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Literatur


04.3



Märchen - Allgemein

Leo Tolstoi




Die kleine Dohle

Ein Einsiedler sah eines Tages im Wald einen Falken. Der brachte zu einem Dohlennest ein Stück Fleich, zerriss es in kleine Stücke und fütterte damit eine kleine verwaiste Dohle.

Das verwunderte den Einsiedler. Er dachte: Nicht einmal eine Dohle lässt Gott umkommen. Er hieß den Falken für die struppige Waise sorgen. Da sieht man, dass Gott alle seine Geschöpfe ernährt, und wir sorgen uns um uns selbst. Ich werde mir keine Gedanken mehr um mein Weiterkommen machen und aufhören, Vorräte zu hamstern: Gott lässt sein Auge von keinem Wesen, auch nicht von mir.

Der Einsiedler verkroch sich tiefer in den Wald und lobte Gott. Drei Tage und drei Nächte blieb er ohne einen Bissen, ohne einen Trunk. Am dritten Tag war der Einsiedler so entkräftet, dass er die Hände nicht mehr heben konnte. Vor Schwäche schlief er ein. Im Traum erschien ihm ein Heiliger. Der trat zum Einsiedler und sprach zu ihm: "Warum sammelst du keine Speise für dich? Du denkst, Gott wird dir zu Willen sein. Du versündigst dich. Gott hat die Welt also geschaffen, dass jedes Geschöpf selber für das Nötige sorgt. Den Falken hieß Gott die Dohlenwaise füttern, weil sie selbst sich nicht helfen kann. Aber du kannst dich selbst rühren. Du willst Gott versuchen. Erwach und gib dir Mühe wie ehedem!" - Der Einsiedler wachte auf und lebte wie früher.


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