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04.3
Märchen
Hans-Christian Anderson
Die Galoschen des Glücks
II.
Wie es dem Gerichtsrat erging
Es
war spät geworden; der
Gerichtsrat Knapp, in die Zeit des Königs Hans vertieft, wollte
heimkehren, und
das Schicksal lenkte es so, dass er anstatt seiner Galoschen die des
Glücks
bekam und nun auf die Oststraße hinaustrat; aber er war durch die
Zauberkraft
der Galoschen in die Zeit des Königs Hans zurückversetzt, und deshalb
setzte er
den Fuß geradezu in Kot und Morast auf die Straße, weil es zu jener
Zeit noch
kein Steinpflaster gab.
Es
ist ja greulich, wie schmutzig es hier ist!" sagte der Gerichtsrat.
"Der ganze Bürgersteig ist fort und alle Laternen sind ausgelöscht.
Der
Mond watr noch nicht
hoch genug heraufgekommen und die Luft überdies ziemlich dich, sodass
alle
Gegenstände ringsumher bei dieser Dunkelheit ineinander verschwammen.
An der
nächsten Ecke hing jedoch eine Laterne vor einem Marienbilde, aber die
Beleuchtung war so gut wie keine, er bemerkte sie erst, als er gerade
darunter
stand, und seine Augen fielen auf das gemalte Bild mit der Mutter und
dem
Kinde.
"Das
ist wohl," dachte er, "eine Kunstsammlung, wo man vergessen
hat, das Schild abzunehmen."
Ein
paar Menschen, in der Tracht des Zeitalters, gingen an ihm vorbei.
"Wie
sahen sie doch aus! Sie kamen wohl aus einer Maskerade!"
Plötzlich
ertönten Trommeln
und Pfeifen, Fackeln leuchteten hell. Der Gerichtsrat stutzte und sah
nun einen
sonderbaren Zug vorbeiziehen. Zuerst kam ein ganzer Trupp
Trommelschläger, die
ihre Trommeln recht tüchtig bearbeiteten, ihnen folgten Trabanten mit
Bogen und
Armbrüsten. Der Vornehmste im Zuge war ein geistlichter Herr. Erstaunt
fragte
der Gerichtsrat, was das zu bedeuten habe und wer der Mann sei.
"Das
ist der Bischof von Seeland!"
"Was
fällt dem Bischof
ein?" zeufzte der Gerichtsrat und schüttelte mit dem Haupte; der
Bischof
konnte es nicht sein. Darüber grübelnd und ohne zur Rechten oder Linken
zu
sehen, ging der Gerichtsrat durch die Oststraße und über den
Hohenbrückenplatz.
Die Brücke, die nach dem Schlossplatze führt, war nicht zu finden, er
wurde ein
seichtes Ufer gewahr und stieß endlich hier auf zwei Leute, die in
einem Botte
waren.
"Will
der Herr nach dem Holm übergesetzt werden?" fragten sie.
"Nach
dem Holm hinüber?" sagte der Gerichtsrat, der ja nicht wusste,
in welchem Zeitalter er sich befand. "Ich will nach Christianshafen in
die
kleine Torfstraße."
Die
Leute betrachteten ihn.
"Sagt
mir nur, wo die Brücke ist!" sagte er. "Es ist schändlich,
dass hier keine Laternen angezündet sind, und dann ist es ein Schmutz,
als
ginge man in einem Sumpf!"
Je
länger er mit den Bootsmännern sprach, desto unverständlicher waren sie
ihm.
"Ich
versehe Euer Bornholmisch nicht!" sagte er zuletzt
ärgerlich und kehrte ihnen den Rücken. Die Brücke konnte er nicht
finden, ein Geländer
war aich nicht da. "Es ist eine Schande, wie es hier aussiehet!"
sagte er. Nie hatte er sein Zeitalter elender gefunden, als an diesem
Abend.
"Ich werde nach dem Königs-Neumarkt zurückgehen müssen, dort halten
wohl
Wagen, sonst komme ich nie nach Christianshafen hinaus.!"
Nun
ging er nach der Oststraße und war fast hindurch gekommen, als der Mond
hervorbrach.
"Mein
Gott, was ist das für ein Gerüst, was man hier errichtet hat!"
rief er aus, als er das Osttor erblickte, welches zu jener Zeit am Ende
der
Oststraße stand.
Inzwischen
fand er doch
einen Durchgang offen und durch diesen kam er nach unserm Neumarkt
hinaus, aber
das war ein großer Wiesengrund, einzelne Büsche ragten hervor und quer
durch
die Wiese ging ein breiter Strom. Einige erbärmliche Holzbuden für
holländische
Schiffer, nach denen der Ort den Namen Hollandsaue hatte, lagen auf dem
entgegengesetzten Ufer.
"Entweder
erblicke ich eine Lufterscheinung, oder ich bin betrunken!"
jammerte der Gerichtsrat. "Was ist das doch? Was ist das doch?"
Er
kehrte wieder um in der festen Überzeugung, dass er krank sei; indem er
in
die Straße zurückkam, betrachtete er die Häuser etwas genauer, die
meisten
waren nur von Fachwerk und viele hatten nur ein Strohdach.
"Nein,
mir ist gar nicht wohl," zeufzte er, "und ich trank doch
nur ein Glas Punsch, aber ich kann ihn nicht vertragen; und es war auch
ganz
und gar verkehrt, uns Punsch und warmen Lachs zu geben, das werde ich
der Frau
auch sagen. Ob ich wohl wieder zurückkehre und sage, wie mir zu Mute
ist? Aber
das sieht lächerlich aus und es ist die Frage, ob sie noch wach sind!"
Er
suchte nach dem Hause, aber es war gar nicht zu finden.
"Es
ist doch erschrecklich, ich kann die Oststraße nicht wieder erkennen,
nicht ein Laden ist da! Alte, elende, verfallene Häuser erblicke ich,
als ob
ich in die Roeskilde oder Ringstedt wäre! Ach, ich bin krank! Es nützt
nichts,
ängstlich zu sein! Aber wo in aller Welt ist des Stadtrats Haus? Es ist
nicht
mehr dasselbe, aber dort drinnen sind noch Leute auf; ach, ich bin
sicher
krank!"
Nun
stieß er auf eine halb
offene Tür, wo das Licht durch eine Spalte fiel. Es war eine Herberge
jener
Zeit, eine Art von Bierhaus. Die Stube hatte das Ansehen einer
holländischen
Diele; eine Anzahl Leute, bestehend aus Schiffern, Kopenhagener Bürgern
und ein
paar Gelehrte, saßen hier im eifrigen Gespräch bei ihren Krügen und
betrachteten den Eintretenden nur wenig.
"Um
Entschuldigung," sagte der Gerichtsrat zu der Wirtin, die ihm
entgegenkam, "ich bin sehr unwohl geworden, wollen sie mir nicht einen
Waen nach Christianshafen hinaus besorgen lassen?"
Die
Frau betrachtete ihn und schüttelte mit dem Kopfe; darauf redete sie
ihn in
deutscher Sprache an. Der Gerichtsrat nahm an, dass sie der dänischen
Zunge
nicht mächtig sei und brachte deshalb seinen Wunsch auf Deutsch an.
Dies im
Verein mit seiner Kleidung bestärkte die Frau darin, dass er ein
Ausländer sei;
dass er sich unwohl befinde, begriff sie bald, und brachte ihm deshalb
einen
Krug Wasser, freilich hatte es etwas vom Seewasser, wiewohl es draußen
aus dem
Brunnen geschöpft war.
Der
Gerichtsrat stützte sein Haupt in die Hand, holte tief Atem und gübelte
über alles Seltsame rings um sich her nach.
"Ist
das <Der Tag>* von heute Abend?" fragte er ganz
mechanisch, indem er sah, wie die Frau ein großes Stück Papier
fortlegte.
Sie
verstand nicht, was er damit meinte, reichte ihm aber das Blatt, es war
ein
Holzschnitt, welcher eine Lufterscheinung zeigte, die in der
Stadt Köln
gesehen worden war.
"Das
ist sehr alt!" sagte der Gerichtsrat und wurde durch dieses
vergilbte Blatt ganz aufgeräumt. "Wie sind Sie doch zu diesem seltenen
Blatt gelangt? Das ist höchst merkwürdig, obgleich das Ganze eine Fabel
ist!
Man erklärt dergleichen Lufterscheinungen dadurch, dass es Nordlichtrer
sind,
die man erblickt hat; wahrscheinlich entstehen sie durch die
Elektrizität!"
Die,
welche ihm zunächst
saßen und seine Rede hörten, sahen ihn erstauent an und einer von
ihnen
erhob sich, nahm ehrerbietig den Hut ab und sagte mit der
ernsthaftesten Miene:
"Ihr seid sicher ein höchst geehrter Mann."
"O,
nein!" erwiderte der Gerichtrat, "Ich kann nur von einem und
dem andern mitsprechen, was man ja verstehen muss!"
"Bescheidenheit
ist eine schöne Tugend!" sagte der Mann.
"Übrigens muss ich zu Eurer Rede sagen: ich habe eine andere Ansicht,
doch
will ich hier gern mein Urteil zurückhalten!"
"Darf
ich wohl fragen, mit wem ich das Vergnügen habe, zu sprechen?"
fragte der Gerichtsrat.
"Ich
bin Magister der heiligen Schrift!" erwiderte der Mann.
Diese
Antwort war dem Gerichtsrat genügend, der Titel entsprach hier der
Tracht.
"Das
ist sicher,"
dachte er, "ein alter Dorfschulmeister, ein naturwüchsiger Mann, wie
man
sie zuweilen oben in Jütland treffen kann."
"Hier
ist zwar eigentlich nicht der Platz zu gelehrten Gesprächen,"
begann der Mann, "doch bitte ich, dass Ihr Euch herablasset, zu
sprechen!
Ihr seid sicher in den Alten sehr belesen!"
"O,
ja wohl!" antwortete der Rat, "ich lese gern alte, nützliche
Schriften, habe aber auch die neueren recht gern, mit Ausnahme der
<Alltagsgeschichten>, deren wir in Wirklichkeit genug haben!"
"Alltagsgeschichten?",
fragte der Magister.
"Ja,
ich meine diese neuen Romane, die man jetzt hat."
"O,"
lächelte der Mann, "sie enthalten doch vielen Witz und
werden bei Hofe gelesen, der König liebt besonders den Roman von Herrn
Ivent
und Herrn Gaudian, welcher von König Artus und seinen Helden der
Tafelrunde
handelt, er hat mit seinen hohen Herren darüber gescherzt." **
"Ja,
den habe ich noch nicht gelesen!" sagte der Gerichtsrat, "das
muss ein ganz neuer sein, den Heibig herausgegeben hat!"
"Nein,"
erwiderte der Mann, "der ist nicht bei Heiberg, sondern
bei Godfred von Gehmen herausgekommen!"
"So
ist das der Verfasser" sagte der Gerichtsrat. "Das ist ein
sehr alter Name, so hieß ja wohl der erste Buchdrucker, der in Dänemark
gewesen
ist?"
"Ja,
das ist unser erster Buchdrucker," sagte der Mann.
So
weit ging es ganz gut; nun sprach einer der guten Bürgersleute von der
schweren Pestilenz, die vor ein paar Jahren regiert hatte, und meinte
die im
Jahre 1484; der Gerichtsrat nahm an, dass es die Cholera sei, von der
die rede
war, und so ging die Unterhaltung ganz gut. Der Freibeutekrieg von 1490
lag so
nahe, dass er berührt werden musste; die englischen Freibeuter hatten
Schiffe
auf der Rhede genommen, sagten sie; und der Gerichtsrat, der sich in
die
Begebenheiten von 1801 recht hineingelebt hatte, stimmte vortrefflich
gegen die
Engländer mit ein. Das übrige Gespräch dagegen ging nicht so gut, jeden
Augenblick wurde es gegenseitig zum Leichenbitterstyl; der Magister war
nicht
zu unwissend, und die einfachsten Äußerungen des Gerichtsrats klangen
ihm
wieder zu dreist und zu überspannt. Sie betrachteten einander, und
wurde es gar
zu arg, dann sprach der Magister lateinisch, in der Hoffnung besser
verstanden
zu werden, aber es half doch nichts.
"Wie
ist es mit Ihnen?" fragte die Wirtin, und zog den Rat beim
Ärmel; nun kam seine Besinnung zurück, im Laufe der Unterhaltung hatte
er alles
rein vergessen, was vorangegangen war.
"Mein
Gott, wo bin ich?" fragte er, und es schnwindelte ihm, wie er
daran dachte.
"Klaret
wollen wir trinken! Met und Bremer Bier," rief einer der
Gäste, "und Ihr sollt mittrinken!"
Zwei
Mädchen kamen herein und schnekten ein.
Er
musste mit den andern trinken, sie bemächtigten sich ganz artig des
guten
Mannes, er war höchst verzweifelt, und als der eine sagte, dass er
betrunken
sei, so zweifelte er durchaus nicht an des Mannes Wort, bat sie nur,
ihm einen
Wagen zu verschaffen, und dann glaubten sie, er spreche moskowitisch.
Nie
war er in so roher Gesellschaft gewesen. "Man könnte glauben, das Land
sei zum Heidentume zurückgekehrt," meinte er, "das isst der
schrecklichste Augenblick in meinem Leben!" Doch plötzlich kam ihm der
_Gedanke, sich unter den Tisch hinab zu bücken und dann nach der Tür zu
kriechen. Das tat er, aber indem er beim Ausgange war, bemerkten die
andern,
was er vorhatte. Sie ergriffen ihn bei den Füßen, und nun gingen die
Galoschen
zu seinem Glücke ab, und - mit diesen die Bezauberung.
Der
Gerichtsrat sah ganz deutlich vor sich eine Laterne brennen, und hinter
dieser ein großes Gebäude, alles sah bekannt und prächtig aus, das war
die
Oststraße, wie wir sie kennen, er lag mit den Beinen gegen eine Pforte
hin, und
gerade gegenüber saß der Wächter und schlief.
"Du
mein Schöpfer, habe ich hier auf der Straße gelegen und
geträumt!" sagte er. "Ja, das ist die Oststraße! Wie prächtig halle
und bunt! Es ist doch erschrecklich, wie das Glas Punsch auf mich
gewirkt haben
muss."
Zwei
Minuten später saß er in einem Wagen, der mit ihm nach Christianshafen
fuhr, er gedachte der Angst und Not, die er ausgestanden, und pries von
Herzen
die glückliche Wirklichkeit, unsere Zeit, die mit allen ihren Mängeln
doch weit
besser sei, als die in der er vor kurzem war.
______________
Fußnoten
*Eine Abendzeitung in Kopenhagen.
** Holberg erzählt in seiner Geschichte des dänischen Reiches, dass
König Hans
eines Tages, als er in dem Roman von König Artus gelesen hatte, mit dem
bekannten Otto Rud, auf den er sehr viel hielt, scherzte: "Herr Ivent
und
Herr Gaudian, die ich in diesem Buche finde, sind tüchtige Ritter
gewesen,
solche Ritter findet man in jetziger Zeit nicht merh!" worauf Otto Rud
erwiderte: "Wenn es noch solche Käpen, wie König Artus gäbe, würde man
auch noch viele Ritter wie Herrn Ivent und Herrn Gaidian
finden.
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