Ich
benötigte nicht
lange, auf dem Promenadedeck den so eilig Entflüchteten aufzufinden. Er
lag auf
seinem Deck-chair und las. Ehe ich auf ihn zutrat, nahm ich die
Gelegenheit wahr, ihn
zu betrachten. Der scharfgeschnittene Kopf ruhte in der Haltung
leichter
Ermüdung auf dem Kissen; abermals fiel mir die merkwürdige Blässe des
verhältnismässig jungen Gesichtes besonders auf, dem die Haare blendend
weiss
die Schläfen rahmten; ich hatte, ich weiss nicht warum, den Eindruck,
dieser Mann
müsse plötzlich gealtert sein. Kaum ich auf ihn zutrat, erhob er sich
höflich
und stellte sich mit einem Namen vor, der mir sofort vertraut war als
der einer
hochangesehenen altösterreichischen Familie. Ich erinnerte mich, dass
ein
Träger dieses Namens zu dem engsten Freundeskreis Schuberts gehört
hatte und auch
einer der Leibärzte des alten Kaisers dieser Familie entstammte. Als
ich Dr. B.
unsere Bitte übermittelte, die Herausforderung Czentovics anzunehmen,
war er
sichtlich verblüfft. Es erwies sich, dass er keine Ahnung gehabt hatte,
bei
jener Partie einen Weltmeister und gar den zur Zeit erfolgreichsten
ruhmreich
bestanden zu haben. Aus irgend einem Grunde schien diese Mitteilung auf
ihn
besonderen Eindruck zu machen, denn er erkundigte sich immer und immer
wieder
von neuem, ob ich dessen gewiss sei, dass sein Gegner tatsächlich ein
anerkannter Weltmeister gewesen. Ich merkte bald, dass dieser Umstand
meinen Auftrag
erleichterte, und hielt es nur, seine Feinfühligkeit spürend, für
ratsam zu
verschweigen, dass das materielle Risiko einer allfälligen Niederlage
zu Lasten
von McConnors Kasse ginge. Nach längerem Zögern erklärte sich Dr. B.
schliesslich
zu einem Match bereit, doch nicht, ohne ausdrücklich gebeten zu haben,
die anderen
Herren nochmals zu warnen, sie möchten keineswegs auf sein Können
übertriebene
Hoffnungen setzen.
“Denn”
, fügte er mit
einem versonnenen Lächeln hinzu, “ ich weiss wahrhaftig nicht, ob ich
fähig
bin, eine Schachpartie nach allen Regeln richtig zu spielen. Bitte
glauben Sie
mir, dass es keineswegs falsche Bescheidenheit war, wenn ich sagte,
dass ich
seit meiner Gymnasialzeit, also seit mehr als zwanzig Jahren, keine
Schachfigur mehr berührt
habe. Und selbst zu jener Zeit galt ich bloss als Spieler ohne
sonderliche
Begabung.”
Er
sagte dies in einer so
natürlichen Weise, dass ich nicht den leisesten Zweifel an seiner
Aufrichtigkeit hegen durfte. Dennoch konnte ich nicht umhin, meiner
Verwunderung Ausdruck zu
geben, wie genau er an jede einzelne Kombination der verschiedenen
Meister sich
erinnern könne; immerhin müsse er sich doch wenigstens theoretisch mit
Schach
viel beschäftigt haben. Dr. B. lächelte abermals in jener merkwürdig
traumhaften Art.
“Viel
beschäftigt! —
weiss Gott, das kann man wohl sagen, dass ich mich mit Schach viel
beschäftigt
habe. Aber das geschah unter ganz besonderen, ja völlig einmaligen
Umständen.
Es war dies eine ziemlich komplizierte Geschichte, und sie könnte
allenfalls
als kleiner Beitrag gelten zu unserer lieblichen grossen Zeit. Wenn Sie
eine
halbe Stunde Geduld haben. . . ”
Er
hatte auf den
Deck-chair neben sich gedeutet. Gerne folgte ich seiner Einladung. Wir
waren
ohne Nachbarn. Dr. B. nahm die Lesebrille von den Augen, legte sie zur
Seite
und begann:
“Sie
waren so freundlich
zu äussern, dass Sie sich als Wiener des Namens meiner Familie
erinnerten. Aber
ich vermute, Sie werden kaum von der Rechtsanwaltskanzlei gehört haben,
die ich
gemeinsam mit meinem Vater und späterhin allein leitete, denn wir
führten keine
Causen, die publizistisch in der Zeitung abgehandelt wurden und
vermieden aus
Prinzip neue Klienten. In Wirklichkeit hatten wir eigentlich gar keine
richtige
Anwaltspraxis mehr, sondern beschränkten uns ausschliesslich auf die
Rechtsberatung und vor allem Vermögensverwaltung der grossen Klöster,
denen
mein Vater als früherer Abgeordneter der klerikalen Partei nahe stand.
Ausserdem war uns — heute, da die Monarchie der Geschichte angehört,
darf man
wohl schon darüber sprechen — die Verwaltung der Fonds einiger
Mitglieder der
kaiserlichen Familie anvertraut. Diese Verbindungen zum Hof und zum
Klerus —
mein Onkel war Leibarzt des Kaisers, ein anderer Abt in Seitenstetten —
reichten schon zwei Generationen zurück; wir hatten sie nur zu erhalten
und es
war eine stille, eine, möchte ich sagen, lautlose Tätigkeit, die uns
durch dies
ererbte Vertrauen zugeteilt war, eigentlich nicht viel mehr erfordernd
als die
strengste Diskretion und Verlässlichkeit, zwei Eigenschaften, die mein
verstorbener Vater im höchsten Masse besass; ihm ist es tatsächlich
gelungen,
sowohl in den Inflationsjahren als in jenen des Umsturzes durch seine
Umsicht
seinen Klienten beträchtliche Vermögenswerte zu erhalten. Als dann
Hitler in
Deutschland ans Ruder kam und gegen den Besitz der Kirche und der
Klöster seine
Raubzüge begann, gingen auch von jenseits der Grenze mancherlei
Verhandlungen
und Transaktionen, um wenigstens den mobilen Besitz vor Beschlagnahme
zu
retten, durch unsere Hände, und von gewissen
geheimen politischen Verhandlungen der Kurie und des Kaiserhauses
wussten wir
beide mehr, als die Oeffentlichkeit je erfahren wird. Aber gerade die
Unauffälligkeit unserer Kanzlei — wir führten nicht einmal ein Schild
an der Tür
— sowie die Vorsicht, dass wir beide alle Monarchistenkreise in Wien
ostentativ
mieden, bot sichersten Schutz vor unberufenen Nachforschungen. De facto
hat in
all diesen Jahren keine Behörde in Oesterreich jemals vermutet, dass
die
geheimen Kuriere des Kaiserhauses ihre wichtigste Post immer gerade in
unserer
unscheinbaren Kanzlei im vierten Stock abholten und abgaben.
Nun
hatten die
Nationalsozialisten, längst ehe sie ihre Armeen gegen die Welt
aufrüsteten,
eine andere ebenso gefährliche und geschulte Armee in allen
Nachbarländern zu organisieren begonnen, die Legion der
Benachteiligten, der Zurückgesetzten, der
Gekränkten. In jedem Amt, in jedem Betrieb waren ihre sogenanten
“Zellen” eingenistet,
an jeder Stelle bis hinauf in die Privatzimmer von Dollfuss und
Schuschnigg sassen ihre Horchposten und Spione. Selbst in unserer
unscheinbaren
Kanzlei hatten sie, wie ich leider erst zu spät erfuhr, ihren Mann. Es
war freilich
nicht mehr als ein jämmerlicher und talentloser Kanzlist, den ich auf
Empfehlung eines Pfarrers einzig deshalb angestellt hatte, um der
Kanzlei nach
aussen hin den Anschein eines regulären Betriebes zu geben; in
Wirklichkeit
verwerteten wir ihn zu nichts anderem als zu unschuldigen
Botengängen,liessen
ihn das Telephon bedienen und die Akten ordnen, das heisst jene Akten,
die völlig
gleichgültig und unbedenklich waren. Die Post durfte er niemals öffnen,
alle
wichtigen Briefe schrieb ich, ohne Kopien zu hinterlegen, eigenhändig
mit der
Maschine, jedes wesentliche Dokument nahm ich selbst nach Hause und
verlegte
geheime Besprechungen ausschliesslich in die Priorei des Klosters oder
in das Ordinationszimmer
meines Onkels. Dank dieser Vorsichtsmassnahmen bekam dieser Horchposten
von den
eigentlichen Vorgängen nichts zu sehen; aber durch einen unglücklichen
Zufall
musste der ehrgeizige und eitle Bursche
bemerkt haben, dass man ihm misstraute und hinter seinem Rücken
allerhand
Interessantes geschah. Vielleicht hat einmal in meiner Abwesenheit
einer der Kuriere
unvorsichtigerweise von “Seiner Majestät” gesprochen statt wie
vereinbart vom “Baron
Fern”, oder der Lump musste Briefe widerrechtlich geöffnet haben —
jedenfalls holte
er sich, ehe ich Verdacht schöpfen konnte, von München oder Berlin
Auftrag, uns
zu überwachen.
Erst
viel später, als ich
längst in Haft sass, erinnerte ich mich, dass seine anfängliche
Lässigkeit im Dienst
sich in den letzten Monaten in plötzlichen Eifer verwandelt hatte und
er sich
mehrfach beinahe zudringlich angeboten, meine Korrespondenz zur Post zu
bringen. Ich kann mich von einer gewissen Unvorsichtigkeit also nicht
freisprechen, aber sind schliesslich nicht auch die grössten Diplomaten
und
Militärs der Welt von der Hitlerei heimtückisch überspielt worden? Wie
genau und
liebevoll die Gestapo mir längst ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte,
erwies
dann äusserst handgreiflich der Umstand, dass noch am
selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung gab und einen Tag, ehe
Hitler in Wien
einzog, ich bereits von S. S. Leuten festgenommen war. Die
allerwichtigsten
Papiere war es mir glücklicherweise noch gelungen zu verbrennen, kaum
ich im
Radio die Abschiedsrede Schuschniggs gehört, und den Rest der Dokumente
mit den
unentbehrlichen Belegen für die im Ausland deponierten Vermögenswerte
der
Klöster und zweier Erzherzoge schickte ich — wirklich in letzter
Minute, ehe
die Burschen mir die Tür einhämmerten — in einem Waschkorb versteckt
durch
meine alte verlässliche Haushälterin zu meinem Onkel hinüber.”
Dr.
B. unterbrach, um
sich eine Zigarre anzuzünden. Bei dem aufflackernden Licht bemerkte
ich, dass
ein nervöses Zucken um seinen rechten Mundwinkel lief, das mir schon
vorher
aufgefallen war und, wie ich beobachten konnte, sich jede paar Minuten
wiederholte. Es war nur eine flüchtige Bewegung, kaum stärker als ein
Hauch, aber sie gab dem
ganzen Gesicht eine merkwürdige Unruhe.
“Sie
vermuten nun
wahrscheinlich, dass ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager erzählen
werde, in
das doch alle jene überführt wurden, die unserem alten Oesterreich die
Treue
gehalten, von den Erniedrigungen, Martern, Torturen, die ich dort
erlitten.
Aber nichts dergleichen geschah. Ich kam in eine andere Kategorie. Ich
wurde
nicht zu jenen Unglücklichen getrieben, an denen man mit körperlichen
und
seelischen Erniedrigungen ein lang aufgespartes Ressentiment austobte,
sondern
jener anderen, ganz kleinen Gruppe zugeteilt, aus denen die
Nationalsozialisten
entweder Geld oder wichtige Informationen herauszupressen hofften. An
sich war
meine bescheidene Person natürlich der Gestapo völlig uninteressant.
Sie
mussten aber erfahren haben, dass wir die Strohmänner, die Verwalter
und
Vertrauten ihrer erbittertsten Gegner gewesen, und was sie von mir zu
erpressen
hofften, war belastendes Material: Material gegen die Klöster, denen
sie Vermögensverschiebungen
nachweisen wollten, Material gegen die kaiserliche Familie und alle
jene, die in Oesterreich sich aufopfernd für die Monarchie eingesetzt.
Sie vermuteten — und wahrhaftig nicht zu Unrecht — dass von jenen
Fonds, die durch unsere Hände gegangen waren, wesentliche Bestände sich
noch ihrer Raublust
unzugänglich versteckten; so holten sie mich darum gleich am ersten Tag
heran,
um mit ihren bewährten Methoden mir diese Geheimnisse abzuzwingen.
Leute meiner
Kategorie, aus denen wichtiges Material oder Geld herausgepresst werden
sollte,
wurden deshalb nicht in Konzentrationslager abgeschoben, sondern für
eine
besondere Behandlung aufgespart. Sie erinnern sich vielleicht, dass
unser Kanzler
und anderseits der Baron Rothschild, dessen Verwandten sie Millionen
abzunötigen
hofften, keineswegs hinter Stacheldraht in ein Gefangenenlager gesetzt
sondern
unter scheinbarer Bevorzugung in
ein Hotel, das Hotel Metropole, das zugleich Hauptquartier der Gestapo
war, überführt
wurden wo jeder von ihnen ein abgesondertes Zimmer erhielt. Auch mir
unscheinbarem Manne wurde diese Auszeichnung erwiesen.
Ein
eigenes Zimmer in einem
Hotel — nicht wahr, das klingt an sich äusserst human? Aber Sie dürfen
mir glauben,
dass man uns keineswegs eine humanere sondern nur eine raffiniertere
Methode
zudachte, wenn man uns “Prominente” nicht zu zwanzig in eine eiskalte
Baracke stopfte,
sondern in einem leidlich geheizten und separaten Hotelzimmer behauste.
Denn
die Pression, mit der man uns das benötigte “Material”
abzwingen wollte, sollte auf subtilere Weise funktionieren als durch
rohe Prügel
oder körperliche Folter: durch die denkbar raffinierteste Isolierung.
Man tat
uns nichts — man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn
bekanntlich
erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche
Seele als
das Nichts. Indem man uns jeden einzeln in ein völliges Vakuum sperrte,
in ein
Zimmer, das hermetisch von der Aussenwelt abgeschlossen war, sollte
statt von
aussen durch Prügel und Kälte jener Druck von innen erzeugt werden, der
uns
schliesslich die Lippen aufsprengte. Auf den ersten Blick sah das mir
zugewiesene Zimmer durchaus nicht unbehaglich aus. Es hatte eine Tür,
einen
Tisch, ein Bett, einen Sessel, eine Waschschüssel, ein vergittertes
Fenster.
Aber die Tür blieb Tag und Nacht verschlossen, auf dem Tisch durfte
kein Buch,
keine Zeitung, kein Blatt Papier, kein Bleistift liegen, das Fenster
starrte
eine Feuermauer an; rings um mein Ich und selbst an meinem eigenen
Körper war
das vollkommene Nichts konstruiert. Man hatte mir jeden Gegenstand
abgenommen,
die Uhr, damit ich nicht wisse um die Zeit, den Bleistift, dass ich
nicht etwa schreiben
könne, das Messer, damit ich mir nicht die Adern öffnen könne; selbst
die
kleinste Betäubung wie eine Zigarette wurde mir versagt. Nie sah ich
ausser dem
Wärter, der kein Wort sprechen und auf keine Frage antworten durfte,
ein
menschliches Gesicht, nie hörte ich eine menschliche Stimme; Auge, Ohr,
alle
Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis morgens nicht
die
geringste Nahrung, man blieb mit sich, mit seinem Körper und den vier
oder fünf
stummen Gegenständen Tisch, Bett, Fenster, Waschschüssel rettungslos
allein;
man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean
dieses
Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, dass das Seil
nach der
Aussenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der
lautlosen
Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall
und
ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlige raumlose und
zeitlose
Leere. Man ging auf und ab und mit einem gingen die Gedanken auf und
ab, auf
und ab, immer wieder. Aber selbst
Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen Stützpunkt, sonst
beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch
sie ertragen
nicht das Nichts. Man wartete auf etwas, von morgens bis abends, und es
geschah
nichts. Man wartete wieder und wieder. Es geschah nichts. Man wartete,
wartete,
wartete, man dachte, man dachte, man dachte, bis einem die Schläfen
schmerzten.
Nichts geschah. Man blieb allein. Allein. Allein.
Das
dauerte vierzehn Tage,
die ich ausserhalb der Zeit, ausserhalb der Welt lebte. Wäre damals ein
Krieg ausgebrochen,
ich hätte es nicht erfahren; meine Welt bestand doch nur aus Tisch,
Tür, Bett,
Waschschüssel, Sessel, Fenster und Wand, und immer starrte ich auf
dieselbe
Tapete an derselben Wand; jede Linie ihres gezackten Musters hat sich
wie mit
ehernem Stichel eingegraben bis in die innerste Falte meines Gehirns,
so oft habe
ich sie angestarrt. Dann endlich begannen die Verhöre. Man wurde
plötzlich
abgerufen, ohne recht zu wissen, ob es Tag war oder Nacht. Man wurde
gerufen und
durch ein paar Gänge geführt, man wusste nicht wohin; dann wartete man
irgendwo
und wusste nicht wo, und stand plötzlich vor einem Tisch, um den ein
paar
uniformierte Leute sassen. Auf dem Tisch lag ein Stoss Papier: die
Akten, von
denen man nicht wusste, was sie enthielten, und dann begannen die
Fragen, die echten
und die falschen, die klaren und die tückischen, die Deckfragen und
Fangfragen,
und während man antwortete, blätterten fremde böse
Finger in den Papieren, von denen man nicht wusste, was sie enthielten,
und fremde
böse Finger schrieben etwas in ein Protokoll und man wusste nicht, was
sie
schrieben. Aber das Fürchterlichste bei diesen Verhören für mich war,
dass ich
nie erraten und errechnen konnte, was die Gestapoleute von den
Vorgängen in meiner
Kanzlei tatsächlich wussten und was sie erst von mir herausholen
wollten. Wie
ich Ihnen bereits sagte, hatte ich die eigentlich belastenden Papiere
meinem
Onkel in letzter Stunde durch die Haushälterin geschickt. Aber hatte er
sie
erhalten? Hatte er sie nicht erhalten? Und wieviel hatte jener Kanzlist
verraten? Wieviel hatten sie an Briefen aufgefangen, wieviel inzwischen
in den deutschen
Klöstern, die wir vertraten, einem ungeschickten Geistlichen vielleicht
schon
abgepresst? Und sie fragten und fragten. Welche Papiere ich für jenes
Kloster
gekauft, mit welchen Banken ich korrespondiert, ob ich einen Herrn
Soundso
kenne oder nicht, ob ich Briefe aus der Schweiz erhalten und aus
Steenockerzeele?
Und da ich nie errechnen konnte, wieviel sie schon ausgekundschaftet
hatten,
wurde jede Antwort zur ungeheuersten Verantwortung. Gab ich etwas zu,
was ihnen
nicht bekannt war, so lieferte ich vielleicht unnötig jemanden
ans Messer. Leugnete ich zuviel ab, schädigte ich mich selbst.
Aber
das Verhör war noch
nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Zurückkommen nach dem
Verhör in
mein Nichts, in dasselbe Zimmer mit demselben Tisch, demselben Bett,
derselben
Waschschüssel, derselben Tapete.
Denn
kaum allein mit mir,
versuchte ich zu rekonstruieren, was ich am klügsten hätte antworten
sollen und
was ich das nächste Mal sagen müsste, um den Verdacht wieder
abzulenken, den
ich vielleicht mit einer unbedachten Bemerkung heraufbeschworen. Ich
überlegte,
ich durchdachte, ich durchforschte, ich überprüfte meine eigene Aussage
auf
jedes Wort, das ich dem Untersuchungsrichter gesagt, ich rekapitulierte
jede
Frage, die sie gestellt, jede Antwort, die ich gegeben, ich versuchte
zu erwägen,
was sie davon protokolliert haben könnten und wusste doch, dass ich das
nie
errechnen und erfahren könnte. Aber diese Gedanken, einmal angekurbelt
im leeren
Raum, hörten nicht auf, im Kopf zu rotieren, immer wieder von neuem, in
immer
anderen Kombinationen, und das ging hinein bis in
den Schlaf; jedesmal nach einer Vernehmung durch die Gestapo übernahmen
ebenso
unerbittlich meine eigenen Gedanken die Marter des Fragens und
Forschens und Quälens,
und vielleicht noch grausamer sogar, denn jene Vernehmungen endeten
doch
immerhin nach einer Stunde und diese nie dank der tückischen Tortur
dieser
Einsamkeit. Und immer um mich nur der Tisch, der Schrank, das Bett, die
Tapete,
das Fenster, keine Ablenkung, kein Buch, keine Zeitung, kein fremdes
Gesicht,
kein Bleistift, um etwas zu notieren, kein Zündholz, um damit zu
spielen,
nichts, nichts, nichts. Jetzt erst gewahrte ich, wie teuflisch
sinnvoll, wie psychologisch
mörderisch erdacht dieses System des Hotelzimmers war. Im
Konzentrationslager
hätte man vielleicht Steine karren müssen, bis einem die Hände bluteten
und die
Füsse in den Schuhen abfroren, man wäre zusammengepackt gelegen mit
zwei
Dutzend Menschen in Stank und Kälte. Aber man hätte Gesichter gesehen,
man hätte
ein Feld, einen Karren, einen Baum, einen Stern, irgend, irgend etwas
anstarren können, indes hier immer dasselbe um einen stand, immer
dasselbe, das
entsetzliche Dasselbe. Hier war nichts, was mich ablenken konnte von
meinen
Gedanken, von meinen Wahnvorstellungen, von meinem krankhaften
Rekapitulieren. Und
gerade das beabsichtigten sie — ich sollte doch würgen und würgen an
meinen
Gedanken, bis sie mich erstickten und ich nicht anders konnte, als sie
schliesslich ausspeien, als auszusagen, alles auszusagen, was sie
wollten, endlich
das Material und die Menschen auszuliefern.
Allmählich
spürte ich, wie
meine Nerven unter diesem grässlichen Druck des Nichts sich zu lockern
begannen, und ich spannte, der Gefahr bewusst, bis zum Zerreissen meine
Nerven,
irgend eine Ablenkung zu finden oder zu erfinden. Um mich zu
beschäftigen,
versuchte ich alles, was ich jemals auswendig gelernt, zu rezitieren
und zu rekonstruieren,
die Volkshymne und die Spielreime der Kinderzeit,
den Homer des Gymnasiums, die Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Dann
versuchte ich zu rechnen, beliebige Zahlen zu addieren, zu dividieren,
aber
mein Gedächtnis hatte im Leeren keine festhaltende Kraft. Ich konnte
mich auf
nichts konzentrieren. Immer fuhr und flackerte derselbe Gedanke
dazwischen: was
wissen sie? Was wissen sie nicht? Was habe ich gestern gesagt, was muss
ich das
nächste Mal sagen?