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Literatur


04.3


Geschichten Stefan Zweig

Schachnovelle






Schachnovelle - Seite 2

Und nun war ein solches Phänomen, ein solches sonderbares Genie oder ein solcher rätselhafter Narr mir räumlich zum erstenmal ganz nahe, sechs Kabinen weit auf demselben Schiff, und ich Unseliger, für den Neugier in geistigen Dingen immer zu einer Art Passion ausartet, sollte nicht imstande sein, mich ihm zu nähern? Ich begann mir die absurdesten Listen auszudenken; etwa ihn in seiner Eitelkeit zu kitzeln, indem ich ihm ein angebliches Interview für eine wichtige Zeitung vortäuschte, oder bei seiner Habgier zu packen dadurch, dass ich ihm ein einträgliches Turnier in Schottland proponierte. Aber schliesslich erinnerte ich mich, dass die bewährteste Technik der Jäger den Auerhahn an sich heranzulocken, darin besteht, dass sie seinen Balzschrei nachahmen; was konnte eigentlich wirksamer sein, um die Aufmerksamkeit eines Schachmeisters auf sich zu ziehen, als indem man selber Schach spielt?

Nun bin ich zeitlebens nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen und zwar aus dem einfachen Grunde, dass ich mich mit Schach immer bloss leichtfertig und ausschliesslich zu meinem Vergnügen befasste; wenn ich mich für eine Stunde vor das Brett setze, geschieht dies keineswegs, um mich anzustrengen, sondern im Gegenteil, um mich von geistiger Anspannung zu entlasten. Ich “spiele” Schach im wahrsten Sinne des Wortes, während die anderen, die wirklichen Schachspieler,

Schach “ernsten” , um ein verwegenes neues Wort in die mir von Hitler verbotene deutsche Sprache einzuführen. Für Schach ist nun wie für die Liebe ein Partner unentbehrlich und ich wusste zur Stunde noch nicht, ob sich ausser uns andere Schachliebhaber an Bord befanden.  Um sie aus ihren Höhlen herauszulocken, stellte ich im Smoking Room eine primitive Falle auf, indem ich mich mit meiner Frau, obwohl sie noch schwächer spielt als ich, vogelstellerisch vor ein Schachbrett setzte. Und tatsächlich, wir hatten noch nicht sechs Züge getan, so blieb schon jemand im Vorübergehen stehen, ein zweiter erbat die Erlaubnis Zusehen zu dürfen; schliesslich fand sich auch der erwünschte Partner, der mich zu einer Partie herausforderte. Er hiess  McConnor und war ein schottischer Tiefbauingenieur, der wie ich hörte, bei Oelbohrungen in Kalifornien ein grosses Vermögen gemacht hatte, von äusserem Aussehen ein stämmiger Mensch mit starken, fast quadratisch harten Kinnbacken, kräftigen Zähnen und einer satten Gesichtsfarbe, deren prononcierte Rötlichkeit wahrscheinlich zumindest teilweise reichlichem Genuss von Whisky zu verdanken war. Die auffällig breiten, fast athletisch vehementen Schultern machten sich leider auch im Spiel charaktermässig bemerkbar, denn dieser Mister McConnor gehörte zu jener Sorte selbstbewusster Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiele eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persönlichkeitsbewusstseins empfinden. Gewöhnt, sich im Leben rücksichtslos durchzusetzen und verwöhnt vom faktischen Erfolg, war dieser massive Selfmade-man derart unerschütterlich von seiner Ueberlegenheit durchdrungen, dass jeder Widerstand ihn als ungebührliche Auflehnung und beinahe als Beleidigung erregte. Als er die erste Partie verlor, wurde er mürrisch und begann umständlich und diktatorisch zu erklären, dies könnte nur durch eine momentane Unaufmerksamkeit geschehen sein, bei der dritten machte er den Lärm im Nachbarraum für sein Versagen verantwortlich; nie war er gewillt, eine Partie zu verlieren, ohne sofort Revanche zu fordern. Anfangs amüsierte mich diese ehrgeizige Verbissenheit; schliesslich nahm ich sie nur mehr als unvermeidliche Begleiterscheinung für meine eigentliche Absicht hin, den Weltmeister an unseren Tisch zu locken.

Am dritten Tag gelang es und gelang doch nur halb. Sei es, dass Czentovic uns vom Promenadedeck aus durch das Bordfenster vor dem Schachbrett beobachtet oder er nur zufälligerweise den Smoking Room mit seiner Anwesenheit beehrte — jedenfalls trat er, sobald er uns Unberufene seine Kunst ausüben sah, unwillkürlich einen Schritt näher und warf aus dieser gemessenen Distanz einen prüfenden Blick auf unser Brett. McConnor war gerade am Zuge. Und schon dieser eine Zug schien ausreichend, um Czentovic zu belehren, wie wenig ein weiteres Verfolgen unserer dilettantischen Bemühungen seines meisterlichen Interesses würdig sei. Mit derselben selbstverständlichen Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur anzublättern, trat er von unserem Tische fort und verliess den Smoking Room. “Gewogen und zu leicht befunden” dachte ich mir, ein bisschen verärgert durch diesen kühlen, verächtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft zu machen, äusserte ich zu McConnor:

“Ihr Zug scheint den Meister nicht sehr begeistert zu haben.”

“Welchen Meister?”

Ich erklärte ihm, jener Herr, der eben an uns vorübergegangen und mit missbilligendem Blick auf unser Spiel gesehen, sei der Weltschachmeister Czentovic gewesen. Nun, fügte ich bei, wir beide würden es überstehen und ohne Herzleid uns mit seiner illustren Verachtung abfinden; arme Leute müssten eben mit Wasser kochen. Aber zu meiner Ueberraschung übte auf McConnor meine lässige Mitteilung eine völlig unerwartete Wirkung. E r wurde sofort erregt, vergass unsere Partie, und sein Ehrgeiz begann geradezu hörbar zu pochen. Er habe keine Ahnung gehabt, dass Czentovic an Bord sei und Czentovic müsse unbedingt gegen ihn spielen. Er habe noch nie im Leben gegen einen Weltmeister gespielt ausser einmal bei einer Simultanpartie mit vierzig anderen; schon das sei furchtbar spannend gewesen und er habe damals beinahe gewonnen. Ob ich den Schachmeister persönlich kenne? Ich verneinte. Ob ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte ab mit der Begründung, Czentovic sei meines Wissens für neue Bekanntschaften nicht sehr zugänglich. Ausserdem, was für einen Reiz sollte es einem Weltmeister bieten, mit uns drittklassigen Spielern sich abzugeben?

Nun, das von drittklassigen Spielern hätte ich zu einem  dermassen ehrgeizigen Manne wie McConnor lieber nicht äussern sollen. Er lehnte sich verärgert zurück und erklärte schroff, er für seinen Teil könne nicht glauben, dass Czentovic die höfliche Aufforderung eines Gentleman ablehnen werde; dafür werde er schon sorgen. Auf seinen Wunsch gab ich ihm eine kurze Personenbeschreibung des Weltmeisters und schon stürmte er, unser Schachbrett gleichgültig im Stiche lassend, in beherrschter Ungeduld Czentovic auf das Promenadedeck nach. Wieder spürte ich, dass der Besitzer dermassen breiter Schultern nicht zu halten war, sobald er einmal seinen  Willen in eine Sache geworfen.

Ich wartete ziemlich gespannt. Nach etwa zehn Minuten kehrte McConnor zurück, nicht sehr aufgeräumt, wie mir  schien.

“Nun?” fragte ich.

“Sie haben recht gehabt”, antwortete er etwas verärgert. “Kein sehr angenehmer Herr. Ich stellte mich vor, erklärte ihm, wer ich sei. Er reichte mir nicht einmal die Hand. Ich versuchte ihm auseinanderzusetzen, wie stolz und geehrt wir alle an Bord sein würden, wenn er eine Simultanpartie gegen uns spielen wollte. Aber er hielt seinen Rücken verflucht steif; es täte ihm leid, aber er habe kontraktliche Verpflichtungen gegen seinen Agenten, die ihm ausdrücklich untersagten, während seiner ganzen Tournee ohne Honorar zu spielen. Sein Minimum sei zweihundertfünfzig Dollar pro Partie.”

Ich lachte. “Auf diesen Gedanken wäre ich eigentlich nie geraten, dass Figuren von schwarz auf weiss zu schieben, ein derart einträgliches Geschäft sein kann. Nun, ich hoffe, Sie haben sich ebenso höflich empfohlen.”

Aber McConnor blieb vollkommen ernst. “Die Partie ist für morgen nachmittag drei Uhr angesetzt. Hier im Rauchsalon. Ich hoffe, wir werden uns nicht so leicht zu Brei schlagen lassen.”

“Wie? Sie haben ihm die zweihundertfünfzig Dollar bewilligt?” , rief ich ganz betroffen aus.

“Warum nicht? Cest son metier. Wenn ich Zahnschmerzen hätte und es wäre zufällig ein Zahnarzt an Bord, würde ich auch nicht verlangen, dass er mir den Zahn umsonst ziehen soll. Der Mann hat ganz recht, die Preise zu machen; in jedem Fach sind die wirklichen Könner auch die besten Geschäftsleute. Und was mich betrifft, je klarer ein Geschäft, umso besser. Ich zahle lieber in Cash, als mir von einem Herrn Czentovic Gnaden erweisen zu lassen und mich am Ende noch bei ihm bedanken zu müssen. Schliesslich habe ich in unserem Klub schon mehr an einem Abend verloren als zweihundertfünfzig Dollar und dabei mit keinem Weltmeister gespielt. Für ‘drittklassige’ Spieler ist es keine Schande, von einem Czentovic umgelegt zu werden.”

Es amüsierte mich zu bemerken, wie tief ich McConnors Selbstgefühl mit dem einen unschuldigen Wort “Drittklassiger Spieler” gekränkt hatte. Aber da er den teuren Spass zu bezahlen gesonnen war, hatte ich nichts einzuwenden gegen seinen deplacierten Ehrgeiz, der mir endlich die Bekanntschaft meines Kuriosums vermitteln sollte. Wir verständigten eiligst die vier oder fünf Herren, die sich bisher als Schachspieler deklariert hatten, von dem bevorstehenden Ereignis und liessen, um von durchgehenden Passanten möglichst wenig gestört zu werden, nicht nur unseren Tisch sondern auch die Nachbartische für das bevorstehende Match im voraus reservieren.

Am nächsten Tage war unsere kleine Gruppe zur vereinbarten Stunde vollzählig erschienen. Der Mittelplatz gegenüber dem Meister blieb selbstverständlich McConnor zugeteilt, der seine Nervosität entlud, indem er eine schwere Zigarre nach der anderen anzündete und immer wieder unruhig auf die Uhr blickte. Aber der Weltmeister liess — ich hatte nach den Erzählungen meines Freundes derlei schon geahnt — gute zehn Minuten auf sich warten, wodurch allerdings sein Erscheinen dann erhöhten Applomb erhielt. Er trat ruhig und gelassen auf den Tisch zu. Ohne sich vorzustellen — “Ihr wisst, wer ich bin, und wer ihr seid, interessiert mich nicht” , schien diese Unhöflichkeit zu besagen — begann er mit fachmännischer Trockenheit die sachlichen Anordnungen. Da eine Simultanpartie hier an Bord aus Mangel an verfügbaren Schachbrettern unmöglich sei, schlage er vor, dass wir alle gemeinsam gegen ihn spielen sollten. Nach jedem Zug werde er, um unsere Beratungen nicht zu stören, sich zu einem anderen Tisch am Ende des Raumes verfügen. Sobald wir unseren Gegenzug getan, sollten wir, da bedauerlicherweise keine Tischglocke zur Hand sei, mit dem Löffel gegen ein Glas klopfen. Als maximale Zeit schlage er zehn Minuten vor, falls wir keine andere Einteilung wünschten. Wir pflichteten selbstverständlich wie schüchterne Schüler jedem Vorschlag bei. Die Farbenwahl teilte Czentovic schwarz zu; noch im Stehen tat er den ersten Gegenzug und wandte sich dann gleich dem von ihm vorgeschlagenen Warteplatz zu, wo er lässig hingelehnt eine illustrierte Zeitung durchblätterte.

Es hat wenig Sinn, über die Partie zu berichten. Sie endete selbstverständlich, wie sie enden musste, mit unsrer totalen Niederlage und zwar bereits beim vierundzwanzigsten Zuge. Dass nun ein Weltschachmeister ein halbes Dutzend mittlerer oder untermittlerer Spieler mit der linken Hand niederfegt, war an sich wenig erstaunlich; verdriesslich wirkte eigentlich auf uns alle nur die präpotente Art, mit der Czentovic es uns allzu deutlich fühlen liess,  dass er uns mit der linken Hand erledigte. Er warf jedesmal  nur einen scheinbar flüchtigen Blick auf das Brett,  sah an uns lässig vorbei, als ob wir selbst tote Holzfiguren  wären, und diese impertinente Geste erinnerte  unwillkürlich an die, mit der man einem räudigen Hund  abgewendeten Blickes einen Brocken zuwirft. Bei einiger  Feinfühligkeit hätte er meiner Meinung nach uns auf  Fehler aufmerksam machen können oder durch ein  freundliches Wort aufmuntern. Aber auch nach Beendigung  der Partie äusserte dieser unmenschliche Schachautomat  keine Silbe, sondern wartete, nachdem er “matt” gesagt,  regungslos vor dem Tische, ob man noch eine weitere Partie von ihm wünsche. Schon war ich auf gestanden, um, hilflos wie man immer gegen dickfellige Grobheit bleibt, durch eine Geste anzudeuten, dass mit diesem erledigten Dollargeschäft wenigstens meinerseits das Vergnügen unserer Bekanntschaft beendet sei, als zu meinem Aerger neben mir Mc Connor mit ganz heiserer Stimme sagte: “Revanche!”

Ich erschrack geradezu über den herausfordernden Ton; tatsächlich bot McConnor in diesem Augenblick eher den Eindruck eines Boxers vor dem Losschlagen als den eines höflichen Gentlemans. War es die unangenehme Art der Behandlung, die uns Czentovic hatte zuteil werden lassen oder nur sein pathologisch reizbarer Ehrgeiz — jedenfalls war McConnors Wesen vollkommen verändert. Rot im Gesicht bis hoch hinauf an das Stirnhaar, die Nüstern von innerem Druck stark aufgespannt, transpirierte er sichtlich, und von den verbissenen Lippen schnitt sich scharf eine Falte gegen sein kämpferisch vorgestrecktes Kinn. Ich erkannte beunruhigt in seinen Augen jenes Flackern unbeherrschter Leidenschaft, wie sie sonst Menschen nur am Roulettetisch angreift, wenn zum sechsten- oder siebenten Mal bei immer verdoppeltem Einsatz nicht die richtige Farbe kommt. In diesem Augenblick wusste ich, dieser fanatisch Ehrgeizige würde, und sollte es ihn sein ganzes Vermögen kosten, gegen Czentovic solange spielen und spielen und spielen, einfach oder doubliert, bis er wenigstens ein einziges Mal eine Partie gewonnen. Wenn Czentovic durchhielt, so hatte er an McConnor eine Goldgrube gefunden, aus der er bis Buenos Aires ein paar tausend Dollar schaufeln konnte.

Czentovic blieb unbewegt. “ Bitte” , antwortete er höflich. “Die Herren spielen jetzt schwarz.”

Auch die zweite Partie bot kein verändertes Bild, ausser dass durch einige Neugierige unser Kreis nicht nur grösser, sondern auch lebhafter geworden war.

McConnor blickte so starr auf das Brett, als wollte er mit seinem Willen die Figuren zu gewinnen magnetisieren; ich spürte ihm an, dass er auch tausend Dollar begeistert geopfert hätte für den Lustschrei “Matt!” gegen den kaltschnäuzigen Gegner. Merkwürdigerweise ging etwas von seiner verbissenen Erregung unbewusst in uns über. Jeder einzelne Zug wurde ungleich leidenschaftlicher diskutiert als vordem, immer hielten wir noch im letzten Moment einer den anderen zurück, ehe wir uns einigten, das Zeichen zu geben, das Czentovic an unseren Tisch zurückberief. Allmählich waren wir beim siebzehnten Zug angelangt und zu unserer eigenen Ueberraschung eine Konstellation eingetreten, die verblüffend vorteilhaft schien, weil es uns gelungen war, den Bauern der c- Linie bis auf das vorletzte Feld c2 zu bringen; wir brauchten ihn nur vorzuschieben auf c1, um eine neue Dame zu gewinnen. Ganz behaglich war uns freilich nicht bei dieser allzu offenkundigen Chance; wir argwöhnten einmütig, dieser scheinbar von uns errungene Vorteil müsste von Czentovic, der doch die Situation viel weitblickender übersah, mit Absicht uns als Angelhaken zugeschoben sein. Aber trotz angestrengtem gemeinsamen Suchen und Diskutieren vermochten wir die versteckte Finte nicht wahrzunehmen. Schliesslich, schon knapp am Rande der verstatteten Ueberlegungsfrist, entschlossen wir uns, den Zug zu wagen. Schon rührte McConnor den Bauern an, um ihn auf das letzte Feld zu schieben, als er sich äh am Arm gepackt fühlte und jemand leise und heftig flüsterte: “Um Gotteswillen! Nicht!”

Unwillkürlich wandten wir uns alle um. Ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, dessen schmales scharfes Gesicht mir schon vordem auf der Deckpromenade durch seine merkwürdige, fast kreidige Blässe aufgefallen war, musste in den letzten Minuten, indes wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem Problem zuwandten, zu uns getreten sein. Hastig fügte er, unseren Blick spürend hinzu:

“Wenn Sie jetzt eine Dame machen, schlägt er sie sofort mit dem Läufer c1, Sie nehmen mit dem Springer zurück. Aber inzwischen geht er mit seinem Freibauern auf d7, bedroht Ihren Turm, und auch wenn Sie mit dem Springer Schach sagen, verlieren Sie und sind nach neun bis zehn Zügen erledigt. Es ist beinahe dieselbe Konstellation, wie sie Aljechin gegen Bogoljubow 1922 im Pistyaner Grossturnier initiiert hat.”

McConnor liess erstaunt die Hand von der Figur und starrte nicht minder verwundert als wir alle auf den Mann, der wie ein unvermuteter Engel helfend vom Himmel kam. Jemand, der auf neun Züge voraus ein Matt errechnen konnte, musste ein Fachmann ersten Ranges sein, vielleicht sogar ein Konkurrent um die Meisterschaft, der zum gleichen Turnier reiste, und sein plötzliches Eingreifen, sein Kommen gerade in einem so kritischen Moment hatte etwas fast Uebernatürliches. Als erster fasste sich McConnor:

“Was würden Sie raten?” , flüsterte er aufgeregt.

“Nicht gleich vorziehen, sondern zunächst ausweichen! Vor allem mit dem König abrücken aus der gefährdeten Linie von g8 auf h7. Er wird dann wahrscheinlich den Angriff auf die andere Flanke hinüber werfen. Aber das parieren Sie mit Turm c8—c4; das kostet ihn in zwei Tempis einen Bauern und damit die Ueberlegenheit. Dann steht Freibauer gegen Freibauer, und wenn sie sich richtig defensiv halten, kommen Sie noch auf Remis. Mehr ist nicht herauszuholen.”

Wir staunten abermals. Die Präzision nicht minder als die Raschheit seiner Berechnung hatte etwas Verwirrendes; es war, als ob er die Züge aus einem gedruckten Buch ablesen würde. Immerhin wirkte die unvermutete Chance, dank seines Eingreifens unsere Partie gegen einen Weltmeister auf Remis zu bringen, zauberisch. Einmütig rückten wir zur Seite, um ihm freieren Blick auf das Brett zu gewähren. Noch einmal fragte McConnor:

“Also König g8 auf h7?”

“Jawohl! Ausweichen vor allem!”

McConnor gehorchte und wir klopften an das Glas. Czentovic trat mit seinem gewohnt-gleichmütigen Schritt an unseren Tisch und mass mit einem einzigen Blick den Gegenzug. Dann zog er auf dem Königsflügel den Bauern h2— h4, genau wie es unser unbekannter Helfer vorausgesagt. Und schon flüsterte dieser aufgeregt:

“Turm vor, Turm vor, c8 auf c4, er muss dann zuerst den Bauern decken. Aber das wird ihm nichts helfen! Sie schlagen, ohne sich um seinen Freibauern zu kümmern, mit dem Springer c3—d5, und das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Den ganzen Druck nach vorwärts, statt zu verteidigen.”

Wir verstanden nicht, was er meinte. Für uns war, was er sagte, chinesisch. Aber schon einmal in seinem Bann, zog McConnor, ohne zu überlegen, wie jener geboten. Wir schlugen abermals an das Glas, um Czentovic zurückzurufen. Zum ersten Male entschied er sich nicht rasch, sondern blickte gespannt auf das Brett.

Unwillkürlich schoben sich seine Brauen zusammen. Dann tat er genau den Zug, den der Fremde uns angekündigt und wandte sich zum Gehen. Jedoch ehe er zurücktrat, geschah etwas Neues und Unerwartetes. Czentovic hob den Blick und musterte unsere Reihen; offenbar wollte er herausfinden, wer ihm mit einemmale so energischen Widerstand leistete.

Von diesem Augenblick an wuchs unsere Erregung ins Unermessene. Bisher hatten wir ohne ernstliche Hoffnung gespielt, nun aber trieb der Gedanke, den kalten Hochmut Czentovics zu brechen, uns eine fliegende Hitze durch alle Pulse. Schon aber hatte unser neuer Freund den nächsten Zug angeordnet und wir konnten — die Finger zitterten mir, als ich den Löffel an das Glas schlug — Czentovic zurückrufen. Und nun kam unser erster Triumph. Czentovic, der bisher immer nur im Stehen gespielt, zögerte und setzte sich schliesslich nieder. Er setzte sich langsam und schwerfällig; damit aber war schon rein körperlich das bisherige Von-oben-herab zwischen ihm und uns aufgehoben. Wir hatten ihn genötigt, sich wenigstens räumlich auf eine Ebene mit uns zu begeben. Er überlegte lange, die Augen unbeweglich auf das Brett gesenkt, sodass man kaum mehr die Pupillen unter den schweren Lidern wahrnehmen konnte, und im angestrengten Nachdenken öffnete sich ihm allmählich der Mund, was seinem runden Gesicht ein etwas einfältiges Aussehen gab. Czentovic überlegte einige Minuten, dann tat er seinen Zug und stand auf. Und schon flüsterte unser Freund:

“Ein Hinhaltezug! Gut gedacht! Aber nicht darauf eingehen! Abtausch forcieren, unbedingt Abtausch, dann kommen wir auf Remis und kein Gott kann ihm helfen.”

McConnor gehorchte. Es begann in den nächsten Zügen zwischen den beiden — wir anderen waren längst zu leeren Statisten herabgesunken — ein uns unverständliches Hin und Her. Nach etwa sieben Zügen sah Czentovic nach längerem Nachdenken auf und erklärte “Remis!”

Einen Augenblick herrschte totale Stille. Man hörte plötzlich die Wellen rauschen und das Radio aus dem Salon herüberjazzen, man vernahm jeden Schritt von dem Promenadedeck und das leise feine Sausen des Winds, der durch die Fugen der Fenster fuhr. Keiner von uns atmete, es war zu plötzlich gekommen und wir alle noch geradezu erschrocken über das Unwahrscheinliche, dass dieser Unbekannte dem Weltmeister in einer schon halb verlorenen Partie seinen Willen aufgezwungen haben sollte. McConnor lehnte sich mit dem Rücken zurück, der angehaltene Atem fuhr ihm hörbar in einem beglückten “Ah !” von den Lippen. Ich wiederum beobachtete Czentovic. Schon bei den letzten Zügen hatte mir geschienen, als ob er blasser geworden sei. Aber er verstand sich gut zusammenzuhalten. Er verharrte in seiner scheinbar gleichmütigen Starre und fragte nur in lässiger Weise, während er die Figuren mit ruhiger Hand vom Brette schob:

“Wünschen die Herren noch eine dritte Partie?”

Er stellte die Frage rein sachlich, rein geschäftlich. Aber das Merkwürdige war: er hatte dabei nicht McConnor angeblickt, sondern scharf und gerade das Auge gegen unseren Retter gehoben. Wie ein Pferd am festeren Sitz einen neuen, einen besseren Reiter, musste er an den letzten Zügen seinen wirklichen, seinen eigentlichen Gegner erkannt haben. Unwillkürlich folgten wir seinem Blick und sahen gespannt auf den Fremden. Jedoch ehe dieser sich besinnen oder gar antworten konnte, hatte in seiner ehrgeizigen Erregung McConnor schon triumphierend ihm zugerufen:

“Selbstverständlich! Aber jetzt müssen Sie allein gegen ihn spielen! Sie allein gegen Czentovic!”

Doch nun ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Der Fremde, der merkwürdigerweise noch immer angestrengt auf das schon abgeräumte Schachbrett starrte, schrak auf, da er alle Blicke auf sich gerichtet und sich so begeistert angesprochen fühlte. Seine Züge verwirrten sich.

“Auf keinen Fall, meine Herren” , stammelte er sichtlich betroffen. “Das ist völlig ausgeschlossen. . ., ich komme gar nicht in Betracht. . . Ich habe seit zwanzig, nein, fünfundzwanzig Jahren vor keinem Schachbrett gesessen und. . . und ich sehe erst jetzt, wie ungehörig ich mich betragen habe, indem ich mich ohne Ihre Verstattung in Ihr Spiel einmengte. Bitte entschuldigen Sie meine Vordringlichkeit. . . Ich will gewiss nicht weiter stören.” Und noch ehe wir uns von unserer Ueberraschung zurechtgefunden, hatte er sich bereits zurückgezogen und das Zimmer verlassen.

“Aber das ist doch ganz unmöglich!”, dröhnte der temperamentvolle McConnor, mit der Faust aufschlagend. “Völlig ausgeschlossen, dass dieser Mann fünfundzwanzig Jahre nicht Schach gespielt haben soll! Er hat doch jeden Zug, jede Gegenpointe auf fünf, auch sechs Züge vorausberechnet. So etwas kann niemand aus dem Handgelenk. Das ist doch völlig ausgeschlossen — nicht wahr?”

Mit der letzten Frage hatte sich McConnor unwillkürlich an Czentovic gewandt. Aber der Weltmeister blieb unerschütterlich kühl.

“Ich vermag darüber kein Urteil abzugeben. Jedenfalls hat der Herr etwas befremdlich und interessant gespielt; deshalb habe ich ihm auch absichtlich eine Chance gelassen.” Gleichzeitig lässig aufstehend, fügte er in seiner sachlichen Art bei:

“Sollte der Herr oder die Herren morgen eine abermalige Partie wünschen, so stehe ich von drei Uhr ab zur Verfügung.”

Wir konnten ein leises Lächeln nicht unterdrücken. Jeder von uns wusste, dass Czentovic unserem unbekannten Helfer keineswegs grossmütig eine Chance gelassen und diese seine Bemerkung nichts anderes als eine naive Ausflucht war, um sein eigenes Versagen zu maskieren. Umso heftiger wuchs unser Verlangen, einen derart unerschütterlichen Hochmut gedemütigt zu sehen. Mit einem Mal war über uns friedliche, lässige Bordbewohner eine wilde, ehrgeizige Kampflust gekommen, denn der Gedanke, dass gerade auf unserem Schiff mitten auf dem Ozean dem Schachmeister die Palme entrungen werden könnte — ein Rekord, der dann von allen Telegraphenbüros über die ganze Welt hingeblitzt würde — faszinierte uns in herausforderndster Weise. Dazu kam noch der Reiz des Mysteriösen, der von dem unerwarteten Eingreifen unseres Retters gerade im kritischen Momente ausging, und der Kontrast seiner fast ängstlichen Bescheidenheit mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein des Professionellen.

Wer war dieser Unbekannte? Hatte hier der Zufall ein noch unentdecktes Schachgenie zutage gefördert? Oder verbarg uns aus einem unerforschlichen Grunde ein berühmter Meister seinen Namen? Alle diese Möglichkeiten erörterten wir in aufgeregtester Weise; selbst die verwegensten Hypothesen waren uns nicht verwegen genug, um die rätselhafte Scheu und das überraschende Bekenntnis des Fremden mit seiner doch unverkennbaren Spielkunst in Einklang zu bringen. In einer Hinsicht jedoch blieben wir alle einig: keinesfalls auf das Schauspiel eines neuerlichen Kampfes zu verzichten. Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser Helfer am nächsten Tage eine Partie gegen Czentovic spiele, für deren materielles Risiko McConnor aufzukommen sich verpflichtete. Da sich inzwischen durch Umfrage beim Stewart herausgestellt hatte, dass der Unbekannte ein Oesterreicher sei, wurde mir als Landsmann der Auftrag zugeteilt, ihm unsere Bitte zu unterbreiten.

 






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