Und
nun war ein solches
Phänomen, ein solches sonderbares Genie oder ein solcher rätselhafter
Narr mir räumlich
zum erstenmal ganz nahe, sechs Kabinen weit auf demselben Schiff, und
ich
Unseliger, für den Neugier in geistigen Dingen immer zu einer Art
Passion ausartet,
sollte nicht imstande sein, mich ihm zu nähern? Ich begann mir die
absurdesten
Listen auszudenken; etwa ihn in seiner Eitelkeit zu kitzeln, indem ich
ihm ein
angebliches Interview für eine wichtige Zeitung vortäuschte, oder bei
seiner
Habgier zu packen dadurch, dass ich ihm ein einträgliches Turnier in
Schottland
proponierte. Aber schliesslich erinnerte ich mich, dass die bewährteste
Technik
der Jäger den Auerhahn an sich heranzulocken, darin besteht, dass sie
seinen
Balzschrei nachahmen; was konnte eigentlich wirksamer sein, um die
Aufmerksamkeit eines Schachmeisters auf sich zu ziehen, als indem man
selber
Schach spielt?
Nun
bin ich zeitlebens
nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen und zwar aus dem einfachen
Grunde, dass
ich mich mit Schach immer bloss leichtfertig und ausschliesslich
zu meinem
Vergnügen befasste; wenn ich mich für eine Stunde vor das Brett setze,
geschieht dies keineswegs, um mich anzustrengen, sondern im Gegenteil,
um mich
von geistiger Anspannung zu entlasten. Ich “spiele” Schach im wahrsten
Sinne
des Wortes, während die anderen, die wirklichen Schachspieler,
Schach
“ernsten” , um ein
verwegenes neues Wort in die mir von Hitler verbotene deutsche Sprache
einzuführen. Für Schach ist nun wie für die Liebe ein Partner
unentbehrlich und
ich wusste zur Stunde noch nicht, ob sich ausser uns andere
Schachliebhaber an
Bord befanden. Um sie aus ihren Höhlen
herauszulocken, stellte ich im Smoking Room eine primitive Falle auf,
indem ich
mich mit meiner Frau, obwohl sie noch schwächer spielt als ich,
vogelstellerisch vor ein Schachbrett setzte. Und tatsächlich, wir
hatten noch
nicht sechs Züge getan, so blieb schon jemand im Vorübergehen stehen,
ein zweiter
erbat die Erlaubnis Zusehen zu dürfen; schliesslich fand sich auch der
erwünschte Partner, der mich zu einer Partie herausforderte. Er hiess
McConnor und war ein schottischer
Tiefbauingenieur, der wie ich hörte, bei Oelbohrungen in Kalifornien
ein
grosses Vermögen
gemacht hatte,
von äusserem Aussehen ein stämmiger Mensch mit starken, fast
quadratisch harten
Kinnbacken, kräftigen Zähnen und einer satten Gesichtsfarbe, deren
prononcierte
Rötlichkeit wahrscheinlich zumindest teilweise reichlichem Genuss von
Whisky zu
verdanken war. Die auffällig breiten, fast athletisch vehementen
Schultern
machten sich leider auch im Spiel charaktermässig bemerkbar, denn
dieser Mister
McConnor gehörte zu jener Sorte selbstbewusster Erfolgsmenschen, die
auch im
belanglosesten Spiele eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres
Persönlichkeitsbewusstseins empfinden. Gewöhnt, sich im Leben
rücksichtslos durchzusetzen
und verwöhnt vom faktischen Erfolg, war dieser massive Selfmade-man
derart
unerschütterlich von
seiner Ueberlegenheit
durchdrungen, dass jeder Widerstand ihn als ungebührliche Auflehnung
und
beinahe als Beleidigung erregte. Als er die erste Partie
verlor, wurde er
mürrisch und begann umständlich und diktatorisch zu erklären, dies
könnte nur
durch eine momentane Unaufmerksamkeit geschehen sein, bei der dritten
machte er
den Lärm im Nachbarraum für sein Versagen verantwortlich; nie war er
gewillt,
eine Partie zu verlieren, ohne sofort Revanche zu fordern. Anfangs
amüsierte
mich diese ehrgeizige Verbissenheit; schliesslich nahm ich sie nur mehr
als
unvermeidliche Begleiterscheinung für meine eigentliche Absicht hin,
den
Weltmeister an unseren Tisch zu locken.
Am
dritten Tag gelang es
und gelang doch nur halb. Sei es, dass Czentovic uns vom Promenadedeck
aus durch
das Bordfenster vor dem Schachbrett beobachtet oder er nur
zufälligerweise den
Smoking Room mit seiner Anwesenheit beehrte — jedenfalls trat er,
sobald er uns
Unberufene seine Kunst ausüben sah, unwillkürlich einen
Schritt näher und
warf aus dieser gemessenen Distanz einen prüfenden Blick auf unser
Brett. McConnor
war gerade am Zuge. Und schon dieser eine Zug schien ausreichend, um
Czentovic
zu belehren, wie wenig ein weiteres Verfolgen unserer dilettantischen
Bemühungen
seines meisterlichen Interesses würdig sei. Mit derselben
selbstverständlichen
Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen angebotenen
schlechten
Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur anzublättern,
trat er von
unserem Tische fort und verliess den Smoking Room. “Gewogen und zu
leicht
befunden” dachte ich mir, ein bisschen verärgert durch diesen
kühlen,
verächtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft zu machen,
äusserte ich
zu McConnor:
“Ihr
Zug scheint den
Meister nicht sehr begeistert zu haben.”
“Welchen
Meister?”
Ich
erklärte ihm, jener
Herr, der eben an uns vorübergegangen und mit missbilligendem Blick auf
unser Spiel
gesehen, sei der Weltschachmeister Czentovic gewesen. Nun, fügte ich
bei, wir
beide würden es überstehen und ohne Herzleid uns mit seiner illustren
Verachtung
abfinden; arme Leute müssten eben mit Wasser kochen. Aber zu meiner
Ueberraschung übte auf McConnor meine lässige Mitteilung eine völlig
unerwartete
Wirkung. E r wurde sofort erregt, vergass unsere Partie, und sein
Ehrgeiz
begann geradezu hörbar zu pochen. Er habe keine Ahnung gehabt, dass
Czentovic an
Bord sei und Czentovic müsse unbedingt gegen ihn spielen. Er habe noch
nie im
Leben gegen einen Weltmeister gespielt ausser einmal bei einer
Simultanpartie mit
vierzig anderen; schon das sei furchtbar spannend gewesen und er habe
damals
beinahe gewonnen. Ob ich den Schachmeister persönlich kenne? Ich
verneinte. Ob
ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte ab mit der
Begründung, Czentovic sei meines Wissens für neue Bekanntschaften nicht
sehr zugänglich.
Ausserdem, was für einen Reiz sollte es einem Weltmeister bieten, mit
uns
drittklassigen Spielern sich abzugeben?
Nun,
das von
drittklassigen Spielern hätte ich zu einem dermassen ehrgeizigen
Manne wie McConnor
lieber nicht äussern sollen. Er lehnte sich verärgert zurück und
erklärte schroff, er
für seinen Teil könne nicht glauben, dass Czentovic die höfliche
Aufforderung
eines Gentleman ablehnen werde; dafür werde er schon sorgen. Auf seinen
Wunsch
gab ich ihm eine kurze Personenbeschreibung des Weltmeisters und schon
stürmte er,
unser Schachbrett gleichgültig im Stiche lassend, in beherrschter
Ungeduld
Czentovic auf das Promenadedeck nach. Wieder spürte ich, dass der
Besitzer
dermassen breiter Schultern nicht zu halten war, sobald er einmal
seinen Willen in eine Sache geworfen.
Ich
wartete ziemlich
gespannt. Nach etwa zehn Minuten kehrte McConnor zurück, nicht sehr
aufgeräumt,
wie mir schien.
“Nun?”
fragte ich.
“Sie
haben recht gehabt”, antwortete er etwas verärgert. “Kein sehr
angenehmer Herr. Ich
stellte mich vor,
erklärte ihm, wer ich sei. Er reichte mir nicht einmal die Hand. Ich
versuchte
ihm auseinanderzusetzen, wie stolz und geehrt wir alle an Bord sein
würden, wenn
er eine Simultanpartie gegen uns spielen wollte. Aber er hielt seinen
Rücken
verflucht steif; es täte ihm leid, aber er habe kontraktliche
Verpflichtungen
gegen seinen Agenten, die ihm ausdrücklich untersagten, während seiner
ganzen
Tournee ohne Honorar zu spielen. Sein Minimum sei zweihundertfünfzig
Dollar pro
Partie.”
Ich
lachte. “Auf diesen
Gedanken wäre ich eigentlich nie geraten, dass Figuren von schwarz auf
weiss zu
schieben, ein derart einträgliches Geschäft sein kann. Nun, ich hoffe,
Sie
haben sich ebenso höflich empfohlen.”
Aber
McConnor blieb vollkommen
ernst. “Die Partie ist für morgen nachmittag drei Uhr angesetzt. Hier
im Rauchsalon.
Ich hoffe, wir werden uns nicht so leicht zu
Brei schlagen lassen.”
“Wie?
Sie haben ihm die
zweihundertfünfzig Dollar bewilligt?” , rief ich ganz betroffen aus.
“Warum
nicht? Cest son
metier. Wenn ich Zahnschmerzen hätte und es wäre zufällig ein Zahnarzt
an Bord,
würde ich auch nicht verlangen, dass er mir den Zahn umsonst ziehen
soll. Der
Mann hat ganz recht, die Preise zu machen; in jedem Fach sind die
wirklichen Könner
auch die besten Geschäftsleute. Und was mich betrifft, je klarer ein
Geschäft,
umso besser. Ich zahle lieber in Cash, als mir von einem Herrn
Czentovic Gnaden
erweisen zu lassen und mich am Ende noch bei ihm bedanken zu müssen.
Schliesslich habe ich in unserem Klub schon mehr an einem Abend
verloren als zweihundertfünfzig
Dollar und dabei mit keinem Weltmeister gespielt.
Für
‘drittklassige’ Spieler ist es keine Schande, von einem Czentovic
umgelegt zu
werden.”
Es
amüsierte mich zu
bemerken, wie tief ich McConnors Selbstgefühl mit dem einen
unschuldigen Wort “Drittklassiger
Spieler” gekränkt hatte. Aber da er den teuren
Spass zu bezahlen
gesonnen war, hatte ich nichts einzuwenden gegen seinen deplacierten
Ehrgeiz,
der mir endlich die Bekanntschaft meines Kuriosums vermitteln sollte.
Wir
verständigten eiligst die vier oder fünf Herren, die sich bisher als
Schachspieler deklariert hatten, von dem bevorstehenden Ereignis und
liessen, um
von durchgehenden Passanten möglichst wenig gestört zu werden, nicht
nur
unseren Tisch sondern auch die Nachbartische für das bevorstehende
Match im
voraus reservieren.
Am
nächsten Tage war
unsere kleine Gruppe zur vereinbarten Stunde vollzählig erschienen. Der
Mittelplatz gegenüber dem Meister blieb selbstverständlich McConnor
zugeteilt, der
seine Nervosität entlud, indem er eine schwere Zigarre nach der anderen
anzündete und immer wieder unruhig auf die Uhr blickte. Aber der
Weltmeister
liess — ich hatte nach den Erzählungen meines Freundes derlei schon
geahnt —
gute zehn Minuten auf sich warten, wodurch allerdings sein Erscheinen
dann erhöhten
Applomb erhielt. Er trat ruhig und gelassen auf den Tisch zu. Ohne sich
vorzustellen — “Ihr wisst, wer ich bin, und wer ihr seid, interessiert
mich
nicht” , schien diese Unhöflichkeit zu besagen — begann er mit
fachmännischer
Trockenheit die sachlichen Anordnungen. Da eine Simultanpartie hier an
Bord aus
Mangel an verfügbaren Schachbrettern unmöglich sei, schlage er vor,
dass wir
alle gemeinsam gegen ihn spielen sollten. Nach jedem Zug werde er, um
unsere Beratungen
nicht zu stören, sich zu einem anderen Tisch am Ende des Raumes
verfügen.
Sobald wir unseren Gegenzug getan, sollten wir, da bedauerlicherweise
keine
Tischglocke zur Hand sei, mit dem Löffel gegen ein Glas klopfen. Als
maximale
Zeit schlage er zehn Minuten vor, falls wir keine andere Einteilung
wünschten.
Wir pflichteten selbstverständlich wie schüchterne Schüler jedem
Vorschlag bei.
Die Farbenwahl teilte Czentovic schwarz zu; noch im Stehen tat er den
ersten
Gegenzug und wandte sich dann gleich dem von ihm vorgeschlagenen
Warteplatz zu,
wo er lässig hingelehnt eine illustrierte Zeitung durchblätterte.
Es
hat wenig Sinn, über
die Partie zu berichten. Sie endete selbstverständlich, wie sie enden
musste,
mit unsrer totalen Niederlage und zwar bereits beim vierundzwanzigsten
Zuge.
Dass nun ein Weltschachmeister ein halbes Dutzend mittlerer oder
untermittlerer
Spieler mit der linken Hand niederfegt, war an sich wenig erstaunlich;
verdriesslich
wirkte eigentlich auf uns alle nur die präpotente Art,
mit der Czentovic es
uns allzu deutlich fühlen liess, dass er
uns mit der linken Hand erledigte. Er warf jedesmal nur einen
scheinbar flüchtigen Blick auf das
Brett, sah an uns lässig vorbei, als ob wir
selbst tote Holzfiguren wären, und diese
impertinente Geste erinnerte unwillkürlich
an die, mit der man einem räudigen Hund abgewendeten
Blickes einen Brocken zuwirft. Bei einiger Feinfühligkeit hätte
er meiner Meinung nach
uns auf Fehler aufmerksam machen können
oder durch ein freundliches Wort
aufmuntern. Aber auch nach Beendigung der
Partie äusserte dieser unmenschliche Schachautomat keine Silbe,
sondern wartete, nachdem er
“matt” gesagt, regungslos vor dem Tische,
ob man noch eine weitere Partie
von ihm wünsche. Schon
war ich auf gestanden, um, hilflos wie man immer gegen dickfellige
Grobheit
bleibt, durch eine Geste anzudeuten, dass mit diesem erledigten
Dollargeschäft wenigstens
meinerseits das Vergnügen unserer Bekanntschaft
beendet
sei, als zu meinem Aerger neben mir Mc Connor mit ganz heiserer Stimme
sagte: “Revanche!”
Ich
erschrack geradezu
über den herausfordernden Ton; tatsächlich bot McConnor in diesem
Augenblick eher
den Eindruck eines Boxers vor dem Losschlagen als den eines höflichen
Gentlemans.
War es die unangenehme Art der Behandlung, die uns Czentovic hatte
zuteil
werden lassen oder nur sein pathologisch reizbarer Ehrgeiz — jedenfalls
war
McConnors Wesen vollkommen verändert. Rot im Gesicht bis hoch hinauf an
das
Stirnhaar, die Nüstern von innerem Druck stark aufgespannt,
transpirierte er
sichtlich, und von den verbissenen Lippen schnitt sich scharf eine
Falte gegen sein
kämpferisch vorgestrecktes Kinn. Ich erkannte beunruhigt in seinen
Augen jenes
Flackern unbeherrschter Leidenschaft, wie sie sonst Menschen nur am
Roulettetisch angreift, wenn zum sechsten- oder siebenten Mal bei immer
verdoppeltem Einsatz nicht die richtige Farbe kommt. In diesem
Augenblick wusste
ich, dieser fanatisch Ehrgeizige würde, und sollte es ihn sein ganzes
Vermögen
kosten, gegen Czentovic solange spielen und spielen und spielen,
einfach oder
doubliert, bis er wenigstens ein einziges Mal eine Partie gewonnen.
Wenn Czentovic
durchhielt, so hatte er an McConnor eine Goldgrube gefunden, aus der er
bis
Buenos Aires ein paar tausend Dollar schaufeln konnte.
Czentovic
blieb unbewegt.
“ Bitte” , antwortete er höflich. “Die Herren spielen jetzt schwarz.”
Auch
die zweite Partie
bot kein verändertes Bild, ausser dass durch einige Neugierige unser
Kreis
nicht nur grösser, sondern auch lebhafter geworden war.
McConnor
blickte so starr
auf das Brett, als wollte er mit seinem Willen die Figuren zu gewinnen
magnetisieren; ich spürte ihm an, dass er auch tausend Dollar
begeistert
geopfert hätte
für den Lustschrei “Matt!” gegen den kaltschnäuzigen Gegner.
Merkwürdigerweise ging
etwas von seiner verbissenen Erregung unbewusst in uns über. Jeder
einzelne Zug
wurde ungleich leidenschaftlicher diskutiert als vordem, immer hielten
wir noch
im letzten Moment einer den anderen zurück, ehe wir uns einigten, das
Zeichen
zu geben, das Czentovic an
unseren Tisch
zurückberief. Allmählich waren wir beim siebzehnten Zug angelangt und
zu
unserer eigenen Ueberraschung eine Konstellation eingetreten, die
verblüffend
vorteilhaft schien, weil es uns gelungen war, den Bauern der c- Linie
bis auf
das vorletzte Feld c2 zu bringen; wir brauchten ihn nur vorzuschieben
auf c1,
um eine neue Dame zu gewinnen. Ganz behaglich war uns freilich nicht
bei dieser
allzu offenkundigen Chance; wir argwöhnten einmütig, dieser scheinbar
von uns
errungene Vorteil müsste von Czentovic, der doch die Situation viel
weitblickender übersah, mit Absicht uns als Angelhaken zugeschoben
sein. Aber
trotz angestrengtem gemeinsamen Suchen und Diskutieren vermochten wir
die
versteckte Finte nicht wahrzunehmen. Schliesslich, schon knapp am Rande
der
verstatteten Ueberlegungsfrist, entschlossen wir uns, den Zug zu wagen.
Schon
rührte McConnor den Bauern an, um ihn auf das letzte Feld zu schieben,
als er
sich äh
am Arm gepackt fühlte
und jemand leise und heftig flüsterte: “Um Gotteswillen! Nicht!”
Unwillkürlich
wandten wir
uns alle um. Ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, dessen schmales
scharfes Gesicht
mir schon vordem auf der Deckpromenade durch seine merkwürdige, fast
kreidige Blässe
aufgefallen war, musste in den letzten Minuten, indes wir unsere ganze
Aufmerksamkeit dem Problem zuwandten, zu uns getreten sein. Hastig
fügte er,
unseren Blick spürend hinzu:
“Wenn
Sie jetzt eine Dame
machen, schlägt er sie sofort mit dem Läufer c1, Sie nehmen mit dem
Springer zurück.
Aber inzwischen geht er mit seinem Freibauern auf
d7, bedroht Ihren
Turm, und auch wenn Sie mit dem Springer Schach sagen, verlieren Sie
und sind nach
neun bis zehn Zügen erledigt. Es ist beinahe dieselbe Konstellation,
wie sie
Aljechin gegen Bogoljubow 1922 im Pistyaner Grossturnier initiiert
hat.”
McConnor
liess erstaunt
die Hand von der Figur und starrte nicht minder verwundert als wir alle
auf den
Mann, der wie ein unvermuteter Engel helfend vom Himmel kam. Jemand,
der auf
neun Züge voraus ein Matt errechnen konnte, musste ein Fachmann ersten
Ranges
sein, vielleicht sogar ein Konkurrent um die Meisterschaft,
der zum
gleichen Turnier reiste, und sein plötzliches Eingreifen, sein Kommen
gerade in
einem so kritischen Moment hatte etwas fast Uebernatürliches. Als
erster fasste
sich McConnor:
“Was
würden Sie raten?” ,
flüsterte er aufgeregt.
“Nicht
gleich vorziehen,
sondern zunächst ausweichen! Vor allem mit dem König abrücken aus der
gefährdeten
Linie von g8 auf h7. Er wird dann wahrscheinlich den Angriff auf die
andere
Flanke hinüber werfen. Aber das parieren Sie mit Turm c8—c4; das kostet
ihn in
zwei Tempis einen Bauern und damit die Ueberlegenheit. Dann steht
Freibauer
gegen Freibauer, und wenn sie sich richtig defensiv halten, kommen Sie
noch auf
Remis. Mehr ist nicht herauszuholen.”
Wir
staunten abermals.
Die Präzision nicht minder als die Raschheit seiner Berechnung hatte
etwas
Verwirrendes; es war, als ob er die Züge aus einem gedruckten Buch
ablesen
würde. Immerhin wirkte die unvermutete Chance, dank seines Eingreifens
unsere
Partie gegen einen Weltmeister auf Remis zu bringen, zauberisch.
Einmütig
rückten wir zur Seite, um ihm freieren Blick auf das Brett zu gewähren.
Noch
einmal fragte McConnor:
“Also
König g8 auf h7?”
“Jawohl!
Ausweichen vor
allem!”
McConnor
gehorchte und
wir klopften an das Glas. Czentovic trat mit seinem
gewohnt-gleichmütigen Schritt
an unseren Tisch und mass mit einem einzigen Blick
den Gegenzug. Dann
zog er auf dem Königsflügel den Bauern h2— h4, genau wie es unser
unbekannter Helfer
vorausgesagt. Und schon flüsterte dieser aufgeregt:
“Turm
vor, Turm vor, c8
auf c4, er muss dann zuerst den Bauern decken. Aber das wird ihm nichts
helfen!
Sie schlagen, ohne sich um seinen Freibauern zu kümmern, mit dem
Springer c3—d5,
und das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Den ganzen Druck nach
vorwärts,
statt zu verteidigen.”
Wir
verstanden nicht, was
er meinte. Für uns war, was er sagte, chinesisch. Aber schon einmal in
seinem Bann,
zog McConnor, ohne zu überlegen, wie jener geboten.
Wir schlugen
abermals an das Glas, um Czentovic zurückzurufen. Zum ersten Male
entschied er sich
nicht rasch, sondern blickte gespannt auf das Brett.
Unwillkürlich
schoben
sich seine Brauen zusammen. Dann tat er genau den Zug, den der Fremde
uns
angekündigt und wandte sich zum Gehen. Jedoch ehe er zurücktrat,
geschah etwas
Neues und Unerwartetes. Czentovic hob den Blick und musterte unsere
Reihen; offenbar
wollte er herausfinden, wer ihm mit einemmale so
energischen Widerstand
leistete.
Von
diesem Augenblick an
wuchs unsere Erregung ins Unermessene. Bisher hatten wir ohne
ernstliche Hoffnung
gespielt, nun aber trieb der Gedanke, den kalten Hochmut Czentovics zu
brechen,
uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse. Schon aber hatte unser neuer
Freund
den nächsten Zug angeordnet und wir konnten — die Finger zitterten mir,
als ich
den Löffel an das Glas schlug — Czentovic zurückrufen. Und nun kam
unser erster
Triumph. Czentovic, der bisher immer nur im Stehen gespielt, zögerte
und setzte
sich schliesslich nieder. Er setzte sich langsam und schwerfällig;
damit aber
war schon rein körperlich das bisherige Von-oben-herab
zwischen
ihm und uns aufgehoben. Wir hatten ihn genötigt, sich wenigstens
räumlich auf eine
Ebene mit uns zu begeben. Er überlegte lange, die Augen unbeweglich auf
das
Brett gesenkt, sodass man kaum mehr die Pupillen unter den schweren
Lidern
wahrnehmen konnte, und im angestrengten Nachdenken
öffnete sich
ihm allmählich der Mund, was seinem runden Gesicht ein etwas
einfältiges
Aussehen gab. Czentovic überlegte einige Minuten, dann tat er seinen
Zug und
stand auf. Und schon flüsterte unser Freund:
“Ein
Hinhaltezug! Gut
gedacht! Aber nicht darauf eingehen! Abtausch forcieren, unbedingt
Abtausch,
dann kommen wir auf Remis und kein Gott kann ihm helfen.”
McConnor
gehorchte. Es
begann in den nächsten Zügen zwischen den beiden — wir anderen waren
längst zu
leeren Statisten herabgesunken — ein uns unverständliches Hin und Her.
Nach
etwa sieben Zügen sah Czentovic nach längerem Nachdenken auf und
erklärte “Remis!”
Einen
Augenblick
herrschte totale Stille. Man hörte plötzlich die Wellen rauschen und
das Radio
aus dem Salon herüberjazzen, man vernahm jeden Schritt von dem
Promenadedeck
und das leise feine Sausen des Winds, der durch die Fugen der Fenster
fuhr.
Keiner von uns atmete, es war zu plötzlich gekommen und wir alle noch
geradezu
erschrocken über das Unwahrscheinliche, dass dieser Unbekannte dem
Weltmeister
in einer schon halb verlorenen Partie seinen Willen aufgezwungen haben
sollte.
McConnor lehnte sich mit dem Rücken zurück, der angehaltene Atem fuhr
ihm
hörbar in einem beglückten “Ah !” von den Lippen. Ich wiederum
beobachtete
Czentovic. Schon bei den letzten Zügen hatte mir geschienen, als ob er
blasser
geworden sei. Aber er verstand sich gut zusammenzuhalten. Er verharrte
in
seiner scheinbar gleichmütigen Starre und fragte
nur in lässiger
Weise, während er die Figuren mit ruhiger Hand vom Brette schob:
“Wünschen
die Herren noch
eine dritte Partie?”
Er
stellte die Frage rein
sachlich, rein geschäftlich. Aber das Merkwürdige war: er hatte dabei
nicht McConnor
angeblickt, sondern scharf und gerade das Auge gegen unseren Retter
gehoben.
Wie ein Pferd am festeren Sitz einen neuen, einen besseren Reiter,
musste er an
den letzten Zügen seinen wirklichen, seinen eigentlichen Gegner erkannt
haben.
Unwillkürlich folgten wir seinem Blick und sahen gespannt auf den
Fremden. Jedoch
ehe dieser sich besinnen oder gar antworten konnte, hatte in seiner
ehrgeizigen
Erregung McConnor schon triumphierend ihm zugerufen:
“Selbstverständlich!
Aber
jetzt müssen Sie allein gegen ihn spielen! Sie allein gegen Czentovic!”
Doch
nun ereignete sich
etwas Unvorhergesehenes. Der Fremde, der merkwürdigerweise noch immer
angestrengt
auf das schon abgeräumte Schachbrett starrte, schrak auf, da er alle
Blicke auf
sich gerichtet und sich
so begeistert
angesprochen fühlte. Seine Züge verwirrten sich.
“Auf
keinen Fall, meine
Herren” , stammelte er sichtlich betroffen. “Das ist völlig
ausgeschlossen. .
., ich komme gar nicht in Betracht. . . Ich habe seit zwanzig, nein,
fünfundzwanzig Jahren vor keinem Schachbrett gesessen und. . . und ich
sehe
erst jetzt, wie ungehörig ich mich betragen habe, indem ich mich ohne
Ihre Verstattung
in Ihr Spiel einmengte. Bitte entschuldigen Sie meine Vordringlichkeit.
. . Ich
will gewiss nicht weiter stören.” Und noch ehe wir uns von unserer
Ueberraschung
zurechtgefunden, hatte er sich bereits zurückgezogen und das Zimmer
verlassen.
“Aber
das ist doch ganz
unmöglich!”, dröhnte der temperamentvolle McConnor, mit der Faust
aufschlagend.
“Völlig ausgeschlossen, dass dieser Mann fünfundzwanzig Jahre nicht
Schach
gespielt haben soll! Er hat doch jeden Zug, jede Gegenpointe auf fünf,
auch sechs
Züge vorausberechnet. So etwas kann niemand aus
dem Handgelenk. Das
ist doch völlig ausgeschlossen — nicht wahr?”
Mit
der letzten Frage
hatte sich McConnor unwillkürlich an Czentovic gewandt. Aber der
Weltmeister blieb
unerschütterlich kühl.
“Ich
vermag darüber kein
Urteil abzugeben. Jedenfalls hat der Herr etwas befremdlich und
interessant gespielt;
deshalb habe ich ihm auch absichtlich eine Chance
gelassen.”
Gleichzeitig lässig aufstehend, fügte er in seiner sachlichen Art bei:
“Sollte
der Herr oder die
Herren morgen eine abermalige Partie wünschen, so stehe ich von drei
Uhr ab zur
Verfügung.”
Wir
konnten ein leises
Lächeln nicht unterdrücken. Jeder von uns wusste, dass Czentovic
unserem
unbekannten Helfer keineswegs grossmütig eine Chance gelassen und diese
seine
Bemerkung nichts anderes als eine naive Ausflucht war, um sein eigenes
Versagen
zu maskieren. Umso heftiger wuchs unser Verlangen, einen
derart
unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen. Mit einem Mal war über
uns
friedliche, lässige Bordbewohner eine wilde, ehrgeizige Kampflust
gekommen, denn
der Gedanke, dass gerade auf unserem Schiff mitten auf dem Ozean dem
Schachmeister die Palme entrungen werden könnte — ein Rekord, der dann
von allen
Telegraphenbüros über die ganze Welt hingeblitzt würde — faszinierte
uns in
herausforderndster Weise. Dazu kam noch der Reiz des Mysteriösen, der
von dem
unerwarteten Eingreifen unseres Retters gerade im
kritischen Momente
ausging, und der Kontrast seiner fast ängstlichen Bescheidenheit mit
dem
unerschütterlichen Selbstbewusstsein des Professionellen.
Wer
war dieser
Unbekannte? Hatte hier der Zufall ein noch unentdecktes Schachgenie
zutage
gefördert? Oder verbarg uns aus einem unerforschlichen Grunde ein
berühmter
Meister seinen Namen? Alle diese Möglichkeiten erörterten
wir in
aufgeregtester Weise; selbst die verwegensten Hypothesen waren uns
nicht
verwegen genug, um die rätselhafte Scheu und das überraschende
Bekenntnis
des Fremden
mit seiner doch unverkennbaren Spielkunst in Einklang zu bringen. In
einer Hinsicht
jedoch blieben wir alle einig: keinesfalls auf das Schauspiel eines
neuerlichen
Kampfes zu verzichten. Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser
Helfer
am nächsten Tage eine Partie gegen Czentovic spiele,
für deren
materielles Risiko McConnor aufzukommen sich verpflichtete. Da sich
inzwischen durch
Umfrage beim Stewart herausgestellt hatte, dass der Unbekannte ein
Oesterreicher sei, wurde mir als Landsmann der Auftrag zugeteilt, ihm
unsere
Bitte zu unterbreiten.