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Literatur


04.3


Am Kamin
Paul Rosenhaym

10 Die Amati

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Die Amati
(Berlin)

„Eine Dame, die Mr. Joe Jenkins und seinen Scharfsinn seit langem bewundert, hat den sehnlichen Wunsch, ihn persönlich kennenzulernen.
 
Sie wird heute nachtmittag um 6 Uhr vor dem Restaurant der Rennbahn Grunewald sein, und sie würde sich glücklich schätzen, wenn sie Mr. Joe Jenkins dort begegnen würde. Sie ist weder alt noch häßlich.“
 
Dieser Brief lag seit fast einer Stunde auf dem Schreibtisch des Hotelzimmers; ein Bote hatte ihn abgegeben und sich gleich darauf wieder entfernt. Mr. Jenkins, der eben vom Nachmittagstee zurückkehrte, öffnete das Kuvert langsam und las die wenigen Zeilen zweimal aufmerksam. Dann gab er den Brief seinem Begleiter der gleich hinter ihm das Zimmer betreten hatte, einem älteren, vornehm aussehenden Herrn mit weißem Haar. „Lesen Sie, Mr. Kelly!“
 
Der Aufgeforderte überflog die Zeilen, stutzte ein wenig und drohte lächelnd mit dem Finger: „Also Sie haben schon galante Abenteuer in Berlin, Mr. Jenkins! . . . hm . . . um 6 Uhr . . . nun . . . wenn’s Ihnen recht ist, so fahre ich mit Ihnen hinaus und trenne mich von Ihnen, sobald es an der Zeit ist; ich möchte mir bei dieser Gelegenheit das Stadion ansehen.“
 
Jenkins schüttelte lächelnd den Kopf.  —
 
„Sie brauchen sich nicht zu genieren, Mr. Jenkins. Ich habe keinen weiteren Bekannten in Berlin — und da ich schon morgen früh weiterreise . . .“
 
„Sie werden allein nach dem Stadion fahren müssen. Denn nach diesem Brief werde ich zu Hause bleiben.“
 
„Und warum?“ fragte der andere erstaunt. „Sind Sie ein solcher Frauenfeind?“
 
„Durchaus nicht. Wenn dieser Brief von einer Dame wäre . . .“
 
„Wenn er . . . von einer Dame . . . So ist er nicht von einer Dame?“
 
Jenkins schüttelte den Kopf. „Betrachten Sie die einzelnen Buchstaben. Achten Sie auf die Stellung der i-Punkte; richten Sie Ihr Augenmerk auf die energischen, ja, eigensinnigen Anstriche . . . das ist die verstellte Handschrift eines Mannes!“
 
„So glauben Sie, daß man Sie fortlocken will . . .?“
 
„Zweifellos,“
 
„Um ein Attentat an Ihnen zu begehen?“
 
„Nein; denn man wird natürlich wissen, daß ich auf derartiges immer vorbereitet bin.“
 
„Aber Sie erklärten eben, man wolle Sie aus dem Hause locken.“
 
„Ja, und zwar aus einem anderen Grunde.“ Er blickte auf die Uhr. „Es ist halb sechs. Ich müßte also ein Auto nehmen, um pünktlich an Ort und Stelle zu sein. Sehen Sie, da haben wir’s: der Schreiber wünscht, daß ich um die Zeit zwischen sagen wir halb sechs und halb sieben nicht im Hotel sei.“
 
„Und warum nicht?“ fragte der Besucher kopfschüttelnd.
 
„Wahrscheinlich, weil in dieser Zeit jemand kommen wird, um meinen Rat einzuholen, und weil der Schreiber dieses Briefes ein Interesse daran hat, diese Konsultation zu verhindern.“
 
Von den teppichbelegten Gängen drang gedämpft der Rhythmus des ruhelosen Lebens herüber, das dieses größte Hotel Tag und Nacht fiebernd durchflutete. Leise Klingelzeichen schnitten durch die Luft; Türen klappten; aus den Teeräumen des Parterres drang ferne Musik: das Menuett aus „Don Juan“.
 
Das kleine Telephon auf dem Schreibtisch schrillte. Mr. Jenkins hob den Hörer. Und während er die Meldung des Portiers entgegenahm, nickte er leicht, und ein Lächeln ging über sein Gesicht. „All right. Führen Sie den Herrn herauf!“ Dann, indem er den Hörer zurücklegte, richtete er seine grauen Augen auf den Besucher und zwinkerte lachend.
 
„Herein!“
 
Die Tür öffnete sich. Aus dem Dämmer des Korridors leuchtete die goldbetreßte Mütze des Liftboys.
 
Durch die halbgeöffnete Tür trat ein elegant gekleideter Herr ein, der in der Mitte der Dreißiger stehen mochte. Das regelmäßige, schmale Gesicht schien das eines Künstlers zu sein. Das dunkle, volle, glatte Haar umwallte scheitellos die hohe Stirn; ein kleiner, sorgfältig geschnittener Spitzbart gab seiner Erscheinung einen leicht fremdartigen Hauch. In seinen großen, dunklen Augen glomm ein fiebriger Glanz, und schwere Schatten lagen um die tiefen Augenhöhlen.
 
„Mr. Joe Jenkins?“ fragte der Fremde mit einer Stimme, die leise zu zittern schien, und zog geräuschlos die Tür hinter sich zu. Er blickte stumm die beiden Herren an, offenbar unschlüssig. Der Detektiv trat einen halben Schritt vor. „Bitte“, sagte er höflich.
 
Der Fremde ließ einen langen Blick über die Züge des Amerikaners gleiten. „Mr. Jenkins,“ begann er nach einer stummen Pause, „ich muß Sie sprechen, dringend sprechen — und sofort.“ Und indem er nervös die Uhr zog, setzte er hinzu: „Denn ich habe keine Zeit zu verlieren.“
 
„Ich stehe Ihnen zur Verfügung“, erwiderte der Detektiv ruhig. „Eine Frage: weiß irgend jemand, daß Sie um diese Zeit — daß Sie zwischen halb sechs und sechs Uhr die Absicht hatten, mich zu besuchen?“
 
Der Gefragte richtete seine dunklen Augen fragend und verständnislos auf Mr. Joe Jenkins, der ihn erwartungsvoll betrachtete. „Ob ich . . . ob jemand weiß . . .“ Er blickte sinnend zu Boden . . . „Ja . . . eine Person gibt es, die davon weiß. Aber die kennt mich kaum und hat keinerlei Interesse an mir.“
 
Mr. Kelly erhob sich.
 
„Adieu, Mr. Jenkins”, sagte er. Und leise fuhr er fort: „Wenn nicht alles täuscht, war Ihre Vorhersage richtig.“
 
Mr. Jenkins nahm an seinem Schreibtisch Platz und lud den anderen ein, sich in den Sessel niederzulassen, der zur Rechten stand.
 
Man sah es diesem Manne an, daß ihn irgend etwas Schweres bedrückte. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte unbeweglich, wie geistesabwesend, auf das Muster des weichen Teppichs nieder; und nur die schweren Atemzüge, die keuchend durch den Raum gingen, verrieten die Unruhe die in ihm war. „Ich bin Musiker“, begann er plötzlich, wie mit einem Ruck. „Violinvirtuose. Man kennt meinen Namen in Europa und Amerika, und auch Ihnen wird er nicht unbekannt sein, Mr. Jenkins: Holger Karst.“
 
Der Detektiv nickte. „Selbstverständlich“, antwortete er. „Ich habe viel Rühmendes von Ihnen gehört. Von Ihnen und Ihrer berühmten Geige. Denn wenn ich nicht irre, besitzen Sie eine Amati?“
 
Ein warmes Lächeln ging über die Züge des Künstlers. „Ja,“ sagte er leise, „sie ist herrlich, meine Amati! Wenn ich sie spiele, dann fühle ich, wie diese reinen Töne, die vom tiefsten Schmerz wie von höchsten Wonnen singen, sieghaft in die Herzen meiner Zuhörer hinüberzittern. Meine Violine hat nur eine einzige Nebenbuhlerin; diese ist in den Händen der Familie Astor.“
 
„Sie sind in Berlin, um hier zu konzertieren, Herr Karst?“
 
„Ja. Ich habe eben eine Tournee durch die Vereinigten Staaten beendet und bin erst seit vierzehn Tagen wieder in Europa. Ich habe zwei Konzerte in Stockholm und Kopenhagen gegeben und bin jetzt seit acht Tagen in Berlin. Auch hier bin ich, wie man so schön sagt, in Mode. Gestern abend erst habe ich  in einer Wohltätigkeitsveranstaltung ein Konzert gegeben, und heute abend habe ich mein eigenes großes Solokonzert in der ‚Philharmonie‘. Noch gestern habe ich mich auf diesen Abend, der wieder Tausenden meinen Namen und meine Kunst vermitteln wird, gefreut. Und nun . . . nun hat sich in der letzten Nacht etwas ereignet . . . etwas, was mich derart erschüttert hat, daß ich fürchte, mit meinen Nerven heute abend mitten im Spiel zusammenzubrechen.“
 
„Ihnen ist ein Mißgeschick passiert?“ fragte Mr. Jenkins ruhig.
 
„Ein Mißgeschick – nein. Nicht einmal etwas Unangenehmes. Ja . . . ich möchte sagen,  mir ist eigentlich überhaupt nichts passiert. Um mich ganz klar auszudrücken: ich könnte höchstens sagen, daß ich etwas gesehen habe — aber: was ich gesehen habe in dieser Nacht, beunruhigt mich durch seine Unerklärlichkeit und seine Seltsamkeit fast bis zum Wahnwitz. Doch ich will Ihnen erzählen.
 
Ich wohne in einem Pensionat in der Hardenbergstraße. Ich bin hier in der Nähe der Stadt und dennoch in einer schönen und vornehmen und stillen Umgebung und in einem ruhigen Hause. Denn der Lärm eines Hotels würde mich bei meinen täglichen Übungen außerordentlich stören. Es ist die alte Villa eines Staatsbeamten, die von der jetzigen Besitzerin vollständig in ein Pensionat umgewandelt worden ist. Die Dame ist selbst vermögend und betreibt die Pension mehr aus einer gewissen Liebhaberei; die vielen interessanten Menschen aller möglichen Nationen mögen für sie ein anregender Verkehr sein. Sie selbst hat sich die drei schönsten Zimmer des Hauses im ersten Stock reserviert. —
 
Leider hatte ich versäumt, mich schriftlich anzumelden; als ich daher vor  acht Tagen Einlaß in das Pensionat der Frau Valentin begehrte, da war bis auf ein kleines Stübchen im Parterre alles besetzt. Schon wollte ich umkehren, als die Besitzerin mir ein selbstloses Anerbieten machte: sie schlug mir vor, mir für die zwei Wochen meines Berliner Aufenthalts ihre drei Zimmer abzutreten; sie selbst wolle während dieser Zeit mit dem Stübchen fürliebnehmen. Sie schätzt mich sehr, die alte Frau Valentin, und — nun, kurz und gut, ich habe angenommen.
 
Ich war auf diese Weise glücklicher Eigentümer der drei schönsten und größten Zimmer des Hauses. Das erste dient mir als Empfangszimmer; denn ich erhalte viele Besuche. Im mittleren schlafe ich, und das dritte habe ich mir als Arbeitszimmer eingerichtet.
 
Eins muß ich noch erwähnen: im Schlafzimmer befindet sich der Hauptschalter für die elektrische Beleuchtung des ganzen Hauses. Frau Valentin, die ein etwas patriarchalisches Regiment führt, hat ihn dort installieren lassen, und pünktlich und unerbittlich, wie sie mir selbst lachend erzählte, stellt sie jede Nacht um zwölf Uhr die Beleuchtung im ganzen Hause ab; denn es ist früher vorgekommen, daß rücksichtslose Gäste während der ganzen Nacht ihre Kronen  gebrannt haben, besonders die jungen Studenten und die flotten Ausländer, die die Nacht zum Tage machen. So dreht sie ihnen um Mitternacht sozusagen das Licht vor der Nase aus. Ich erwähne dies ausführlich — wie Sie sehen werden, nicht ohne Grund.
 
Wie ich Ihnen schon sagte, hatte ich gestern abend zu spielen, und zwar auf einem Wohltätigkeitskonzert im Reichskanzlerpalais. Mein Violinsolo war sehr spät angesetzt, fast als das letzte. Daher war es fast halb zwölf, als ich meinen Vortrag beendet hatte. Ich habe die Gewohnheit, vor meinem Spiel nichts zu mir zu nehmen; so steuere ich also, eben fertig, hungrig und vergnügt auf das kalte Büfett zu, als mich jemand anruft. Ich wende mich um; es ist der Prinz v. W., den ich vor drei Jahren an der Riviera kennengelernt habe. Er zieht mich an einen Tisch, an dem sich noch mehrere Herren befinden. Bald waren wir in fideler Unterhaltung. Ich blickte noch ein paarmal wehmütig nach den kalten Schüsseln da drüben auf den kleinen Tischen aus — aber die Höflichkeit verbietet mir, die  Unterhaltung abzubrechen. Also: um halb zwei, als die Allerletzten, stehen wir endlich auf und verabschieden uns eilig voneinander. Ich gehe langsam durch die Straßen — kein Auto weit und breit. Mißmutig entschließe ich  mich endlich, auf eine überfüllte Straßenbahn zu springen.
 
Am Zoo muß ich die Bahn verlassen, weil sie links in die Kaiserallee einbiegt. Ich gehe unter der Eisenbahnbrücke durch und bin im Nu aus dem lärmenden Berliner Westen wie in eine andere Welt versetzt.
 
Schweigend und fast endlos liegt die stille, vornehme Straße vor mir. Ich schreite langsam an diesen dunklen, tiefen Gärten vorüber, in denen sich kein Blatt regt. Alle Fenster in diesen schweigenden Häusern sind dunkel und tot.
 
War es die Abspannung nach dem anstrengenden Abend . . . war es der genossene Wein . . . ich weiß es nicht: allmählich legte sich ein seltsam schweres und drückendes Angstgefühl auf mein Herz. Von einer unerklärlichen Furcht getrieben, verlasse ich das Trottior und gehe in der Mitte des asphaltierten Fahrdammes dahin. Endlich habe ich die Pension Valentin erreicht. Eben ziehe ich den Schlüssel aus der Tasche. Verloren, halb unbewußt schweifen meine Blicke über das alte, unbewohnte Haus, das unserem Pensionat gegenüberliegt, mit seinem vernachlässigten, dunklen, tiefen Garten. Dieses stille Haus machte in dem flimmernden Schein des Mondes mehr denn je den Eindruck des Verwahrlosten, fast des Unheimlichen. Meine Blicke streifen wie zufällig die Front des Hauses, als ich zu meinem Erstaunen bemerkte, daß in der ersten Etage ein Fenster sich öffnet — langsam — sichtlich in dem Bestreben, jedes Geräusch zu  vermeiden. Ich trete unwillkürlich zur Seite, um mich hinter einem Baum zu verbergen, und blicke hinauf. Im nächsten Augenblick erblicke ich im Rahmen des geöffneten Fensters ein menschliches Gesicht. Während ich dieses Gesicht sehe, läuft mir plötzlich ein eisiger Schauder über den Rücken — denn ich weiß plötzlich ganz genau, daß ich diese Züge kenne . . . ganz  genau kenne . . . und doch kann ich mich im Moment nicht erinnern, woher . . .
 
Ich trete ein paar Schritte zurück . . . und plötzlich fühle ich, wie mir das Herz stockt. Mit Mühe unterdrücke ich einen Aufschrei des Entsetzens und greife mit meiner zitternden Hand nach den Stäben des Gitterwerks. Was dort, jetzt vom Schein der Bogenlampe flimmernd beleuchtet, bleich und regungslos wie das Antlitz eines Toten auf die Straße hinausblickt, das ist mein eigenes Gesicht . . .
 
Einen Atemzug lang glaubte ich, zuviel getrunken zu haben, glaubte, der Wein habe meinen hungrigen Körper in einen Fieberrausch versetzt. Ich faßte nach meinem Herzen. Nein, es pocht ruhig und gleichmäßig wie nur je. Dann kam mir einen Augenblick der Gedanke, dies alles sei ein wirrer, ängstlicher Traum. Ich legte eine Hand auf die Spitzen des Gitters und preßte sie krampfhaft – der stechende Schmerz, der mir durch den ganzen Körper fuhr, sagte mir deutlich, daß ich wache und daß alles dieses Wirklichkeit sei . . . Wieder wandte ich, scheu und atemlos, den Kopf nach dem Fenster im ersten Stock. Das bleiche Gesicht blickte noch immer regungslos auf die Straße hinab . . . nein . . . jetzt sah ich es genauer . . . es sah unverwandt, starr wie das Antlitz eines Toten, auf die Fenster meines Schlafzimmers, das fast genau gegenüberlag. Zweifelnd, suchend irrten meine Blicke über die Erscheinung — ja: das war mein Haar, mein Bart, in  jeder Einzelheit meine Züge — ich erkenne sogar meine Krawatte, deren  dunkles Blau metallisch im Lichte des Mondes flimmert.
 
Nein — das konnte nichts Natürliches sein, was ich hier erlebte. Ich  erinnerte mich eines alten Spruches, daß der sterben müsse, der in der Nacht seinen Doppelgänger erblicke. Alle Ängste eines dunklen Aberglaubens, den ich längst überwunden meinte, rasten mir durchs Hirn. Die Mitternacht hatte mir ihr dunkles Tor geöffnet, schweigend und drohend mich einen fiebernden Blick in ihre düsteren Geheimnisse tun lassen.
 
Wieder spähe ich hinauf. Die Erscheinung ist verschwunden. Das Fenster ist geschlossen.
 
Zweifelnd und grübelnd taumele ich über die Straße, schließe auf und tappe auf meine Zimmer. Eben will ich mich niederlegen, als sich mit verdoppelter Gewalt der nagende Hunger meldet — er wühlt wie Feuer in  meinen Eingeweiden. Und kein Stückchen Brot im Zimmer! Ich blicke auf die Uhr — es ist drei. Um diese Zeit jemanden vom Hause wecken, wäre eine  unerhörte Rücksichtslosigkeit. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst in die Küche zu gehen, um nach etwas Eßbarem zu suchen.
 
Ich taste mich also die Treppe hinunter bis in die Küche, die im Keller liegt. Unterwegs versuche ich, auf dem Treppenpodest das Licht anzuknipsen — vergeblich. Frau Valentin hat auch heute pünktlich den  Hauptschalter in meinem Schlafzimmer abgedreht . . . Nun, meine Kerze genügt einigermaßen, um mir den Weg zu zeigen.
 
Ich muß mich in der Küche ziemlich ungeschickt angestellt haben; ich glaube auch, mich zu entsinnen, daß mir ein Topfdeckel auf den Steinfußboden gerutscht ist. Kurz und gut: ein paar Minuten später erscheint Frau Valentin, meine Wirtin, halb erstaunt, halb ärgerlich in der Küche. Sie begreift bald, was ich wünsche, und hantiert geschäftig mit Brot und Butter. Eben wendet sie sich zum Küchenschrank, um Messer und Gabeln zu holen, als wir plötzlich im gleichen Moment zurückfahren . . . bestürzt . . . entsetzt: das elektrische Licht flammt auf . . . lautlos, ohne Ursache . . . wie von Geisterhand ausgelöst . . .
 
Wir blicken uns an; ich sehe, wie sie zittert. Sie reißt die Küchentür auf, das ganze Treppenhaus ist in ein Lichtmeer gehüllt. Einen Augenblick  starrt sie atemlos, wie betäubt, auf die brennenden Lampen . . . dann stößt sie hervor: ‚Um Gottes willen . . . Herr Karst . . . Ihr Zimmer . . .‘
 
Und in diesem Augenblick erlischt das Licht wieder . . . tiefe, schwere Dunkelheit liegt über dem ganzen Hause . . . und unsere von der Lichtfülle noch geblendeten Augen versagen hilflos vor den undurchdringlichen, schweren Schatten. ‚Herr Karst,‘ beginnt Frau Valentin flüsternd, jemand hat den Hauptschalter gedreht . . . in Ihrem Zimmer ist jemand . . .‘
 
Und da verstehe ich sie plötzlich und stürze die Treppe hinauf. Ja, der Schalter ist gedreht worden; Frau Valentin, die bebend in der Tür erschien, erkannte es an der Stellung des Hebels.  Der Schalter ist gedreht worden — aber niemand ist da . . . und nichts fehlt, wie ich gleich darauf feststelle.“
 
„Einen Augenblick“, unterbrach Joe Jenkings den Erzählenden. „Hatten Sie das Zimmer verschlossen, als Sie es verließen, um in die Küche hinunterzugehen?“
 
„Ja.“
 
„Und den Schlüssel abgezogen und mitgenommen?“
 
„Ja.“
 
„Und Sie fanden die Tür verschlossen, wie Sie sie verlassen hatten?“
 
„Nichts hatte sich geändert.“
 
„Hatten Sie Schwierigkeiten beim Aufschließen?“
 
„Nicht die geringsten.“
 
„Es ist gut . . . fahren Sie fort.“
 
„Am anderen Morgen rief mich ein Telegramm eines befreundeten Reeders, in dessen Hause ich manchen schönen Abend zugebracht hatte, nach Stettin. ‚In einer dringlichen Angelegenheit‘, so lautete die Depesche. Ich hatte erst gegen Morgen ein wenig Schlaf gefunden, und so kam es, daß ich erst den Mittagszug benutzte. Als ich in der Villa meines Freundes anlange, empfängt er mich verwundert, und als ich ihm das Telegramm zeige, stellt es sich heraus, daß es eine Fälschung ist. 
 
Wäre mir dies zu einer anderen Zeit passiert — ich würde es für den  albernen Scherz eines Kollegen genommen haben. Aber jetzt . . . in Verbindung mit den Ereignissen der letzten Nacht . . . nein . . . als ich auf der Rückfahrt mit meinen Nerven kämpfte, die bis zum Wahnwitz erregt waren, da wußte ich es, daß es nur einen Menschen gibt, der hier Klarheit bringen kann: Sie, Mr. Jenkins!“
 
Joe Jenkins lächelte und machte eine leichte Verbeugung, als wollte er für diese schmeichelhafte Anrede danken. Dann aber nahmen seine Züge sofort wieder den beherrschten, kühl und sachlich beobachtenden Ausdruck an, den sie während der ganzen merkwürdigen Erzählung seines Gegenübers gezeigt hatten.
 
„Wann sind Sie nach Berlin zurückgekehrt?“
 
„Ich war um 6 Uhr 14 Minuten auf dem Stettiner Bahnhof. Dort habe ich mir sofort ein Auto genommen und bin zu Ihnen gefahren.“
 
Der Detektiv lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloß die Augen. „Haben Sie“, begann er nach einer langen Pause, „in Ihrem Pensionat irgendwelche Bekanntschaft angeknüpft?“
 
„Nein. Außer mit meiner Wirtin habe ich noch mit niemandem gesprochen . . . halt . . . doch . . . ich habe gelegentlich ein paar Worte mit Fräulein Helene Jungmann gewechselt, einer jungen , fleißigen Studentin der Medizin, die meine Nachbarin ist.“
 
„Sie erzählten mir bei Ihrem Kommen, es gäbe jemand, der von Ihrer Absicht, zu mir zu fahren, unterrichtet war.“
 
„Ja. Ich habe von der Villa meines Freundes in Stettin aus meine Wirtin antelephoniert, habe ihr kurz gesagt, daß man mich mit dem Telegramm mystifiziert habe und daß ich zu Ihnen fahren wolle.“
 
„War dies der ganze Grund Ihres Telephonierens?“
 
„Nein. Der Hauptzweck war, meine Wirtin zu beauftragen, mir meine Geige und meinen Frack in die Philharmonie zu schicken, denn ich habe keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren.“
 
„Wo befindet sich augenblicklich Ihre Amati?“
 
„In einer stählernen Kassette, deren Schlüssel ich bei mir trage.“
 
„Wo ist das Telephon in Ihrem Pensionat angebracht?“
 
„Auf dem Korridor, unweit meiner Tür.“
 
„Erwähnten Sie im Verlaufe des Telephongesprächs den Zug, mit dem Sie zurückfahren wollten?“
 
Der Virtuose dachte einen Augenblick nach. „Ja“, sagte er endlich.
 
Joe Jenkins stand auf und ging, die Hände auf den Rücken gelegt, ein paarmal im Zimmer auf und ab. „Steht irgendwo in Ihren Zimmern“, begann er, indem er auf seiner Wanderung plötzlich vor seinem Besucher stehenblieb, „ein Bild von Ihnen?“
 
„Ja“, erwiderte der Gefragte, ein wenig verwundert.
 
„Im Empfangszimmer steht ein Kabinettbild von mir auf einem Seitentischchen.“
 
„Wann haben Sie dieses Bild zuletzt gesehen?“
 
„Ich verstehe Sie nicht.“
 
„Ich meine: wissen Sie genau, daß dieses Bild noch an seinem Platze ist?“
 
„Ich verstehe noch immer nicht . . . warum sollte das Bild nicht mehr da sein?“
 
„Ich möchte auf alle Fälle wissen, ob es noch vorhanden ist. Ich möchte mit Ihrer Wirtin telephonieren. Welche Nummer hat Ihre Pension?“
 
„Steinplatz 8145. Es wird am einfachsten sein, wenn ich selbst . . .“
 
„Nein“, unterbrach ihn der Detektiv. „Ich werde reden.“ Er ging an den Apparat.
 
„ . . . Halloh . . . ist dort Pension Valentin? Hier Mr. Joe Henkins . . . ja . . . Frau Valentin selbst? . . . Sehr gut . . . wollen Sie die Güte haben, im Empfangszimmer des Herrn Karst nachzusehen . . . dort steht ein Bild von Herrn Karst . . . also, nachzusehen, ob es noch jetzt dort steht? . . . Gewiß . . . ich warte . . .“ Eine Pause entstand. „Jawohl . . . ich bin noch am Apparat . . . es ist noch dort? Ich danke, Frau Valentin!“ — „Meine Vermutung war unbegründet. Immerhin habe ich etwas anderes festgestellt, was vielleicht nicht ohne Bedeutung ist.“
 
„Und was wäre dies?“
 
„Ihre Wirtin hat die Gewohnheit, das ihr am Telephon Gesagte laut zu wiederholen. Ich nehme an, daß sie das immer tut.“
 
Der Virtuose legte die Hand über die Stirn. „Ja“, sagte er schließlich. „Ich entsinne mich — sie hat diese Angewohnheit. Aber . . .“, er warf einen  erschrockenen Blick auf seine Taschenuhr und sprang auf . . . „um Gottes willen . . . es ist die höchste Zeit . . . ich muß Sie verlassen, Mr. Jenkins.“
 
Der Detektiv nickte. „Ich werde mit Ihnen kommen. Ich möchte auf alle Fälle heute abend in Ihrer Nähe sein. Denn alle Anzeichen sprechen dafür, daß sich noch heute irgend etwas  ereignen wird, was meine Anwesenheit wünschenswert erscheinen lassen dürfte.“ — —
 
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