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04.3
Am Kamin
Paul Rosenhaym
09 Der Similischmuck
____________________
Der
Similischmuck
(Berlin)
Der dunkle Seidenvorhang schloß sich rauschend über der
Leinwand. In den bronzenen Schalen, hinter den buntfarbigen
Deckenmedaillons,
in den hohen Girandolen flammte das Licht auf. Durch die Ränge des
großen Lichtspielhauses
ging es wie ein Aufatmen. Hier und da schimmerte ein Batisttüchlein,
zerdrückten scheue Finger verstohlen ein glitzerndes Tränchen.
Am Proszenium glühte die nächste Nummer auf. Knisternd
wendeten sich Programme; die Lichtfülle schrumpfte ruckweise zusammen
und glitt
allmählich in ein tiefes Dunkel über, und auf der Leinwand schimmerte
es in
violetten Schriftzeichen:
„WOCHENCHRONIK“
Das Orchester setzte mit einer Marschmelodie ein, und
surrend glitt es vorüber: Bilder vom Kriegsschauplatz . . .
Sprengversuche in einem Flußbett . . . ein
Defilé vor einem fremden Monarchen, dann kam ein Bild:
„ANKUNFT DES BERÜHMTEN
SCHWEDISCHEN FORSCHERS SVEN HEDIN
IN BERLIN.“
Die Halle des Lehrter Bahnhofs tauchte flimmernd auf der
Leinwand auf; ein paar Herren im Frack stellen sich in Positur; der
reservierte
Wagen des D-Zuges öffnete sich; lächelnd und grüßen trat der berühmte
Forscher
auf den Bahnsteig. Ein paar Reisende, die mit dem gleichen Zuge
gekommen sein
mochten, blieben neugierig und lachend stehen.
In diesem Augenblick gellte ein entsetzlicher Aufschrei
durch das Theater. —
In diesem kreischenden Ton zitterte eine so unverkennbare
Todesangst, daß ein Teil des Publikums bebend und verstört von den
Bänken
aufsprang. Ein Scharren von Füßen, ein Stimmengewirr, das immer mehr
anschwoll,
ging durch das Haus. Der Film brach ab; die Musik schwieg und das Licht
flammte
auf. Aller Augen richteten sich auf den Platz, von dem der Schrei
gekommen war.
Vorn in der ersten Bankreihe bemühte sich ein Mann um
eine Frau, die bewegungslos in seinen Armen lag. Ein paar Herren eilten
hinzu
und boten ihre Hilfe an; mitleidig näherten sich einige Frauen der
Gruppe,
unschlüssig und ratlos, was hier zu tun sei.
Zwei Theaterdiener hoben die anscheinend Erkrankte sanft
empor und trugen sie behutsam in den Vorraum, um sie dort auf eine
Chaiselongue
niederzulegen.
Der Herr, der in offensichtlicher Teilnahme der kleinen
Gruppe gefolgt war, zog schweigend ein kleines Kristallfläschchen.
„Einen
Augenblick!“
Die Diener, die einen Arzt vermuten mochten, traten
respektvoll zurück. Der Fremde rieb mit dem Inhalt des Fläschchens der
Bewußtlosen die Schläfe. Nach einigen Sekunden schlug sie die Augen
auf.
Der Fremde wandte sich herum und winkte einem der Diener:
„Einen Wagen!“ Der Diener sprang davon.
Der Ehemann der Erkrankten machte den Eindruck eines
gutsituierten Handwerkers. Er ging auf den Fremden zu und reichte ihm
die Hand.
„Ich danke Ihnen. Sie haben meiner Frau eine große Wohltat erwiesen . .
. Sie
sind Arzt, vermute ich . . .“ Bevor der andere etwas erwidern konnte,
fuhr der
Sprechende, noch immer verwirrt und erregt, fort: „Ich hätte eine
Bitte, Herr
Doktor . . . würden Sie mit uns nach Hause fahren?“
Als der Gefragte zögerte, fuhr er in dringlichem, fast
bittendem Tone fort: „Bitte . . . kommen Sie mit uns. Um es Ihnen offen
zu
sagen . . . ich fürchte mich, mit meiner Frau jetzt allein zu bleiben .
. .“
Der Fremde ließ einen
fragenden Blick von der Erkrankten zu ihrem Gatten hinübergleiten und
schwieg.
„Ich muß Ihnen sagen,“ fuhr der Ehemann fort, „ich habe alle diese Tage
erwartet und gefürchtet, daß ein Anfall oder eine andere Katastropfe
eintreten
würde . . .“
„So war Ihre Frau
krank?“
„Nein. Krank war sie
nicht . . . aber, irgend etwas anderes muß mit ihr vorgegangen sein . .
.
etwas, was ich bis heute nicht verstehe . . . nicht fasse . . . es ist
auch
kein Zufall, daß wir heute in dieses Lichtspieltheater gefahren sind .
. .
meine Frau hat mich gezwungen, mit ihr hereinzugehen . . . sie muß
gewußt
haben, daß irgend etwas sie hier erwarte . . . und von all den
unbegreiflichen
Dingen, die in diesen Tagen in meinem Hause vorgegangen sind, ist
dieser Anfall
nur das letzte.“
Der Fremde warf einen forschenden Blick auf die Frau, die
allmählich zu sich kam, dann sagte er mit ruhiger Stimme:
„Gut. Ich werde mitkommen.“
Der Diener kam zurück. „Ein Auto war nicht zu haben“,
meldete er. „Aber ich habe eine Droschke erwischt. Sie wartet vor der
Tür,“
Der Fremde nickte. „Also gehen wir.“
Auf dem regenfeuchten Asphalt der endlosen Straßen des
Berliner Westens spiegelten sich in hundertfachen Reflexen die
elektrischen
Lichter. Während die Droschke gemächlich dahintrottete, war der Ehemann
zärtlich um seine Frau besorgt, die noch bleich und matt neben ihm in
den
Polstern lehnte. Allmählich sank ihr Kopf schwer gegen seine Schulter;
die
beiden Männer betrachteten stumm das junge, hübsche Gesicht, über das
von Zeit
zu Zeit die zitternden Strahlen der Straßenlaternen huschten. Noch
jetzt,
selbst im Halbschlaf, trug das junge Gesicht den unverkennbaren
Ausdruck der
Angst und des Entsetzens, und tiefe melancholische Schatten lagen um
die Augen.
Ein schwerer schmerzlicher Zug war um den leichtgeöffneten Mund
eingegraben,
und noch immer schien es wie ein Zittern durch ihre Gestalt zu gehen.
Während die beiden Männer teilnehmend die junge Frau
anblickten, schien es, als ob die Spannung in ihren Zügen allmählich
wiche; der
gequälte Ausdruck ging langsam in ein friedliches, selbstvergessenes
Lächeln
über, und mit einem leichten Ruck glitt ihr Kopf an die Schulter ihres
Gatten.
Er beugte sich zärtlich über sie; und während er ihren tiefen,
langsamen
Atemzügen lauschte, sagte er lächelnd: „Sie schläft!“
Der Fremde der schweigend dem Paar gegenübergesessen
hatte, nickte. „Ja, sie schläft tief und fest.“
Der Ehemann stieß einen tiefen Seufzer aus. „Zunächst,
Herr Doktor . . .“
„Ich bin kein Arzt“, erwiderte der andere. „Mein Name ist
Joe Jenkins . . .“
Es war, als ob dem andern der Atem stockte. „Wie . . .“ begann er
endlich mit bebender Stimme, „Mr.
Joe Jenkins, der berühmte Detektiv?“
„Derselbe.“
„Nun, Mr. Jenkins . . .“ er haschte nach der Hand des
andern und drückte sie fest, „Sie glauben nicht, wie mich das freut . .
. das
ist, als ob eine höhere Fügung Sie mir gerade in diesem Moment
geschickt hätte
. . . denn ich kann Sie versichern: was ich Ihnen zu berichten habe,
dürfte zu
dem Seltsamsten gehören, was jemals einen Detektiv beschäftigt hat!“
„Nun,“ sagte Joe Jenkins lächelnd, „ich hatte von
vornherein das Gefühl, daß hier etwas zugrunde liegt, was in mein
Ressort
schlägt.“
Die Schlafende machte plötzlich eine zuckende Bewegung.
Jenkins legte den Finger auf den Mund.
Die Droschke hatte das brausende Gewühl der
Hauptverkehrsstraßen hinter sich gelassen und bog in die stillen
Gartenstraßen
der Vorstadt ein. Das Licht der Laternen in diesen dunklen Alleen wurde
spärlicher
und trüber, und immer mehr wichen die Häuser hinter den tiefen,
schweigenden
Gärten zurück.
Durch ihre veränderte Lage hatte sich der Mantel der
jungen Frau ein wenig verschoben. Einmal warf ein vorüberrasendes
Automobil
einen grellen Lichtstrahl über ihre Gestalt; in diesem Augenblick sah
Mr. Joe
Jenkins einen großen Brillantschmuck von seltsamer Form in dem
zuckenden Lichte
aufglänzen. Die Augen des Detektivs hefteten sich erstaunt auf das
blitzende
Geschmeide, das in seltsamem Kontrast stand zu der einfachen
Erscheinung seiner
Trägerin. Ihr Mann, der den fragenden Blick aufgefangen haben mochte,
lächelte
ein wenig. „Der Schmuck ist unecht, Mr. Jenkins“, sagte er. „Ich habe
ihn
meiner Frau vor etwa vier Wochen von einem Hausierer für zwölf Mark
gekauft.“
Der Detektiv nickte, und wieder glitt sein Auge über
diesen blitzenden Schmuck, dessen unwahrscheinlich große Steine die
Unechtheit
auf den ersten Blick vermuten ließen. Joe Jenkins beugte sich lauschend
über
die Schlafende, dann sagte er: „Ich denke, Sie können jetzt mit Ihrem
Bericht
beginnen.“
Der andere nickte. „Man Name ist Michaelis. Oskar
Michaelis. Wir sind jetzt über zwei Jahre verheiratet. Ich bin
Holzbildhauer.
Wir haben uns in Perlitz, einem westlichen Vorort von Berlin, ein
Häuschen
gekauft, und ich habe mir darin ein kleines, schmuckes Atelier
eingerichtet.
Mein Kundenkreis ist noch klein, und die Aufträge gehen darum ziemlich
spärlich
ein; aber ich habe mir in meinen früheren Stellungen ein paar Tausend
Mark
gespart, und auch meine Frau hat etwas Vermögen. Sie war früher in
mehreren
vornehmen Häusern Kammerzofe. Viel brauchen wir ohnehin nicht, denn wir
sind
sehr solide und sparsam und verbringen unsere Abende größtenteils in
unseren
vier Pfählen, und so können wir schon abwarten, bis die Zeiten bessere
werden.
Freundschaftlichen Verkehr unterhalten wir fast gar nicht — höchstens,
daß
hier und da ein Nachbar bei uns vorspricht.
Es ist jetzt ungefähr vier Wochen her, — wir saßen gerade
bei Tisch —, da klingelte es. Meine Frau geht hinaus, um nachzusehen.
Es
vergehen ein paar Minuten — sie kommt nicht zurück. Ungeduldig, ein
wenig ärgerlich,
gehe ich auf den Flur, um nachzusehen, wer da ist. In der Tür steht
meine Frau
in eifriger Unterhaltung mit einem Hausierer. Ich trete näher, da sehe
ich in
der Hand meiner Frau ein großes Brillantkollier — eben das, das Sie
hier an
ihrem Halse sehen. Zu meinem leisen Befremden ist meine Frau
anscheinend ganz
entzückt von dem Schmuck und betrachtet mit begehrlichen Augen die
Steine . . .
‚Aber Kind‘, sage ich, halb lachend, halb ärgerlich, ‚du
denkst doch nicht im Ernst daran . . . diese entsetzlich großen Steine,
denen
man die Unechtheit auf fünfzig Schritt ansieht . . . du bist doch keine
Marktfrau! Das ist ja ein fürchterlicher Talmi!
Meine Frau starrt noch immer wie verzückt auf das
Halsband. Endlich sagt sie in fast trotzigem Ton: ‚Und ich wünsche, daß
du mir
diesen Schmuck kaufst, Oskar!‘
Ich zucke resigniert die Achseln und wende mich an den
Hausierer. ‚Was soll er kosten?‘ frage ich.
Er streift mich mit einem scheuen Blick. ‚Zwölf Mark!‘
sagt er endlich.
Langsam wendet meine Frau den Kopf zu mir herum und sieht
mich mit einem Blick an, von dem sie aus Erfahrung weiß, daß ich ihm
nicht
widerstehen kann.
Also, um es kurz zu machen, Mr. Jenkins: ich habe den
Schmuck gekauft. Widerwillig, ärgerlich . . . immer in der Hoffnung,
meine Frau
werde den unechten Schmuck nicht tragen. Und sie hat ihn auch kaum
getragen.
Höchstens hat sie ihn mal abends auf ein Stündchen angelegt, und ich
habe sie
lächelnd beobachtet, wie sie sich über das Glitzern der Similis freute.
Sie
werden mich vielleicht für schwach halten, Mr. Jenkins . . . aber, du
lieber
Gott, das Bedürfnis sich zu schmücken, ist nun einmal den Frauen
mitgegeben.
Eines abends, als ich aus der Stadt komme, treffe ich
wieder den Hausierer in unserer Straße, nicht weit von meinem Hause. Er
sieht
mir mit einem scheuen Blick ins Gesicht, lüftet leicht den Hut und geht
weiter.
Ich blieb stehen und sah ihm lange nach, wie seine schmale, ein wenig
gebückte
Gestalt allmählich im Abendnebel verschwand. Und, ich weiß selbst nicht
wie,
Mr. Jenkins: während ich ihm nachblickte, drängte sich mir das Gefühl
auf, als
ob diese Begegnung der Vorbote eines Unheils sei.
Ich komme nach Hause; sonst empfängt mich meine Frau
immer an der Tür. Heute ist die Diele leer. Ein wenig beunruhigt gehe
ich durch
den Korridor; plötzlich höre ich ein seltsames Geräusch. Und im
nächsten
Augenblick weiß ich es: Jemand weint. Eine Frau — meine Frau. Ich gehen
dem Tone nach und finde Fanny endlich im Wohnzimmer. Einen
Augenblick bleibe ich vor der Tür stehen, mit klopfendem,
angsterfülltem
Herzen; noch nie habe ich ein so trostloses, fürchterliches Weinen
gehört. Ich
trete ein; sie springt verwirrt auf und fährt sich mit dem Tuch über
die Augen,
die rot und geschwollen waren — aber, so viel ich sie auch gefragt
habe, Mr.
Jenkins, sie hat mir nie gesagt, warum sie geweint hat.
Am nächsten Morgen erhielt ich einen größeren Auftrag:
ein angesehener Berliner Juwelier bestellte mir sechs Ebenholztruhen
mit
reicher Schnitzerei, bestimmt zur Aufnahme von Schmuck. Daher habe ich
die ganze
Woche mein Haus nicht verlassen.
Vorgestern abend nun, etwa um sieben Uhr, klingelte es an
der Haustür. Ich eile herzu und öffne; niemand ist da. Im nächsten
Moment
schimmert etwas Weißes auf dem Boden — ein Buch, das jemand durch den
Spalt des
Briefeinwurfs geworfen haben mußte. Ich hebe es auf;
es ist der ‚Modenkalender‘. Irgend ein Kolporteur mochte ihn zur
Ansicht
hereingeworfen haben. Ich beschließe, nach Feierabend darin zu lesen
und stecke
das Buch in die Tasche.
Müde, wie ich von der Arbeit war, vergaß ich, meiner Frau
von dem Kalender zu sagen. An diesem Abend hatte ich lange in der
Werkstatt zu
arbeiten; erst um halb zwölf kam ich dazu, mich zur Ruhe zu legen.
Meine Frau
schlief schon.
Wir haben elektrisches Licht. Ich schalte die kleine Lampe
auf meinem Nachttischchen ein und blättere in dem Kalender — für mich
das beste
Schlafmittel. Allmählich fühle ich, wie mir die Augen zufallen; mit
einer
halbunbewußten Bewegung lege ich das Buch auf die Marmorplatte des
Nachttisches
und schlafe ein.
Mitten in der Nacht wache ich davon auf, daß etwas an
meiner Bettdecke zerrt und gleich darauf an meiner Hand kratzt. Ich
reibe mir
den Schlaf aus den Augen; das Zimmer ist hell erleuchtet; ich habe
vergessen,
die Lampe auszuknipsen. Im nächsten Augenblick erkenne ich die Ursache
der Störung:
Puck, der kleine Hund meiner Frau, ist es, der fortwährend an meiner
Hand
kratzt, die großen Augen mit einem deutlich erkennbaren Ausdruck des
Entsetzens
auf die Marmorplatte des Nachttisches gerichtet. Das Tier zittert am
ganzen
Leibe, und seine Haare sind borstenartig gesträubt. Ich folge seinem
Blick, und
im nächsten Augenblick sehe ich etwas Seltsames: etwas, was ich selbst
nicht
glauben würde, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen
hätte:
langsam, wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, öffnet sich das Buch
auf dem
Nachttisch; die Seiten gehen knisternd auseinander, und offen bleibt
das Buch
liegen. Ich springe aus dem Bett und stülpe die Karaffe über meinem
Kopfe aus:
nein, ich war wach. Das war kein Traum. Ich stürze auf das Buch zu, und
meine
Blicke irren verständnislos über das bedruckte Papier . . .“
„Einen Augenblick.“
Der Detektiv sah mit unverhohlener Spannung auf den
Sprechenden. „Haben Sie sich die Seiten gemerkt, die obenauf lagen?“
Der andere dachte einen Augenblick nach. „Es war eine Hamburger
Geschichte: ‚Der Kapitän der Kattrepel‘. Ich würde sie sofort
wiederfinden. Ich
habe das Buch zu Hause . . . In dieser Nacht habe ich, das werden Sie
begreifen, Mr. Jenkins, kaum mehr ein Auge zugetan. Immer wieder
schreckte ich
aus dem leichten Halbschlummer auf und meine Augen irrten zu dem Buch
hinüber,
zu diesem merkwürdigen, seltsamen Buch. Ich hörte die Uhr drei
schlagen, vier .
. . endlich verfiel ich gegen morgen in einen leichten Schlaf.“
„Drehten Sie die Lampe aus?“
„Ja. Am andern Morgen lag das Buch geschlossen auf der
Marmorplatte des Tischchens.“
„Eine Frage. Erzählten Sie Ihrer Frau von dem Erlebnis
dieser Nacht?“
„Nein, Mr. Jenkins.“
„Warum nicht?“
„Wenn ich Ihnen das erklären sollte, Mr. Jenkins . . .
ich vermöchte es nicht. Irgend etwas hat mich davon zurückgehalten. Sei
es der
Gedanke, meiner Frau die Aufregung zu ersparen, sei es irgendein
anderer Grund,
über den ich mir selbst nicht recht klar bin —
ich habe ihr nichts erzählt.“
„Wo ist das Buch?“ fragte der Detektiv leichthin.
„Ich habe es in meinen Schreibtisch eingeschlossen.“
„Sehr gut. Was geschah weiter?“
„Es war zwei Tage später, als ich frühmorgens einen
kleinen Gang in Perlitz selbst zu erledigen hatte; ich muße die
Anlage eines Blitzableiters, die
ich beschlossen hatte, auf dem Gemeindeamt anmelden. Schon nach einer
halben
Stunde etwa kehre ich zurück. Der kleine Puck, das Hündchen meiner
Frau,
begleitete mich. Eben biege ich in unsere Straße ein, als mir plötzlich
das
Benehmen des Tieres auffällt; es beginnt auf einmal heftig zu bellen,
zornig,
wütend, wie ich es sonst überhaupt nicht an ihm kenne, und rennt wie
besessen
voraus. Ich folge dem Tier mit den Blicken, und plötzlich sehe ich den
Grund
der Aufregung meines Hundes: am Gittertor meines Hauses steht der
Hausierer.
Ich beschleunige meine Schritte. Der Hund fährt wie
besessen auf den Fremden los, der ängstlich ein paar Schritt
zurückweicht. Das
Tier hat gegen diesen Mann das gleiche unerklärliche Mißtrauen wie ich
selbst .
. . Eben nähere ich mich meinem Hause, als ich sehe, daß meine Frau
eilends den
Kiesweg herabgeschritten kommt. Schon vor ihr bin ich zur Stelle.
Der Hausierer zieht ein kleines weißes Kuvert und sagt
lächelnd zu meiner Frau: ‚Heute möchte ich Ihnen etwas schenken . . .‘
Ich sehe
ihn erstaunt von oben bis unten an. Er entnimmt dem Kuvert zwei
längliche
Karten. ‚Dies sind zwei Billetts für den Lichtspielpalast‘, sagt er
geschäftig.
‚Sie gelten nur für heute abend. Bitte sehr, gnädige Frau . . .‘ Damit
übergibt
er meiner Frau die beiden Karten, die sie zögernd annimmt, ‚und ich
bitte Sie .
. . gehen Sie hin!‘ Ein wenig erstaunt über den befremdlichen Tonfall,
blicke
ich meine Frau an, die wie geistesabwesend auf die beiden Karten
starrt.
‚Willst du, daß wir hinfahren?‘ beginne ich. ‚Ich muß gestehen, ich
habe wenig
Lust.‘ Damit drehe ich mich zu dem Hausierer herum. Zu meinem Erstaunen
bemerke
ich erst jetzt, daß er verschwunden ist.
Ich blicke stumm die Straße hinunter, dann, nach einer
Weile, sage ich, indem ich mich zu meiner Frau herumwende:
‚Gib her!‘ und strecke die Hand nach den Karten aus. —
Mit einem Ruck zieht Fanny die Hand zurück. So, als ob
sie ihren Inhalt meinem Griff entziehen will. Und dann sagt sie in
einem Ton,
so energisch . . . nein . . . feindselig . . . so wie ich ihn noch nie
an ihr
gehört habe:
‚ich werde in den Lichtspielpalast fahren. Wenn du nicht
mit willst, so fahre ich allein.‘ Damit wendet sie sich herum und geht
mit
seltsam schweren Schritten auf das Haus zu.
Was blieb mir übrig? Noch nie habe ich meine Frau allein
ausgehen lassen. Darum habe ich mich umgezogen, wohl oder übel, und bin
mit
meiner Frau in den Lichtspielpalast gefahren.
Das Weitere kennen Sie, Mr. Jenkins. Das erste was wir
sahen, war ein humoristischer Kinderfilm. Dann der große Schlager ‚Die
Mumie‘.
Dann kam die Wochenschau . . . und dann . . . bei einem der Bilder . .
. ich
muß Ihnen gestehen: ich erinnere mich überhaupt nicht mehr, was auf der
Leinwand vorging . . . als meine Frau plötzlich mit einem entsetzten
Schrei
aufsprang und mit der Rechten zitternd auf das flimmernde Bild vor uns
wies.“
„Es war der Film ‚Sven Hedin in Berlin“, erwiderte Joe
Jenkins ruhig. — —
Der Wagen rollte in langsamen Trab durch die nächtliche
Landstraße, die sich in endloser Monotonie verlor bis in die letzten
Ausläufer
des dunklen Kiefernwaldes. Joe Jenkins blickte schweigend in die
reglose Nacht
hinaus.
„Wäre es möglich,“ begann er nach einer langen Pause,
„daß Ihrer Frau eine der Personen auf dem Sven-Hedin-Film
bekanntgewesen wäre?“
Der Holzbildhauer schüttelte lächelnd den Kopf.
„Ausgeschlossen, Mr. Jenkins.“
„Hm . . . Sie kennen die Vergangenheit Ihrer Frau genau?“
„Ganz genau. Sie war Zofe in mehreren vornehmen Häusern.
Ihre Zeugnisse sind geradezu vorbildlich; überall war man
außerordentlich mit
ihr zufrieden.“
„Ihre Papiere sind lückenlos?“
„Absolut. Nicht einen Tag war sie in den vier Jahren
außer Stellung.“
Jenkins zog die Uhr. „Ich höre ein Automobil uns
entgegenkommen. Sollte es frei sein . . . so könnte ich noch zur
rechten Zeit
anlangen . . .“ Ein kurzer Zuruf, und mit einem Ruck hielt das
Automobil
ratternd an der Seite der Droschke. Der Detektiv zog eine Visitkarte.
„Hier . .
. meine Adresse . . . sollte sich etwas Neues ereignen . . . und ich
bin sicher,
daß sich etwas ereignen wird . . . so rufen Sie mich telephonisch im
Hotel an.“
„Ich werde es sofort
tun, Mr. Jenkins . . . lieb wäre es mir gewesen, wenn Sie mit mir . .
.“
Das Automobil zog fauchend und knatternd an. „Wohin?“
fragte der Chauffeur dienstbeflissen, offenbar froh, in dieser
entlegenen
Gegend einen Fahrgast zu erhalten.
Der Detektiv warf einen Blick auf die weite Landschaft.
Dort vorn, im Osten, lag ein feuriger, rötlicher Schein über dem
Horizont: das
nächtliche Berlin, das seine ruhelosen, strahlenden Reflexe bis zu den
Wolken
hinanwarf! Jenkins horchte einen Moment auf das gleichmäßige Rollen der
enteilenden Droschke, dann sagte er leise:
„Nach dem Lichtspielpalast!“
* * *
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