III.
Des
Wächters Abenteuer
»Da
liegen ja wahrlich ein
paar Galoschen!« sagte der Wächter. »Die gehören sicher dem Leutnant,
der dort oben
wohnt. Sie liegen gerade bei der Tür!«
Gern
hätte der ehrliche Mann geklingelt und sie abgeliefert, denn da war
noch
Licht, aber er wollte nicht die übrigen Leute im Hause wecken und
deshalb
unterließ er es.
»Das
muss recht warm sein, ein Paar solcher Dinger am Fuße zu haben!« sagte
er.
»Sie sind weich im Leder. Sie passten gut an meine Füße. Wie ist es
doch
drollig in der Welt! Nun könnte der Leutnant sich in sein warmes Bett
legen,
doch sieh, ob er es tut! Da geht er im Zimmer auf und nieder; das ist
ein
glücklicher Mensch! Er hat weder eine Frau noch Kinder, jeden Abend ist
er in
Gesellschaft; wäre ich doch er, ja dann wäre ich ein glücklicher Mann!«
Indem
er den Wunsch aussprach, wirkten die Galoschen, die er angezogen hatte,
der Wächter ging in des Leutnants Sein und Wesen über. Da stand er oben
im
Zimmer und hielt ein kleines rosenrotes Papier zwischen den Fingern,
worauf ein
Gedicht stand, ein Gedicht des Herrn Leutnants selbst. Denn wer hat in
seinem
Leben nicht einmal einen dichterischen Augenblick gehabt, und schreibt
man dann
den Gedanken nieder, so hat man ein Gedicht. Hier stand geschrieben:
»O, wär' ich reich!«
»O wär' ich reich!«
so wünscht' ich mir schon oft,
Als ich, kaum ellengroß, auf viel gehofft.
O, wär' ich reich! so würd' ich Offizier,
Mit Säbel, Uniform und Bandelier.
Die Zeit kam auch, und ich ward Offizier;
Doch nun und nimmer ward ich reich, ich Armer;
Hilf mir, Erbarmer!
Einst saß ich abends,
lebensfroh und jung,
Ein kleines Mädchen küsste meinen Mund,
Denn ich war reich an Märchenpoesie,
An Gold dagegen, ach, so arm, wie nie –;
Das Kind nur wollte diese Poesie;
Da war ich reich, doch nicht an Geld, ich Armer;
Du weisst's, Erbarmer.
»O wär' ich reich!«
so tönt zu Gott mein Fleh'n,
Das Kind hab' ich zur Jungfrau reifen seh'n,
Sie ist so klug, so hübsch, so seelengut;
O, wüsste sie, was mir im Herzen ruht,
Das große Märchen, – – wäre sie mir gut!
Doch bin zum Schweigen ich verdammt, ich Armer;
Du willst's, Erbarmer!
O, wär' ich reich an
Trost und Ruhe hier,
Mein Leiden käme dann nicht auf's Papier.
Verstehst Du mich, Du, der ich mich geweiht,
So lies dies Blatt aus meiner Jugendzeit,
Ein dunkles Märchen, dunkler Nacht geweiht.
Nur finst're Zukunft seh' ich, ach, ich Armer!
Dich segne der Erbarmer!
Ja,
solche Gedichte schreibt
man, wenn man verliebt ist, aber ein besonnener Mann lässt sie nicht
drucken.
Leutnant, Liebe und Mangel, das ist ein Dreieck, oder, ebenso gut, die
Hälfte
des zerbrochenen Würfels des Glückes. Das fühlte der Leutnant
recht
lebendig und deshalb legte er das Haupt gegen den Fensterrahmen und
seufzte
tief.
»Der
arme Wächter draußen auf der Straße ist weit glücklicher als ich, er
kennt
nicht, was ich Mangel nenne; er hat eine Heimat, Frau und Kinder, die
bei
seiner Trauer weinen, sich bei seiner Lust freuen! O, ich wäre
glücklicher, als
ich bin, könnte ich in sein Wesen und Sein übergehen, mit seinen
Forderungen
und Hoffnungen durch dieses Leben wandeln! Ja, er ist glücklicher als
ich!«
Im
selben Augenblicke war der Wächter wieder Wächter, denn durch die
Galoschen
des Glückes war er in das Wesen und Sein des Leutnants übergegangen,
aber da,
wie wir sehen, fühlte er sich noch weniger zufrieden und zog gerade das
vor,
was er vor kurzem verworfen hatte. Also war der Wächter wieder Wächter.
»Das
war ein hässlicher Traum!« sagte er, »aber drollig genug. Es war mir,
als
ob ich der Leutnant dort oben sei, und das war durchaus kein Vergnügen.
Ich
entbehrte die Frau und die Kinder, die mich halb tot küssen!«
Er
saß wieder und nickte,
der Traum wollte ihm nicht recht aus den Gedanken, die Galoschen hatte
er noch
an den Füßen. Eine Sternschnuppe glitt über den Horizont.
»Da
ging die!« sagte er, »doch was tut's, es sind ihrer noch genug. Ich
hätte
wohl Lust, die Dinger etwas näher zu betrachten, besonders den Mond,
denn der
kommt einem doch nicht unter den Händen fort. Wenn wir sterben, sagte
der
Student, für den meine Frau wäscht, fliegen wir von dem einen zum
andern. Das
ist eine Lüge, könnte aber recht hübsch sein. Könnte ich doch einen
kleinen
Sprung da hinauf machen, dann möchte der Körper gern hier auf der
Treppe liegen
bleiben!«
Sieh,
es gibt nun gewisse Dinge in der Welt, die man auszusprechen sehr
vorsichtig sein muss, aber doppelt vorsichtig muss man sein, wenn man
die
Galoschen des Glückes an den Füßen hat. Höre nur, wie es dem Wächter
erging.
Wir
kennen alle die
Schnelligkeit der Dampfbeförderung, wir haben sie entweder mit
Eisenbahnen oder
mit Schiffen über das Meer hin erprobt; doch dieser Flug ist wie die
Wanderung
des Faultieres oder der Marsch der Schnecke im Verhältnis zu der
Schnelligkeit,
die das Licht hat; es fliegt neunzehn Millionen Mal schneller, als der
beste
Wettrenner, und doch ist die Elektrizität noch schneller. Der Tod ist
ein
elektrischer Stoß, den wir in das Herz erhalten; auf den Flügeln der
Elektrizität fliegt die befreite Seele. Acht Minuten und wenige
Sekunden
gebraucht das Sonnenlicht zu einer Reise von über zwanzig Millionen
Meilen; mit
der Schnellpost der Elektrizität bedarf die Seele nur weniger Minuten,
um
denselben Flug zu vollbringen. Der Raum zwischen den Weltkörpern ist
für sie
nicht größer, als es für uns in einer und derselben Stadt Entfernungen
zwischen
den Häusern unserer Freunde sind, selbst wenn diese ziemlich nahe bei
einander
liegen. Inzwischen kostet dieser elektrische Herzensstoß uns den
Gebrauch des
Körpers hienieden, im Fall wir nicht, gerade wie der Wächter, die
Galoschen des
Glückes haben.
In
wenigen Sekunden hatte
der Wächter die 52000 Meilen bis zum Monde zurückgelegt, welcher, wie
man weiß,
von einem weit leichteren Stoff als unsere Erde geschaffen und weich
wie frisch
gefallener Schnee ist, wie wir sagen würden. Er befand sich auf einem
der
unzählig vielen Ringberge, die wir aus Mädler's großer Karte über den
Mond
kennen. Innerhalb ging es in einen Kessel, ungefähr eine halbe Meile
senkrecht
hinab; dort unten lag eine Stadt, von deren Aussehen wir allein einen
Begriff
bekommen können, wenn wir Eiweiß in ein Glas Wasser ausschlagen; das
Material
hier war ebenso weich und bildete ähnliche Türme mit Kuppeln und
segelförmigen
Altanen, durchsichtig und in der dünnen Luft schwebend. Unsere Erde
schwebte
wie eine dunkelrote Kugel über seinem Haupte.
Er
wurde sogleich eine
Menge Geschöpfe gewahr, die sicherlich das waren, was wir »Menschen«
nennen,
aber sie sahen ganz anders aus, als wir; die reichste
Einbildungskraft
hatte sie geschaffen; würden sie in Reihe und Glied aufgestellt und so
abgemalt, so würde man sagen: das ist eine hübsche Arabeske! Sie hatten
auch
eine Sprache, aber es kann niemand verlangen, dass die Seele des
Wächters sie
verstehen sollte; dessen ungeachtet konnte sie es, denn unsere Seele
hat weit
größere Fähigkeiten, als wir glauben. Zeigt sie uns nicht in unseren
Träumen
ihre erstaunliche schöpferische Kraft? Ein jeder Bekannter tritt da
sprechend
auf, so völlig in Gewohnheiten und Worten ähnlich, dass niemand von uns
wachend
es nachahmen kann. Wie weiß sie uns Personen zurückzurufen, an die wir
in
vielen Jahren nicht gedacht haben! Plötzlich treten sie in unseren
Träumen
lebendig bis auf die feinsten Züge hervor. Im Grunde sieht es mit
unserem
Seelengedächtnis ängstlich aus; jeden bösen Gedanken wird sie ja
wiederholen
können, dann wird es darauf ankommen, ob wir Rechenschaft von jedem
ungebührlichen Worte im Herzen und auf der Lippe werden geben können.
Die
Seele des Wächters
verstand auf diese Weise die Sprache der Mondbewohner sehr gut. Sie
unterhielten sich über unsere Erde und bezweifelten, dass sie bewohnt
sein
könne. Die Luft müsste dort zu dick sein, als dass ein vernünftiges
Mondgeschöpf dort leben könnte. Sie hielten den Mond allein für
bewohnt, er war
der eigentliche Weltkörper, wo die alten Weltbewohner lebten.
Sie
sprachen auch von unserer jetzigen Zeit; doch wir begeben uns nach der
Oststraße zurück, und sehen da, wie es dem Körper des Wächters ergeht.
Leblos
saß derselbe auf der Treppe, der Stock war ihm aus der Hand gefallen,
und die Augen blickten zum Monde empor, auf dem die ehrliche Seele
herumwandelte.
»Was
ist die Uhr, Wächter?« fragte ein Vorübergehender. Wer aber nicht
antwortete,
das war der Wächter; dann gab ihm der Mann ganz sacht einen
Nasenstüber, und
nun verlor er das Gleichgewicht; da lag der Körper, so lang er war,
der Mensch war tot. Alle seine Kameraden erschraken sehr, tot war
und
blieb er, er wurde gemeldet und es wurde besprochen, und in der
Morgenstunde
trug man den Körper nach dem Hospital hinaus.
Das
konnte nun einen ganz
hübschen Spaß für die Seele abgeben, im Fall sie zurückkehrte und aller
Wahrscheinlichkeit nach den Körper auf der Oststraße suchen, aber
keinen finden
würde; wahrscheinlich würde sie dann auf die Polizei laufen, dass von
dort aus
Nachfrage unter den fortgekommenen Sachen darüber angestellt werden
könnte, und
dann nach dem Hospital hinaus wandern; doch wir können uns damit
trösten, dass
die Seele am klügsten ist, wenn sie für sich handelt, nur der Körper
macht sie
dumm.
Wie
gesagt, des Wächters Körper kam nach dem Hospital, wurde dort in die
Reinigungsstube gebracht, und das erste, was man hier tat, war
natürlicherweise, dass man die Galoschen abnahm, und da musste die
Seele
zurück; sie nahm sogleich die Richtung gerade nach dem Körper, und ein
paar
Sekunden darauf war wieder Leben in dem Manne. Er versicherte, dass es
die
schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen sei; nicht für einen Taler
wollte er
solche Empfindungen wieder haben, aber nun war es ja überstanden.
An
demselben Tage wurde er wieder entlassen, aber die Galoschen blieben in
dem
Hospital.