis des
Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr
einer
bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht
bereits einer
beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt?
Ist es
nicht auch eine Wissenschaft, eine Technik, eine Kunst, schwebend
zwischen diesen
Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde, eine
einmalige Bindung
aller Gegensätzepaare: uralt und doch ewig neu, mechanisch in
der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in
geometrisch starrem
Raum und dabei unbegrenzt in seiner Kombination, ständig sich
entwickelnd und
doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die
nichts
errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und
nichts
destominder erwiesenermassen dauerhafter in seinem
Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen
Völkern
und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiss, welcher Gott es
auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu
schärfen, die Seele
zu spannen? Wo ist bei ihm der Anfang und wo das Ende: jedes Kind kann
seine
ersten Regeln erlernen, jeder Stümper sich in ihm versuchen, und doch
vermag es
innerhalb dieser unveränderbar engen Quadrate eine besondere Spezies
von
Meistern zu erzeugen, unvergleichbar allen anderen, Menschen mit einer
einzig
dem Schach zubestimmten Begabung, spezifische Genies, in denen Vision,
Geduld
und Technik in einer ebenso genau bestimmten Verteilung wirksam sind
wie im
Mathematiker, im Dichter, im Musiker, und nur in anderer Schichtung und
Bindung. In früheren Zeiten physiognomischer Leidenschaft hätte ein
Gall
vielleicht die Gehirne solcher Schachmeister seziert um festzustellen,
ob bei
solchen Schachgenies eine besondere Windung in der grauen Masse des
Gehirns,
eine Art Schachmuskel oder Schachhöcker sich intensiver ein gezeichnet
fände als in anderen Schädeln. Und wie hätte
einen solchen Physiognomiker erst der Fall eines Czentovic angereizt,
wo dies
spezifische Genie eingesprengt erscheint in eine absolute
intellektuelle
Trägheit wie ein einzelner Faden Gold in einen Zentner tauben Gesteins.
Im
Prinzip war mir die Tatsache von jeher verständlich, dass
ein derart einmaliges, ein solches geniales Spiel sich spezifische
Matadore
schaffen müsste, aber wie schwer, wie unmöglich doch, sich das Leben
eines
geistig regsamen Menschen vorzustellen, dem sich die Welt einzig auf
die enge
Einbahn zwischen Schwarz und Weiss reduziert, der in einem blossen Hin
und Her,
Vor und Zurück von zweiunddreissig Figuren seine Lebenstriumphe sucht,
einen
Menschen, dem bei einer neuen Eröffnung den Springer vorzuziehen statt
des Bauern
schon Grosstat und sein ärmliches Eckchen Unsterblichkeit im Winkel
seines
Schachbuchs bedeutet — einen Menschen, einen geistigen Menschen, der
ohne
wahnsinnig zu werden, zehn, zwanzig, dreissig, vierzig Jahre lang die
ganze
Spannkraft seines Denkens immer wieder und immer wieder an den
lächerlichen Einsatz
wendet, einen hölzernen König auf einem hölzernen Brett in den Winkel
zu
drängen!
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