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04.2
Märchen der
Völker
Stefan Mart
Meister Floh - Seite 2
Deutsches
Märchen nach E. T. A. Hoffmann
Mit
mörderischen Augenblitzen nahm der Kampf seinen Verlauf; jeder wehrte
sich heftig, indem er seine Waffe bald verlängerte, bald verkürzte,
durch Aus- und Einschieben. Die Kämpfenden hatten sich oft schwer
getroffen, so daß sie auf ganz tolle Weise vor Schmerzen hüpften und
dazu mit Heulen und Schreien eine Musik machten, die dem Wehgeheul der
Verdammten in der Hölle zu gleichen schien. - Bei einem solchen Kampfe
sah Aline eines Tages in der gaffenden Zuschauermenge einen jungen Mann
mit wehendem Lockenhaar, der sich bis an die Stufen der Bude
herandrängte. Das Mädchen traute seinen Augen nicht - es war kein
Zweifel - so mußte Zeherit, ihr Distelprinz, als Mensch aussehen. Und
er war es wirklich! Aus übergroßer Sehnsucht zu ihr, der schönen
Alinore, war er selbst Fleisch und Blut geworden, um in der dunklen
Atmosphäre der Menschenwelt sie auch für die Zukunft beschützen zu
können. "Zeherit!" rief das Mädchen in freudiger Überraschung von
seinem hohen Podium herab. Doch der Jüngling legte den Finger auf
seinen Mund und reichte ihr mit fiebernder Hast ein zusammengefaltetes
Stückchen Papier, auf dem einige Worte gekritzelt standen. Mit
"Pepusch" waren diese Zeilen unterzeichnet. Aline las mit fliegendem
Herzen. - "Oh, Herr Pepusch...!" In diesem Augenblick rief die schwere
Glocke des Leuwenhoek sie und Meister Floh zur Vorstellung in das Zelt
hinein. Noch ganz verwirrt suchte die kleine Aline drinnen im
Halbdunkel des Theaters nach dem Meister. Dieser aber hockte weit von
ihr entfernt und grollte; er hatte ihren sehnsuchtsvollen und
verliebten Blick gesehen, den sie dem Herrn Pepusch zugeworfen. Meister
Floh hatte seinen Stolz. Er hatte sie gerettet - bedachte sie denn
nicht, daß seine Stiche auch fernerhin nötig waren, um ihr das Leben zu
erhalten? Aufs tiefste gekränkt, nahm er sich vor, das Mädchen zu
verlassen. Jetzt war draußen gerade ein großer Tumult; der Konkurrent
hatte wieder sein tönendes Sprachrohr auf Leuwenhoeks Zirkus gerichtet.
Swammer versuchte, die hereinströmenden Menschen zurückzuhalten.
Meister Floh erkannte die günstige Gelegenheit. Er schwang sich mit
einem entschlossenen Satz durch ein Loch, das sich in der Zeltwand
befand, hinaus ins Freie - Unversehens kam er in den bunten Krimskrams
der Nachbarbude, eines Spielwaren-Bazars. Hier vor der Auslage stand
unter vielen anderen der ehrenwerte Herr Peregrinus Tys und machte
seine Weihnachtseinkäufe. Dieser Herr Peregrinus war ein Junggeselle;
doch war er es wider Willen und zwar nur aus übergroßer Schüchternheit,
die er in Gegenwart der holden Weiblichkeit
nicht überwinden
konnte. Er
hatte eine Auswahl der allerschönsten Sachen getroffen, um in recht
großzügiger Weise den Kindern seines Nachbarn, des Buchbinders
Lämmerhirt, zu bescheren. Der Beweggrund seiner Freigebigkeit war, ohne
daß er es sich selber gestehen mochte, in der heimlichen Zuneigung zu
suchen, die er seit langem zu der
ältesten Tochter der kinderreichen
Familie gefaßt hatte; doch wagte er nicht, seinen Blick frei und offen
zu dem schönen und sanften Mädchen zu erheben. Peregrinus Tys, beide
Arme voll bepackt, wollte gerade nach dem letzten Stück seiner Auswahl
greifen - einer ovalen Schachtel mit einer wilden Schweinsjagd -, als
eine kleine Verwirrung entstand. Meister Floh kam gesprungen. Er hatte
bemerkt, daß Aline ihm
in banger Sorge um ihr Leben gefolgt war.
Schnell sprang er in eine der herumstehenden Schachteln, um sich zu
verstecken. Doch schon war Aline zur Stelle, ergriff die Schachtel, in
der sie den Meister verborgen wähnte, und lief mit ihr davon.
Peregrinus, der seine Hand schon ausgestreckt hielt, stutzte einen
Moment, dann aber faßte er zu - nach der vermeintlichen Schweinsjagd. -
Im Hause angekommen, nahm ihm seine Haushälterin die eingekauften
Gegenstände ab. Pauline war eine dicke alte Matrone mit einer
kupferroten Nase, - sie war übrigens das einzige weibliche Wesen, das
der menschenscheue Sonderling und Stubenhocker um sich duldete. Mag der
Himmel wissen, wie diese häßliche Person mit den triefenden Augen und
dem struppigen Haar zu dem berühmten Namen der Kaiserin von Golkonda
gekommen war. - Es mag gleich gesagt sein, daß an keinem
Weihnachtsabend dem Junggesellen, Herrn Peregrinus Tys, das Herz vor
banger Erwartung so heftig schlug, wie an diesem. Er hörte schon das
feine Silberglöcklein bei Lämmerhirtens und den lauten Jubel der
Kinderschar. Doch bevor er ging, sah er noch einmal die Geschenke
durch. Mißmutig stellte er fest, daß die wilde Schweinsjagd abhanden
gekommen war. Da gewahrte er eine noch ungeöffnete Schachtel, und als
er diese öffnete, war sie zu seinem Entsetzen leer; aber es war ihm,
als spränge etwas Lebendiges, das einem großen bunten Floh nicht
unähnlich war, ihm daraus entgegen, das mit dem Blick ganz zu erfassen
sein Auge zu stumpf war.
Hinter
seinem Halstuch fühlte er jetzt ein eigenartiges Kitzeln. Da nun einmal
Weihnachten war, wollte sich Herr Peregrinus keine weiteren Gedanken
machen und schickte sich daher an, mit all den herrlichen Gaben zu
seinem Nachbarn zu gehen. Plötzlich aber stand vor ihm eine sehr feine
und zierlich gebaute Person, gekleidet und geputzt, als käme sie eben
von einem Ball, angetan mit einem Zindelkleid und einem Diadem im
schwarzen Haar. Der beängstigte Junggeselle wollte sich schnell davon
machen; die Erscheinung aber faßte ihn an beiden Händen und lispelte
mit lieblicher Stimme: "Oh, Peregrin, teurer Peregrin, ich bringe Euch
die hölzerne Schachtel, welche die vermißte Schweinsjagd enthält." Es
war Alinore, die ihren Irrtum entdeckt hatte. Diese Begebenheit und der
Anblick des schönen Mädchens war für die dicke Haushälterin Pauline,
die noch im Zimmer stand, zu viel, sie duldete keine zweite neben sich;
sie verweigerte den Dienst, kündigte und stürzte aus dem Zimmer. Als
Alinore mit Herrn Peregrinus Tys allein war, warf sie sich ihm vor die
Füße: "Teurer Freund, gebt mir den Gefangenen zurück, bedenkt, daß mein
ganzes Schicksal von seinem Besitz abhängt!" Peregrinus wußte nicht,
daß sie mit dem Gefangenen das ungewisse Etwas meinte, das der leeren
Schachtel entsprungen war. Er glaubte, es ginge ihm ein Mühlrad im
Kopfe herum. In seinen Ohren lag ein Schluchzen und Weinen. Als
er aus seinem Taumel erwachte, sah er die schöne Alinore, die
totenbleich und regungslos vor ihm lag - "Seid auf Eurer Hut, edler
Mann, seid auf Eurer Hut!" So lispelte
es dicht vor Peregrinus' Nase.
Ein kaum spannlanges Ungeheuer saß auf seiner seidenen Kravatte. In dem
Vogelkopf staken ein Paar runde, glänzende Augen und aus dem
Sperlingsschnabel starrte ein langes spitzes Ding hervor, darüber aber
streckten sich zwei Hörner aus der Stirne. An den Füßen trug das
kuriose Wesen goldene Stiefel mit diamantenen Sporen. - "Zwar kennt ihr
mich nicht, edler Herr Peregrinus; doch laßt mich gewähren! Ich bin der
Meister Floh. Gestattet, daß ich Euch in die linke Pupille ein feines
Mikroskop einsetze, das ein geschickter
Optiker aus meinem Volke
verfertigte. Ihr werdet gleich sehen, welche Übermacht das Mikroskop
Euch über die Menschen gibt, in dem Euch ihre innersten Gedanken offen
vor Augen liegen. Tragt es aber nicht immer, es würde Euch sonst die
stete Erkenntnis der Gedanken Eurer Mitmenschen zu Boden drücken!" Fast
hätte Peregrinus Tys das schöne Mädchen vergessen, das leblos zu seinen
Füßen lag; so sehr war er im Banne dieses zauberhaften Insektes. - "Weh
mir, ich sterbe!" stammelte jetzt Alinore mit schneeweißen Lippen. -
"Gib - den - Gefangenen! - ich sterbe!" Augenblicklich ließ sich ein
durchdringender, doch harmonischer Laut hören, als würden kleine
goldene Glöckchen angeschlagen. Alinore, plötzlich frischen
Rosenschimmer auf Lippen und Wangen, sprang auf und hüpfte lachend im
Zimmer umher. Der mitleidige Meister Floh hatte ihr einen Stich
versetzt. Herr Peregrinus Tys stand starr vor Staunen; jedoch die
Ereignisse der Stunde hatten ihr Ende noch nicht gefunden. Die
Tür sprang auf - Leuwenhoek und Swammer stürzten herein; die beiden
Schurken hatten sich wieder vereinigt und wollten mit gemeinsamer Kraft
die beiden Entflohenen zurückholen.
Peregrinus Tys erkannte sofort
mittels der Kraft des Mikroskopes die schwarzen Gedanken dieser
Bösewichter. Noch eine dritte Person erschien - Herr Pepusch war zur
Stelle, um Alinore zu beschützen. Jetzt wurden dem Junggesellen
Peregrinus durch das Wunderwerk des Meister Floh, das er im Auge trug,
die Zusammenhänge dieser geheimnisvollen Geschehnisse immer klarer. Zum
Erstaunen aller Anwesenden drang jetzt ein milchiger Lichtstreif durchs
Fenster, der sich spiralförmig um den Kronleuchter drehte. Der Schöne
Geist aus dem Märchenlande Famagusta war noch in letzter Minute
angelangt, um den beiden Magiern seine früheren Errungenschaften, die
diese ihm gestohlen hatten, streitig zu machen. Als er sichtbare
Gestalt angenommen hatte, stürzten sich die beiden Zauberer Swammer und
Leuwenhoek mit einem wahren Wutgeheul auf den Geist, ergriffen zwei
Stühle und droschen so lange auf ihn los, bis sich die milchige
Substanz seines Körpers nach allen Ecken hin auflöste. - Nun erst war
der Zauberbann, der auf der schönen Alinore und Herrn Pepusch lastete,
gebrochen; auch die beiden Magier hatten keine Gewalt mehr über sie.
Alinore fiel Herrn Pepusch an die Brust; beide waren glücklich, jetzt
hatten sie Lebenskraft für ein ganzes Menschendasein. Wie zwei
geprügelte Hunde zogen Swammer und Leuwenhoek davon. - Die Luft war
rein. Meister Floh rührte sich: er flüsterte dem Junggesellen
Peregrinus Tys, der allein zurückgeblieben war, ins Ohr: "Jetzt kommt
die große Entscheidung für Euch, Herr Peregrinus. Nehmt Eure Geschenke!
Wir wollen zu Eurem Nachbarn hinüber. Ich will Euch verraten, daß das
schöne Röschen Lämmerhirt auch Euch ihrerseits schon lange erwartet.
Seid nicht so
schüchtern, Herr Peregrinus, gebt dem erwartungsvollen
Kind die Hand und sagt ihm, daß Ihr bereit seid!" -
Ein
Jahr glücklicher Ehe war verflossen. Man kannte den einstigen
Junggesellen Peregrinus nicht wieder; er war ein brauchbarer Ehemann
geworden. Er saß an der Wiege und schaukelte seinen Erstgeborenen. -
"Ich hätte Dich niemals kennengelernt, mein Sohn, wenn Meister Floh
nicht gewesen wäre." Der
wackere Papa erzählte seinem schlafenden Söhnchen die ganze Flohiade
von Anfang bis zu Ende. - Peregrinus horchte plötzlich auf. Draußen in
der Küche gab es Geschrei. Meister Floh hatte seiner alten
Haushälterin, der dicken Pauline, weil
sie aus Unachtsamkeit die Milch
für den Kleinen hatte überkochen lassen, heftig in die kupferrote Nase
gestochen. Auch Röschen, die schöne junge Frau, kam jetzt zu dem
freudigen Vater an die Wiege, und beide lachten über diesen Scherz
vergnüglich. Aber auch schon hörten sie die silberfeine Stimme des
Meister Floh: "Herr und Frau Peregrinus Tys, ergebenster Diener! Habe
die Ehre, zu verkünden, daß meine Mission erfüllt ist! Schließlich, man
bedenke, daß ich ein Floh bin. Entschuldigt! Man erwartet mich wo
anders. Sollten Seiner Gnaden, der junge Herr Tys, einmal nicht recht
gedeihen wollen, so werde ich sofort wieder zur Stelle sein und mit
einigen Stichen nachhelfen!" Nach
dieser Versicherung machte das
menschenfreundliche Insekt einige riesige Sprünge: "Auf Wiedersehen!
Ich springe zurück zu meinen Springinsfelden, zu dem Volk der Flöhe,
dessen Meister ich bin!"
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