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04.3
Geschichten Stefan Zweig
Schachnovelle
Schachnovelle
- Seite 4
Dieser
eigentlich
unbeschreibbare Zustand dauerte vier
Monate. Nun — vier Monate, das schreibt sich leicht hin: just ein
Dutzend
Buchstaben! Das spricht sich leicht aus: vier Monate — vier Silben. In
einer
Viertelsekunde hat die Lippe rasch so einen Laut artikuliert: vier
Monate! Aber
niemand kann schildern, kann messen, kann veranschaulichen, nicht einem
anderen, nicht sich selbst, wie lange eine Zeit im Raumlosen, im
Zeitlosen währt,
und keinem kann man erklären, wie es einen zerfrisst und zerstört,
dieses
Nichts und Nichts und Nichts um einen, dies immer nur Tisch und Bett
und
Waschschüssel und Tapete, und immer das Schweigen, immer derselbe
Wärter, der,
ohne einen anzusehen, das Essen hereinschiebt, immer
dieselben Gedanken,
die im Nichts um das Eine kreisen, bis man irre wird. An kleinen
Zeichen wurde
ich beunruhigt gewahr, dass mein Gehirn in Unordnung geriet. Im Anfang
war ich
bei den Vernehmungen noch innerlich klar
gewesen, ich hatte ruhig und überlegt ausgesagt; jenes Doppeldenken,
was ich
sagen sollte und was nicht, hatte noch funktioniert. Jetzt konnte ich
schon die
einfachsten Sätze nur mehr stammelnd artikulieren, denn während ich
aussagte,
starrte ich hypnotisiert auf die Feder, die protokollierend über das
Papier
lief, als wollte ich meinen eigenen Worten nachlaufen. Ich spürte,
meine Kraft
liess nach, ich spürte, immer näher rückte der Augenblick, wo ich, um
mich zu
retten, alles sagen würde, was ich wusste und vielleicht noch mehr, wo
ich, um
dem Würgen dieses Nichts zu entkommen, zwölf Menschen und ihre
Geheimnisse
verraten würde, ohne mir selbst damit mehr zu schaffen als einen
Atemzug Rast.
An einem Abend war es wirklich schon so weit: als der Wärter zufällig
in diesem
Augenblick des Erstickens mir das Essen brachte, schrie ich ihm
plötzlich nach:
“Führen Sie mich zur Vernehmung! Ich will alles sagen! Ich will alles
aussagen!
Ich will sagen, wo die Papiere sind, wo das Geld liegt! Alles werde ich
sagen,
alles!” Glücklicherweise hörte er mich nicht mehr. Vielleicht wollte er
mich
auch nicht hören.
In
dieser
äussersten Not
ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was Rettung bot, Rettung
zum
mindesten für eine gewisse Zeit. Es war Ende Juli, ein
dunkler, verhangener,
regnerischer Tag: ich erinnere mich an diese Einzelheit deshalb ganz
genau,
weil der Regen gegen die Scheiben im Gang trommelte, durch den ich zur
Vernehmung geführt wurde. Im Vorraum des Untersuchungszimmers musste
ich
warten. Immer musste man bei jeder Vorführung warten: auch dieses
Wartenlassen gehörte zur
Technik. Erst riss man einem die Nerven auf durch den Anruf, durch das
plötzliche
Abholen aus der Zelle mitten in der Nacht, und dann, wenn
man schon eingestellt
war auf die Vernehmung, schon Verstand und Willen gespannt hatte zum
Widerstand, liessen sie einen warten, sinnlos-sinnvoll warten,
eine Stunde, zwei Stunden,
drei Stunden vor der Vernehmung, um den Körper müde, um die Seele mürbe
zu
machen. Und man liess mich besonders lange warten an diesem Donnerstag,
den 27.
Juli, zwei geschlagene Stunden im Vorzimmer stehend warten; ich
erinnere mich
auch an dieses Datum aus einem bestimmten Grunde so genau,
denn in
diesem Vorzimmer, wo ich — selbstverständlich, ohne mich niedersetzen
zu dürfen,
— zwei Stunden mir die Beine in den Leib stehen musste, hing ein
Kalender, und ich
vermag Ihnen nicht zu erklären, wie in meinem Hunger nach Gedrucktem,
nach
Geschriebenem ich diese eine Zahl, diese wenigen Worte “27. Juli” an
der Wand
anstarrte und anstarrte; ich frass sie gleichsam in mein Gehirn hinein.
Und
dann wartete ich wieder und wartete und starrte auf die Tür, wann sie
sich
endlich öffnen würde, und überlegte zugleich, was die Inquisitoren mich
diesesmal fragen könnten und wusste doch, dass sie mich etwas
ganz anderes fragen würden
als worauf ich mich vorbereitete. Aber trotz alledem war die Qual
dieses
Wartens und Stehens zugleich eine Wohltat, eine Lust, weil dieser Raum
immerhin
ein anderes Zimmer war als das meine, etwas grösser und mit zwei
Fenstern statt
einem und ohne das Bett und ohne die Waschschüssel und ohne
den bestimmten Riss am
Fensterbrett, den ich millionenmal betrachtet. Die Tür war anders
angestrichen,
ein anderer Sessel stand an der Wand und links ein Registerschrank mit
Akten
sowie eine Garderobe mit Aufhängern, an denen drei oder vier nasse
militärische
Mäntel, die Mäntel meiner Folterknechte, hingen.
Ich
hatte
also etwas Neues,
etwas anderes zu betrachten, endlich einmal etwas anderes mit meinen
ausgehungerten
Augen, und sie krallten sich gierig an jede Einzelheit. Ich beobachtete
an
diesen Mänteln jede Falte, ich bemerkte zum Beispiel einen Tropfen, der
von
einem der nassen Kragen niederhing, und so lächerlich es für
Sie
klingen mag, ich wartete mit einer unsinnigen Erregung, ob dieser
Tropfen
endlich abrinnen wollte die Falte entlang oder ob er noch gegen
die Schwerkraft sich wehren
und länger haften bleiben würde — ja, ich starrte und starrte
minutenlang
atemlos auf diesen Tropfen, als ob mein Leben davon abhinge.
Dann,
als
er endlich
niedergerollt war, zählte ich wieder die Knöpfe auf den Mänteln nach,
acht an dem
einen Rock, acht an dem andern, zehn an dem dritten, dann wieder
verglich ich
die Aufschläge; all diese lächerlichen und unwichtigen Kleinigkeiten
betasteten, umspielten, umgriffen meine verhungerten Augen mit einer
Gier, die
ich nicht zu beschreiben vermag. Und plötzlich blieb mein Blick starr
an etwas haften.
Ich hatte entdeckt, dass an einem der Mäntel die Seitentasche etwas
aufgebauscht war. Ich trat näher heran und glaubte an der rechteckigen
Form der
Ausbuchtung zu erkennen, was diese etwas geschwellte Tasche
in sich barg: ein
Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein B u c h ! Vier Monate lang
hatte
ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die blosse
Vorstellung eines Buches, in
dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und
Blätter, eines
Buches aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen,
verfolgen,
sich ins Hirn nehmen konnte, hatte etwas Berauschendes und gleichzeitig
Betäubendes.
Hypnotisiert starrten meine Augen auf die kleine Wölbung,
die jenes
Buch innerhalb der Tasche formte, sie glühten diese eine unscheinbare
Stelle
an, als ob sie ein Loch in den Mantel brennen wollten. Schliesslich
konnte ich
meine Gier nicht verhalten; unwillkürlich schob ich mich näher heran.
Schon der
Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den Händen wenigstens antasten zu
können,
machte mir die Nerven in den Fingern bis zu den Nägeln glühen. Fast
ohne es zu
wissen, drückte ich mich immer näher heran. Glücklicherweise achtete
der Wärter
nicht auf mein gewiss sonderbares Gehaben; vielleicht auch schien es
ihm nur
natürlich, dass ein Mensch nach zwei Stunden aufrechten
Stehens
sich ein wenig an die Wand lehnen wollte. Schliesslich stand ich schon
ganz
nahe bei dem Mantel, und mit Absicht hatte ich die Hände
hinter mich auf den Rücken
gelegt, damit sie unauffällig den Mantel berühren konnten. Ich tastete
den Stoff
an und fühlte tatsächlich durch den Stoff etwas
Rechteckiges, etwas, das
biegsam war und leise knisterte — ein Buch! Und wie ein Schuss
durchzuckte mich
der Gedanke: stiehl dir das Buch! Vielleicht gelinkt es und du
kannst dir’s in
der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, lesen, endlich wieder
einmal lesen!
Der Gedanke, kaum in mich gedrungen, wirkte wie ein starkes Gift; mit
einem Mal
begannen mir die Ohren zu brausen und das Herz zu hämmern, meine Hände
wurden
eiskalt und gehorchten nicht mehr. Aber nach der ersten Betäubung
drängte ich
mich leise und listig noch näher an den Mantel, ich drückte, immer
dabei den Wächter
fixierend, mit den hinter dem Rücken versteckten Händen das Buch von
unten aus der
Tasche höher und höher. Und dann: ein Griff, ein leichter, vorsichtiger
Zug und
plötzlich hatte ich das kleine, nicht sehr umfangreiche Buch in der
Hand. Jetzt
erst erschrak ich vor meiner Tat. Aber ich konnte nicht mehr zurück.
Jedoch
wohin damit? Ich schob den Band hinter meinem Rücken unter die Hose an
die
Stelle, wo sie der Gürtel hielt und von dort allmählich hinüber an die
Hüfte,
damit ich es beim Gehen mit der Hand militärisch an der Hosennaht
festhalten konnte.
Nun galt es die erste Probe. Ich trat von der Garderobe weg, einen
Schritt,
zwei Schritte, drei Schritte. Es ging. Es war möglich, das Buch im
Gehen festzuhalten,
wenn ich nur die Hand fest an den Gürtel presste.
Dann
kam
die Vernehmung. Sie
erforderte meinerseits mehr Anstrengung als je, denn eigentlich
konzentrierte ich
meine ganze Kraft, während ich antwortete,
nicht auf meine Aussage,
sondern vor allem darauf, das Buch unauffällig festzuhalten.
Glücklicherweise fiel
das Verhör diesmal kurz aus, und ich brachte das Buch heil
in mein Zimmer
— ich will Sie nicht aufhalten mit all den Einzelheiten, denn einmal
rutschte es
von der Hose gefährlich ab mitten im Gang, und ich musste einen
schweren
Hustenanfall simulieren, um mich niederzubeugen und es wieder heil
unter den Gürtel
zurückzuschieben. Aber welch eine Sekunde dafür, als ich damit in meine
Hölle
zurücktrat, endlich allein und doch nicht mehr allein!
Nun
vermuten
Sie wahrscheinlich, ich hätte sofort das Buch
gepackt,
betrachtet, gelesen. Keineswegs! Erst wollte ich die Vorlust auskosten,
dass
ich ein Buch mit mir hatte, die künstlich
verzögernde und meine Nerven wunderbar erregende Lust, mir
auszuträumen, welche
Art Buch dies gestohlene am liebsten sein sollte: sehr eng gedruckt vor
allem,
viele, viele Lettern enthaltend, viele, viele dünne Blätter, damit ich
langer
daran zu lesen hätte. Und dann wünschte ich mir, es sollte ein Werk
sein, das
mich geistig anstrengte, nichts Flaches, nichts Leichtes, sondern
etwas, das
man lernen, auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten — welcher
verwegene
Traum! — Goethe oder Homer. Aber schliesslich konnte ich
meine Gier, meine
Neugier nicht länger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, sodass der
Wärter, wenn
er plötzlich die Tür aufmachen sollte, mich nicht ertappen
könnte, zog ich
unter dem Gürtel zitternd den Band heraus.
Der erste
Blick war eine
Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter Aerger: dieses mit so
ungeheurer Gefahr
erbeutete, mit so glühender Erwartung aufgesparte Buch war nichts
anderes als
ein Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfünfzig
Meisterpartien. Wäre
ich nicht verriegelt, verschlossen gewesen, ich hätte im
ersten Zorn das
Buch durch ein offenes Fenster geschleudert, denn was sollte, was
konnte ich mit
diesem Nonsens beginnen? Ich hatte als Knabe im Gymnasium
wie die meisten
anderen mich ab und zu aus Langeweile vor einem Schachbrett versucht.
Aber was
sollte mir dies theoretische Zeug? Schach kann man doch nicht spielen
ohne
einen Partner und schon gar nicht ohne Steine, ohne Brett. Verdrossen
blätterte
ich die Seiten durch, um vielleicht dennoch etwas Lesbares zu
entdecken, eine
Einleitung, eine Anleitung; aber ich fand nichts als die nackten
quadratischen
Schemata der einzelnen Meisterpartien und darunter mir zunächst z
unverständliche Zeichen, a1— a2, f1— g3 und so
weiter. Alles dies schien mir eine Art Algebra, zu der ich keinen
Schlüssel
fand. Erst allmählich enträtselte ich, dass die Buchstaben a, b, c, für
die Längsreihen,
die Zahlen 1 bis 8 für die Querreihen eingesetzt waren und den
jeweiligen Stand
jeder einzelnen Figur bestimmten; damit bekamen die rein graphischen
Schemata
immerhin eine Sprache. Vielleicht, überlegte ich, könnte ich mir in
meiner
Zelle eine Art Schachbrett konstruieren und dann versuchen, diese
Partien
nachzuspielen; wie ein himmlischer Wink
erschien es mir, dass mein Betttuch sich zufällig als grob erwies.
Richtig
zusammengefasst, liess es sich am Ende so legen, um vierundsechzig
Felder
zusammenzubekommen. Ich versteckte also zunächst das Buch unter der
Matratze
und riss nur die ersten Seiten heraus. Dann begann ich aus kleinen
Krümeln, die
ich mir von meinem Brot absparte, in selbstverständlich lächerlich
unvollkommener Weise die Figuren des Schachs, König, Königin und so
weiter zurechtzumodeln;
nach endlosem Bemühen konnte ich es schliesslich unternehmen, auf dem
karrierten Bettuch die im Schachbuch abgebildete Position zu
rekonstruieren. Als
ich aber versuchte, die ganze Partie nachzuspielen, misslang es
zunächst
vollkommen mit meinen lächerlichen Krümelfiguren, von denen ich zur
Unterscheidung die eine Hälfte mit Staub dunkler gefärbt hatte. Ich
verwirrte
mich in den ersten Tagen unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal
musste ich
diese eine Partie immer wieder von Anfang an beginnen. Aber wer auf
Erden verfügte
über so viel ungenutzte Zeit wie ich, der Sklave des Nichts, wem stand
so viel
unermessliche Gier und Geduld zu Gebot? Nach sechs Tagen spielte ich
schon die
Partie tadellos zu Ende, nach weiteren acht Tagen benötigte ich nicht
einmal die
Krümel auf dem Bettuch mehr, um mir die Position aus dem Schachbuch zu
vergegenständlichen, und nach weiteren acht Tagen wurde auch das
karrierte
Bettuch entbehrlich; automatisch verwandelten sich die anfangs
abstrakten Zeichen des Buches,
a1, a2, c7,c8, hinter
meiner Stirn zu visuellen, zu
plastischen Positionen. Die Umstellung war restlos gelungen: ich hatte
das
Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert und überblickte
auch dank
der blossen Formeln die jeweilige Position, so wie einem geübten
Musiker der
blosse Anblick einer Partitur schon genügt, um alle Stimmen und ihren
Zusammenklang zu hören. Nach weiteren vierzehn Tagen war ich mühelos
imstande,
jede Partie aus dem Buch auswendig — wie der Fachausdruck lautet: blind
—
nachzuspielen; jetzt erst begann ich zu verstehen, welche unermessliche
Wohltat
mein frecher Diebstahl mir erobert. Denn ich hatte mit einem Male eine
Tätigkeit
— eine sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie wollen, aber doch eine, die
das
Nichts um mich zunichte machte, ich besass mit den hundertfünfzig
Turnierpartien
eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende Monotonie des Raumes und
der Zeit.
Um mir den Reiz der neuen Beschäftigung ungebrochen zu bewahren, teilte
ich mir
von nun ab jeden Tag genau ein: zwei Partien morgens, zwei
Partien nachmittags,
abends dann noch eine rasche Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich
sonst
wie Gallert formlos dehnte, ausgefüllt, ich war beschäftigt, ohne mich
zu ermüden,
denn das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der
geistigen Energien auf ein eng begrenztes Feld selbst bei
angestrengtester Denkleistung
das Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine Agilität und
Spannkraft zu
schärfen. Allmählich begann bei dem zuerst bloss mechanischen
Nachspielen der
Meisterpartien ein künstlerisches, ein lusthaftes Verständnis in mir zu
erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die Tücken und Schärfen in Angriff
und
Verteidigung verstehen, ich erfasste die Technik des Vorausdenkens,
Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald die persönliche Note jedes
einzelnen
Schachmeisters in seiner individuellen Führung so unfehlbar wie man
Verse eines
Dichters schon aus wenigen Zeilen feststellt; was als blosse
zeitfüllende Beschäftigung
begonnen, wurde Genuss, und die Gestalten der grossen Schachstrategen
wie
Aljechin, Lasker, Bogoljubow, Tartakower traten als geliebte Kameraden
in meine
Einsamkeit. Unendliche Abwechslung beseelte täglich die stumme Zelle,
und
gerade die Regelmässigkeit meiner Exerzitien gab meiner
Denkfähigkeit die schon erschütterte Sicherheit zurück; ich empfand
mein Gehirn
aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar noch gleichsam
neu
geschliffen. Dass ich klarer und konziser dachte, erwies sich vor allem
bei den
Vernehmungen; unbewusst hatte ich mich auf dem Schachbrett in der
Verteidigung
gegen falsche Drohungen und verdeckte Winkelzüge vervollkommnet; von
diesem
Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine Blösse mehr, und
mir dünkte
sogar, dass die Gestapoleute mich allmählich mit einem
gewissen Respekt zu betrachten begannen. Vielleicht fragten sie sich im
Stillen,
da sie alle anderen zusammenbrechen sahen, aus welchen
geheimen Quellen ich
allein die Kraft solch unerschütterlichen Widerstandes schöpfte.
Diese
meine Glückszeit, da
ich die hundertfünfzig Partien jenes Buches Tag für Tag systematisch
nachspielte, dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate. Dann geriet ich
unvermuteterweise an einen toten Punkt. Plötzlich stand ich neuerdings
vor dem
Nichts. Denn sobald ich jede einzelne dieser Partien zwanzig- bis
dreissigmal
durchgespielt hatte, verlor sie den Reiz der Neuheit, der
Ueberraschung, ihre
vordem so aufregende, so anregende Kraft war erschöpft. Welchen Sinn
hatte es,
nochmals und nochmals Partien zu wiederholen, die ich Zug um Zug längst
auswendig
kannte? Kaum ich die erste Eröffnung getan, klöppelte sich ihr Ablauf
gleichsam
automatisch in mir ab, es gab keine Ueberraschung mehr, keine
Spannungen, keine
Probleme. Um mich zu beschäftigen, um mir die schon unentbehrlich
gewordene
geistige Anstrengung und Ablenkung zu schaffen, hätte ich eigentlich
ein
anderes Buch mit anderen Partien gebraucht. Da dies aber vollkommen
unmöglich
war, gab es nur einen Weg auf dieser sonder Irrbahn:
ich musste mir
statt der alten Partien neue erfinden. Ich musste versuchen, mit mir
selbst
oder vielmehr gegen mich selbst zu spielen.
Ich
weiss
nun nicht, bis zu
welchem Grade Sie über die geistige Situation bei diesem Spiel der
Spiele
nachgedacht haben. Aber schon die flüchtigste Ueberlegung dürfte
ausreichen, um
klarzumachen, dass beim Schach als einem reinen, vom Zufall losgelösten
Denkspiel es logischerweise eine Absurdität bedeutet, gegen sich selbst
spielen
zu wollen. Das Attraktive des Schachs beruht doch im Grunde
einzig
darauf, dass sich eine Strategie in zwei verschiedenen Gehirnen
verschieden
entwickelt, dass in diesem geistigen Krieg Schwarz die jeweiligen
Manöver von
Weiss nicht kennt und ständig zu erraten und zu durchkreuzen sucht,
während
seinerseits wieder Weiss die geheimen Absichten von Schwarz zu
überholen und zu
parieren strebt. Bildeten nun Schwarz und Weiss ein- und dieselbe
Person, so
ergäbe sich der widersinnige Zustand, dass ein- und dasselbe Gehirn
gleichzeitig
etwas wissen und doch nicht wissen sollte, dass es als Partner Weiss
funktionierend, auf Kommando völlig vergessen konnte, was es eine
Minute vorher
als Partner Schwarz gewollt und beabsichtigt. Ein solches Doppeldenken
setzt
eigentlich eine vollkommene Spaltung des Bewusstseins voraus, ein
beliebiges
Auf- und Abblendenkönnen der Gehirnfunktion wie bei einem
mechanischen Apparat;
gegen sich selbst spielen zu wollen, bedeutet also im Schach eine
solche
Paradoxie wie über seinen eigenen Schatten springen.
Nun,
um
mich kurz zu fassen,
diese Unmöglichkeit, diese Absurdität, habe ich in meiner Verzweiflung
monatelang versucht. Aber ich hatte keine Wahl als diesen
Widersinn, um nicht dem
puren Irrsinn oder einem völligen geistigen Marasmus zu verfallen. Ich
war
durch meine fürchterliche Situation gezwungen, diese Spaltung in ein
Ich
Schwarz und ein Ich Weiss zumindest zu versuchen, um nicht erdrückt zu
werden
von dem grauenhaften Nichts um mich.”
Dr.
B.
lehnte sich zurück in
dem Liegestuhl und schloss für eine Minute die Augen. Es war, als ob er
eine
verstörende Erinnerung gewaltsam unterdrücken wollte. Wieder lief das
merkwürdige
Zucken, das er nicht zu beherrschen wusste, um den linken Mundwinkel.
Dann
richtete er sich in seinem Lehnstuhl etwas höher auf.
“So
— bis
zu diesem Punkt
hoffe ich Ihnen alles ziemlich verständlich erklärt zu haben. Aber ich
bin
leider keineswegs gewiss, ob ich das Weitere Ihnen noch ähnlich
deutlich
veranschaulichen kann. Denn diese neue Beschäftigung erforderte eine so
unbedingte Anspannung des Gehirns, dass sie jede gleichzeitige
Selbstkontrolle unmöglich
machte. Ich deutete Ihnen schon an, dass meiner Meinung nach es an sich
schon
Nonsens bedeutet, Schach gegen sich selber spielen zu wollen; aber
selbst diese
Absurdität hatte immerhin noch eine minimale Chance mit einem realen
Schachbrett vor sich, weil das Schachbrett durch seine Realität
immerhin noch
eine gewisse Distanz, eine materielle Exterritorialisierung erlaubt.
Vor einem
wirklichen Schachbrett mit wirklichen Figuren kann man Ueberlegungen
einschalten, man kann sich schon rein körperlich bald auf die eine
Seite, bald
auf die andere des Tisches stellen und damit die Situation bald vom
Standpunkt Schwarz,
bald vom Standpunkt Weiss ins Auge fassen. Aber genötigt, wie ich es
war, diese
Kämpfe gegen mich selbst oder wenn Sie wollen, mit mir selbst in einen
imaginären
Raum zu projizieren, musste ich, in meinem Bewusstsein die jeweilige
Stellung
auf den vierundsechzig Feldern deutlich festhalten und ausserdem nicht
nur die
momentane Figuration, sondern auch schon die möglichen weiteren Züge
von beiden
Partnern mir auskalkulieren und zwar — ich weiss, wie absurd dies alles
klingt
— mir doppelt und dreifach imaginieren, nein sechsfach, achtfach,
zwölffach, für
jedes meiner Ich, für Schwarz und Weiss immer schon vier oder fünf Züge
voraus.
Ich musste — verzeihen Sie, dass ich Ihnen zumute, diesen Irrsinn
durchzudenken
— bei diesem Spiel im abstrakten Raum der Phantasie als Spieler Weiss
vier oder
fünf Züge vorausberechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also alle
sich in der
Entwicklung ergebenden Situationen gewissermassen mit zwei Gehirnen
vorauskombinieren,
mit dem Gehirn Weiss und mit dem Gehirn Schwarz. Aber selbst diese
Selbstzerteilung
war noch nicht das Gefährlichste an meinem abstrusen Experiment,
sondern dass
ich durch das selbständige Ersinnen von Partien mit einem Mal den Boden
unter
den Füssen verlor und ins Bodenlose geriet. Das blosse Nachspielen der
Meisterpartien wie ich es in den vorhergehenden Wochen geübt, war
schliesslich
nichts als eine reproduktive Leistung gewesen, ein reines
Rekapitulieren einer
gegebenen Materie und als solches nicht anstrengender als wenn ich
Gedichte
auswendig gelernt oder Gesetzesparagraphen memoriert; es war eine
begrenzte,
eine disziplinierte Tätigkeit und darum ein ausgezeichnetes exercitium
mentalis. Meine zwei Partien, die ich morgens, die zwei, die ich
nachmittags probte,
stellten ein bestimmtes Pensum dar, das ich ohne jeden Einsatz von
Erregung
erledigte; sie ersetzten mir eine normale Beschäftigung und überdies
hatte ich,
wenn ich mich im Ablauf einer Partie irrte oder nicht weiterwusste, an
dem
Buche noch immer einen Halt. Nur darum war diese Tätigkeit für meine
erschütterten
Nerven eine so heilsame und eher beruhigende gewesen, weil ein
Nachspielen
fremder Partien nicht mich selber ins Spiel brachte; ob Schwarz oder
Weiss
siegte, blieb mir gleichgültig, es waren doch Aljechin oder
Bogoljubow, die um die Palme
des Champions kämpften, und meine eigene Person, mein Verstand, meine
Seele
genossen einzig als Zuschauer, als Kenner die Peripetien und
Schönheiten jener
Partien. Von dem Augenblicke an, da ich aber gegen mich zu spielen
versuchte, begann
ich mich unbewusst herauszufordern. Jedes meiner beiden Ich, mein Ich
Schwarz
und mein Ich Weiss, hatten zu wetteifern gegeneinander und gerieten
jedes für
sein Teil in einen Ehrgeiz, in eine Ungeduld zu siegen, zu gewinnen;
ich
fieberte als Ich Schwarz nach jedem Zuge, was das Ich
Weiss nun tun würde. Jedes meiner beiden Ich triumphierte, wenn das
andere
einen Fehler machte und erbitterte sich gleichzeitig über sein eigenes
Ungeschick.
Das
alles
scheint sinnlos
und in der Tat wäre ja eine solche künstliche Schizophrenie, eine
solche
Bewusstseinsspaltung mit ihrem Einschuss an gefährlicher Erregtheit bei
einem
normalen Menschen in normalen Zustand undenkbar. Aber
vergessen
Sie nicht, dass ich aus aller Normalität gewaltsam gerissen war, ein
Häftling,
unschuldig eingesperrt, seit Monaten raffiniert mit Einsamkeit
gemartert, ein
Mensch, der seine aufgehäufte Wut längst gegen irgend etwas entladen
wollte.
Und da ich nichts anderes hatte, als das unsinnige Spiel gegen mich
selbst,
fuhr meine Wut, meine Rachlust fanatisch in dieses Spiel hinein. Etwas
in mir
wollte recht behalten, und ich hatte doch nur dieses andere Ich in mir,
das ich
bekämpfen konnte; so steigerte ich mich während des Spiels in eine fast
mechanische Erregung. Im Anfang hatte ich noch ruhig und überlegt
gedacht, ich
hatte Pausen eingeschaltet zwischen einer und der anderen Partie, um
mich von
der Anstrengung zu erholen; aber allmählich erlaubten meine gereizten
Nerven
mir kein Warten mehr. Kaum mein Ich Weiss einen Zug getan,
stiess schon mein Ich
Schwarz fiebrig vor; kaum war eine Partie beendigt, so forderte ich
mich schon
zur nächsten heraus, denn jedesmal war doch eines meiner beiden
Schach-Ich von
dem anderen besiegt worden und verlangte Revanche. Nie werde ich auch
nur annähernd
sagen können, wieviele Partien ich infolge dieser irrwitzigen
Unersättlichkeit
während dieser letzten Monate in meiner Zelle gegen mich selbst
gespielt —
vielleicht tausend, vielleicht mehr. Es war eine Besessenheit, deren
ich mich
nicht erwehren konnte; von früh bis nachts dachte ich an
nichts als an
Läufer und Bauern und Turm und König und a und b und c und Matt und
Rochade,
mit meinem ganzen Sein und Fühlen stiess ich mich in das karrierte
Quadrat. Aus
der Spielfreude war eine Spiellust geworden, aus der Spiellust ein
Spielzwang, eine
Manie, eine frenetische Wut, die nicht nur meine wachen Stunden sondern
allmählich
auch meinen Schlaf durchdrang. Ich konnte nur Schach denken, nur in
Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit
feuchter
Stirne auf und erkannte, dass ich sogar im Schlaf unbewusst
weitergespielt
haben musste, und wenn ich von Menschen träumte, so geschah es
ausschliesslich
in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor und Zurück des
Rösselsprungs. Selbst
wenn ich zum Verhör gerufen wurde, konnte ich nicht mehr
konzis an meine
Verantwortung denken; ich habe die Empfindung, dass bei den letzten
Vernehmungen ich mich ziemlich konfus ausgedrückt haben
muss, denn die Verhörenden
blickten sich manchmal befremdet an. Aber in Wirklichkeit wartete ich,
während sie
fragten und berieten, in meiner unseligen Gier doch nur darauf, wieder
zurückgeführt
zu werden in meine Zelle, um mein Spiel, mein irres Spiel fortzusetzen,
eine
neue Partie und noch eine und noch eine. Jede Unterbrechung wurde mir
zur Störung;
selbst die Viertelstunde, da der Wärter die Gefängniszelle aufräumte,
die zwei
Minuten, da er mir das Essen brachte, quälten meine fiebrige Ungeduld;
manchmal
stand abends der Napf mit der Mahlzeit noch unberührt, ich hatte über
dem Spiel
vergessen zu essen. Das einzige, was ich körperlich empfand, war ein
fürchterlicher
Durst, es muss wohl schon das Fieber dieses ständigen Denkens und
Spielens
gewesen sein; ich trank die Flasche leer in zwei Zügen und quälte den
Wärter um
mehr und fühlte dennoch im nächsten Augenblick die Zunge schon wieder
trocken
im Munde. Schliesslich steigerte sich meine Erregung während des
Spielens — und
ich tat nichts anderes mehr von morgens bis nachts — zu solchem Grade,
dass ich
nicht einen Augenblick mehr stillzusitzen vermochte; ununterbrochen
ging ich, während
ich die Partien überlegte, auf und ab, immer schneller und schneller
und
schneller auf und ab, auf und ab, auf und ab, und immer hitziger, je
mehr sich
die Entscheidung der Partie näherte; die Gier zu gewinnen, zu siegen,
mich
selbst zu besiegen, wurde allmählich zu einer Art Wut, ich zitterte vor
Ungeduld, denn immer war dem einen Schach-Ich in mir das andere zu
langsam. Das
eine trieb das andere an; und so lächerlich es Ihnen vielleicht
scheint, ich
begann mich zu beschimpfen “schneller, schneller!” oder “vorwärts,
vorwärts!” ,
wenn das eigene Ich in mir dem anderen Ich nicht rasch genug
ripostierte.
Selbstverständlich bin ich mir heute ganz im klaren, dass dieser mein
Zustand
schon eine durchaus pathologische Form geistiger Ueberreizung war, für
die ich
eben keinen anderen Namen finde als den bisher medizinisch
unbekannten: eine Schachvergiftung. Schliesslich begann diese
monomanische
Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen Körper
zu attackieren. Ich magerte
ab, ich schlief unruhig und verstört, ich brauchte beim Erwachen
jedesmal eine
besondere Anstrengung, die bleiernen Augenlider aufzuzwingen; manchmal
fühlte
ich mich derart schwach, dass wenn ich ein Trinkglas anfasste, ich es
nur mit Mühe
bis zu den Lippen brachte, so zitterten mir die Hände; aber kaum das
Spiel
begann, überkam mich eine wilde Kraft; ich lief auf und ab, auf und ab
mit geballten
Fäusten, und wie durch einen roten Nebel hörte ich manchmal meine
eigene
Stimme, wie sie heiser und böse “Schach!” oder “Matt” sich selber
zuschrie.
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