„Sie
fürchteten es?!“, meinte
Ellen plötzlich vollkommen verwandelt. Sie sprach mit einer Ruhe, die
sogar
Evelyn überraschte. „Ich fürchte nichts . . . Ich sorge mich nur um die
Sicherheit der Drei von der Feme, denn ich kann diese Männer nicht
verurteilen,
die man verfolgt und hetzt und die doch nur immer im Grunde Gutes getan
haben.“
Ihre Sprache klang
leidenschaftlich und voll innerster Überzeugung.
Evelyn Baaker blickte
still zur
Seite.
„Gutes?!“,
wiederholte sie
zweifelnd. „Nennen Sie es gut, wenn die Drei eigenmächtig
Menschen verschwinden lassen?! Nennen Sie es gut, wenn diese Drei
selbstherrlich mit Hilfe ihres Reichtums, denn sie sind sehr reich, das
weiß
man, die seltsamsten Methoden anwenden, um unter Umgehung des
Rechtsweges zu
strafen?!“
Ellen Clinton warf
den hübschen
Kopf kampflustig in den Nacken. „Ich nenne es gut“, verteidigte
sie
uns voller Eifer, „den Armen in aller Stille zu helfen, und das tun die
Drei, –
das weiß ich! Wir beide, Miß, wer Sie auch immer sein mögen, werden
hierüber
nie zu einer Einigung gelangen. Vorhin sagten Sie, wir hätten keine
Zeit zu
verlieren. Das stimmt. Ich schulde Ihnen Dank . . .: Der Tresor ist
offen!
Lassen Sie mich mein heimliches Werk vollenden. Ich . . . ich will nur
einen
der für das Preisrätsel eingelaufenen Briefe öffnen und prüfen — nur
das!
Hindern Sie mich nicht daran. Denn es ist mein eigener Brief, Miß. Ich
will
niemanden schädigen.“
Evelyn Baaker nickte
nur. „Bitte .
. . Ich glaube Ihnen. Trotzdem — ich warne Sie!“
Doch Ellen Clinton
hatte bereits
einen der Kästen, in denen die Briefe je nach Eingang sauber geordnet
in Reihen
eng beieinander lagen, herausgenommen und auch sehr bald ihren Brief
gefunden.
Schon beim Anblick
des Umschlages
stutzte sie.
Evelyn war
nähergetreten.
„Was bedeutet das?!“,
rief Ellen
gänzlich verwirrt. „Hier steht auf der Rückseite meine Adresse, mein
Name, aber
meine Handschrift ist nur nachgeahmt!!“
„Öffnen Sie!“ meinte
Evelyn halb
befehlend. „Die Briefklappe ist nur leicht zugeklebt.“
Ellen gehorchte . . .
Und jetzt, als sie
das Amateurbild
und die beigefügte, mit Maschine geschriebene Beweisführung betrachtete
und
las, entfuhr ihr trotz aller Selbstbeherrschung ein leiser Schrei.
Schnell tat sie Bild
und
Briefblatt wieder in den Umschlag zurück, klebte ihn zu und legte den
Brief mit
zitternder Hand in den Kasten zurück.
Evelyn beobachtete
sie
unausgesetzt.
„Sie sind freudig
überrascht, Miß
Clinton?“, fragte sie forschend.
„Ja, — mehr als das!
Ich begreife
nicht, wie . . .“, und da schwieg sie plötzlich.
Kommissar Baakers
kluge, energische
Schwester meinte etwas mißtrauisch:
„Handelt es sich
wirklich um das
Bild und das Beischreiben, das Sie dem Old-Palast einschickten?“
„Darauf kann ich
Ihnen leider
nicht antworten, Miß“, erklärte Ellen so bestimmten Tones, daß Evelyn
mit einem
leichten Achselzucken den Tresor wieder verschloß.
Für mich war es
höchste Zeit, das
Feld zu räumen.
Gleich darauf
beobachtete ich vom
Dache aus, wie beide Mädchen sich über die Feuerleiter und den Hof
unangefochten entfernten, kehrte dann über den Hausboden in meinen
Verschlag
zurück und nahm einige gründliche Veränderungen mit mir vor.
Es war jetzt halb
zwölf, und das
Nachtkabarett im dritten Stock des Old-Palastes hatte gerade mit seinem
Programm begonnen.
Ein Herr im Frack mit
leicht
angegrauten Schläfen und einer würdigen Hornbrille schlenderte durch
die dicht
besetzten Tischreihen und schaute dabei verschiedentlich auf seine Uhr,
— er
schien Bekannte zu suchen, jedoch nicht zu finden, verließ wieder den
Saal und
saß fünf Minuten darauf in einer dunklen Limousine.
„Du wirst noch etwas
warten
müssen, lieber Bick“, sagte er zu dem blondbärtigen Schofför. „Freund
Roger Sheffield,
unser Henker, hatte sich im Kabarett gerade erst einen Imbiß servieren
lassen.
Inzwischen werde ich die Vorhänge zuziehen und die Schreibmaschine
hervorholen.
Du mußt einen Brief an Mac Forster schreiben, einen deiner
Warner-Briefe.“
„Mit Vergnügen, Mr.
Charles
Bellard!“, erwiderte Bick übertrieben diensteifrig. „Dieser Macdonald
Forster
ist ebenfalls eine der dunklen Nummern in unserem Spiel.“
„Nicht die
dunkelste“, schränkte
ich Bicks abfällige Kritik etwas ein.
Als der Brief fertig
war, bestieg
Roger Sheffield im Zylinder und Abendmantel unser Auto. — Er zeichnet
sich nie
durch übermäßige Liebenswürdigkeit aus, heute war er besonders
schlechter
Laune. „Nicht einmal zwei Stunden darf man sich im Kabarett
ausschlafen!“,
brummte er unwirsch. „Was zum Henker gibt’s denn?!“
Bickfort Tomsen
lachte. „Du
solltest nie „Zum Henker“ sagen, edler Baronett. Du schon gar nicht! An
allen
Anschlagsäulen ist dein Ruhm abgedruckt. — Höre zu. Olaf hat mir
folgenden
Warner-Brief an Mac Forster diktiert:
„Mr. Macdonald
Forster, die
Gründe Ihres seltsamen Benehmens Ihrer Braut gegenüber sind uns zwar
noch
unklar. Um so bestimmter wissen wir, daß Sie ein Menschenfänger sind.
Hüten Sie
sich! — Dies ist ein Befehl, den Sie verstehen werden. — Der Warner.“
„Er mag den Brief
verstehen, —
ich verstehe ihn nicht“, meinte der stämmige Baronett mißmutig.
„Tröste dich, Roger,
ich tappe
genau so im Dunkeln wie du“, sagte Bickfort leise kichernd. „Olaf hat
offenbar
jetzt die richtige Katze am Schwanz erwischt.“
„Ja, — — Poussy!“,
erklärte ich
genau so belustigt. „Frau Amalies Poussy . . .! — — Und nun vorwärts!“
—
Um dieselbe Zeit saß
Macdonald
Forster, der doch nur bei einer Anwaltsfirma als einfacher Schreiber
tätig war,
zusammen mit mehreren sehr ernsten Herren, die recht scharfe Züge und
kühle,
kluge Augen hatten, in seinem zweiten und eigentlichen Heim in Park
Lane und
ließ mit stoischer Ruhe die Vorwürfe des Polizeipräsidenten über sich
ergehen.
„Forster“, sagte der
Allgewaltige
von Scotland Yard unter anderem, „die Dienste, die Sie uns bisher
geleistet
haben, erkenne ich rückhaltslos an. Daß ein Mann wie Sie selbstlos
genug ist,
seinen wahren Bildungsgrad und seinen Stand derart zurückzusetzen, um
der
Allgemeinheit zu dienen, kann nicht hoch genug bewertet werden. Aber
die letzte
Sache hätte niemals geschehen dürfen. — Also auch Sie haben nicht die
allergeringste Spur gefunden?“, fügte er überflüssigerweise hinzu.
„Nein, — ich erklärte
das schon zweimal“,
erwiderte Forster kalt und mit einem eigentümlich finsteren Blick.
Der Präsident erhob
sich. „Es tut
mir leid, Forster“, meinte er achselzuckend. „Ich muß Ihre Vollmachten
zurückziehen und widerrufen.“
„Bitte, mir nur
angenehm“, meinte
der also Gemaßregelte achselzuckend, und um seine Lippen zeigte sich
dabei ein
Ausdruck von Schmerz und Gewissenspein, der nur einem sorgfältigen
Beobachter
auffallen konnte.
Die Herren hatten in
ihrer
Erregung — denn es ging hier um sehr ernste Dinge — das wiederholte
Pochen an
der Flurtür überhört.
Der Mann, der in das
Arbeitszimmer Zutritt begehrte, ohne von Forsters Diener in die Wohnung
eingelassen zu sein, war ein uniformierter Angestellter eines
Eilboten-Instituts und hatte bereits an der Tür eine Weile gehorcht.
Jetzt erst
wurde Forster aufmerksam und rief etwas gereizt und ungeduldig mit
seiner
zuweilen messerscharf klingenden Stimme ein überlautes „Herein, zum
Donner!“
Der alte Bote
entschuldigte sich,
daß er die Herren gestört habe, überreichte Forster einen Brief und
verschwand
eiligst.
Auch die hohen Herren
des
Präsidiums verabschiedeten sich merklich kühl, und als Macdonald nun
allein
war, schnitt er den Briefumschlag hastig auf. — Er kannte dieses dicke,
gelbliche Papier, und mehrmals überflog er mit verkniffenen Augen die
sonderbare Warnung, — nein, diesen ihm durchaus verständlichen Befehl.
Forster war ein
Mensch mit
eisernen Nerven.
Jetzt aber betupfte
er sich doch
die schweißfeuchte Stirn, starrte grübelnd vor sich hin und hob dann
den
seltsam traurigen Blick und betrachtete sinnend das Bild Ellen
Clintons,
das drüben auf seinem Schreibtisch stand.
Gleich darauf
verschwand er in
seinem Schlafzimmer, von dessen Fenstern er eine Reihe von Gärten
überschauen
konnte, blieb lange Zeit im Dunkeln stehen und zog sich schließlich
sehr eilig
um.
Er hoffte insgeheim,
den
wachsamen Augen der Feme doch noch zu entgehen, — — aber er täuschte
sich.
Wir hatten alles
getan, endlich
hinter sein geheimnisvolles Treiben zu kommen, und als Forster an den
Docks
eine einsame Wassertreppe hinabstieg und völlig vermummt ein kleines
Boot
loskettete, mit dem er über den Strom ruderte, hatten wir bereits ein
Motorboot
entliehen und blieben abermals unbemerkt hinter ihm, hielten uns aber
in weiter
Entfernung und beobachteten ihn durch ein Fernglas.
Freund Bickfort war
am Ufer
geblieben. Wir vermieden es nach Möglichkeit, zu dreien aufzutreten,
und die
weiteren Ereignisse bewiesen, wie richtig wir auch diesmal gehandelt
hatten.
Ich hatte längst
einen armseligen
Kahn mit einem Außenborder wahrgenommen, scheinbar das mit Körben
gefüllte
Fahrzeug eines Gemüsehändlers, und auch Freund Roger schaute wiederholt
mißtrauisch hinüber.
Die Nacht war hell
und
sternenklar, und Mac Forster, immer noch mißtrauisch und vorsichtig,
wich jetzt
in großem Bogen einer Polizeibarkasse aus und nahm dann wieder die
Richtung auf
einen Seitenkanal, in dem zumeist größere Schleppkähne lagen und dessen
Ufer von
Bogenlampen stellenweise hell beleuchtet wurden, während Schiffsstauer
und
Arbeiter die Schleppzüge entluden.
Das Quietschen der
Ketten von Dampfwinden und Kränen, das
Poltern und Rasseln der auf Schienen laufenden kleinen Kippwagen
und das
Aufheulen von Dampfsirenen erklang immer lauter, immer näher.
Der Mann in dem
Gemüsekahn,
dessen Außenborder einen greulichen Lärm vollführte, war nun von Mac
Forsters
Boot kaum mehr hundert Meter entfernt.
Plötzlich sah ich in
dem
Gemüsekahn, in dem ein einzelner älterer Mann hockte, das Mündungsfeuer
einer
Maschinenpistole aufblitzen . . .
Schüsse waren nicht
zu hören. Der
Außenborder ratterte ohnedies wie ein Maschinengewehr . . .
Freund Roger schrie
erschrocken
auf.
„Olaf, — — das galt
Forster!!“
Ja — es hatte Forster
gegolten,
und sein kleiner Nachen trieb nun mit der Mündung davon.
Mac war verschwunden.
Aber auch der Kahn
des
heimtückischen Schützen benahm sich sehr seltsam: Er sackte weg!! Und
das ging
so schnell, daß der geheimnisvolle Insasse und niederträchtige
Meuchelmörder
zweifellos eine Bodenklappe seines Fahrzeugs geöffnet haben mußte.
Wir beide konnten uns
um den
gefährlichen Burschen, der nun schwimmend entkam, nicht weiter kümmern
. . .
Unser Motorboot hatte
Besseres zu
tun.
Ich
wußte: Der Schütze
entging uns nicht mehr!
Für mich war das
Geheimnis der
Persönlichkeit des stillen Kompagnons des Mr. Seymour Flox bereits so
gut wie
gelöst, und damit zugleich das des flüchtigen amerikanischen
Bankräubers
Silvester Blooc, der so ungezählte kleine Sparer um die Früchte
ehrlicher
Arbeit gebracht hatte.