IV. Ein Hauptmoment
Ein
jeder Kopenhagener weiß, wie der Eingang zum
Friedrichshospital in Kopenhagen aussieht; da aber wahrscheinlich auch
einige
Nichtkopenhagener diese kleine Schrift lesen, müssen wir eine kurze
Beschreibung davon geben.
Das
Hospital ist von der Straße durch ein ziemlich
hohes Gitter geschieden, in welchem die dicken Eisenstäbe so weit
voneinander
abstehen, dass, wie man sich erzählt, sich sehr dünne Leute
hindurchgeklemmt
und so ihre kleinen Besuche außerhalb abgestattet haben. Der Teil des
Körpers,
der am schwierigsten hinauszubringen war, war der Kopf; hier, wie oft
in der
Welt, waren also die kleinen Köpfe die glücklichsten. Dieses wird als
Einleitung genug sein.
Einer
der jungen Leute, von dem man nur in
körperlicher Hinsicht sagen konnte, dass er einen großen, dicken Kopf
habe,
hatte gerade die Wache an diesem Abend. Der Regen strömte herab, doch
ungeachtet dieser beiden Hindernisse musste er hinaus, nur eine
Viertelstunde;
das war ja nichts, was er dem Pförtner zu vertrauen brauche, meinte er,
wenn man
durch die Eisenstangen schlüpfen könne. Da lagen die Galoschen, die der
Wächter
vergessen hatte; es fiel ihm nicht im Mindesten ein, dass es die des
Glückes
seien, sie konnten in diesem Wetter recht gute Dienste leisten, daher
zog er
sie an. Nun kam es darauf an, ob er sich würde durchklemmen können, er
hatte es
früher nie versucht. Da stand er nun.
»Gott
gebe, dass ich den Kopf hinaus bekomme!« sagte er, und sofort, obgleich
derselbe sehr dick und groß war, glitt er leicht und glücklich
hindurch, das mussten
die Galoschen verstehen, aber nun sollte der Körper mit hinaus; hier
stand er.
»Ach,
ich bin zu dick!« sagte er. »Der Kopf, dachte ich, sei das Schlimmste;
ich komme nicht hindurch.«
Nun
wollte er rasch den Kopf zurückziehen, aber das
ging nicht. Den Hals konnte er bequem bewegen, aber das war auch alles.
Das
erste Gefühl war, dass er ärgerlich wurde, das Zweite, dass seine Laune
unter
Null fiel. Die Galoschen des Glückes hatten ihn in diese schreckliche
Lage
gebracht, und unglücklicherweise fiel es ihm nicht ein, sich frei zu
wünschen,
nein, er handelte, und kam nicht von der Stelle. Der Regen strömte
herab, nicht
ein Mensch war auf der Straße zu erblicken. Die Pfortenklingel
konnte er
nicht erreichen, wie sollte er nun loskommen! Er sah voraus, dass er
hier bis
zur Morgenstunde stehen könne, dann musste man nach einem Schmied
senden, damit
die Eisenstäbe zerfeilt werden könnten, aber das geht nicht so
geschwind, die
ganze Knabenschule gerade gegenüber würde auf die Beine kommen, um ihn
am
Pranger zu sehen, es würde einen ungeheuren Zulauf abgeben. »Hu, das
Blut
steigt mir zu Kopfe, sodass ich wahnsinnig werden muss! – Ja, ich werde
verrückt! O, wäre ich doch wieder los, dann ginge es wohl vorüber.«
Sieh,
das hätte er etwas früher sagen sollen, augenblicklich,
sowie der Gedanke ausgesprochen war, hatte er den Kopf los und stürzte
nun
hinein, ganz verwirrt über den Schreck, den ihm die Galoschen des
Glückes
eingejagt hatten.
Hiermit
dürfen wir nicht glauben, dass das Ganze vorbei war, nein – es wird
noch ärger.
Die
Nacht verstrich und der folgende Tag mit, es wurde nicht nach den
Galoschen
geschickt.
Am
Abend sollte eine Vorstellung auf einem
Liebhaber-Theater gegeben werden. Das Haus war gepfropft voll; unter
den
Zuschauern befand sich der junge Mann aus dem Hospital, der sein
Abenteuer der
vergangenen Nacht vergessen zu haben schien; die Galoschen hatte er
angezogen,
denn sie waren nicht abgeholt worden, und da es auf der Straße
schmutzig war,
konnten sie ihm ja gute Dienste leisten. Ein neues Gedicht, »Die Brille
der
Muhme«, wurde vorgetragen. Das war eine Brille, wenn man diese
aufgesetzt hatte
und vor einer großen Versammlung von Menschen saß, so sahen die
Menschen wie
Karten aus, und man konnte aus diesen alles, was im kommenden Jahre
geschehen
werde, prophezeihen.
Der
Gedanke beschäftigte ihn, er hätte wohl eine solche Brille haben mögen;
wenn man sie richtig gebrauchte, könnte man vielleicht den Leuten
gerade in die
Herzen hineinschauen, das wäre eigentlich noch hübscher, meinte er, als
zu
sehen, was im nächsten Jahre geschehen werde, denn das bekomme man doch
zu
wissen, das andere dagegen nie. »Ich denke mir nun die ganze Reihe von
Herren
und Damen auf der ersten Bank, – könnte man ihnen gerade in das Herz
sehen, ja,
da müsste eine Öffnung, eine Art von Laden sein; wie sollten meine
Augen im
Laden herumschweifen! Bei jener Dame dort würde ich sicher einen großen
Modehandel finden, bei dieser da ist der Laden leer, doch würde es ihm
nicht
schaden, gereinigt zu werden. Würden da auch gute Läden sein? Ach ja,«
seufzte
er, »ich kenne einen, in dem ist alles gut, aber da ist schon ein
Diener darin,
das ist das einzige Übel im ganzen Laden! Aus dem einen und dem andern
würde es
schallen: Treten Sie gefälligst näher! Ja, könnte ich nur wie ein
kleiner, niedlicher
Gedanke hineinschlüpfen!«
Sieh,
das war das Stichwort für die Galoschen, der
junge Mann schrumpfte zusammen, und eine höchst ungewöhnliche Reise
begann
mitten durch die Herzen der vordersten Reihe der Zuschauer. Das erste
Herz,
durch welches er kam, war das einer Dame; doch glaubte er
augenblicklich in
einer Heilanstalt, in dem Zimmer zu sein, wo die Gipsabgüsse der
verwachsenen
Glieder an den Wänden hängen; nur war hier der Unterschied der, dass
sie in der
Anstalt genommen werden, wenn der Kranke hineinkommt, aber hier im
Herzen waren
sie genommen, und aufbewahrt, indem die guten Personen hinausgegangen
waren. Es
waren Abgüsse von Freundinnen, deren körperliche und geistige Fehler
hier
aufbewahrt wurden.
Schnell
war er in einem andern Herzen, aber dieses erschien ihm wie eine große
Kirche. Die weiße Taube der Unschuld flatterte über dem Altar; wie gern
wäre er
auf die Knie niedergesunken! Aber fort musste er, in das nächste Herz
hinein,
doch hörte er noch die Orgeltöne, und er selbst kam sich vor, als wäre
er ein
neuer und besserer Mensch geworden, er fühlte sich nicht unwürdig, das
nächste
Heiligtum zu betreten, welches ihm eine ärmliche Dachkammer mit einer
kranken
Mutter zeigte. Durch das offene Fenster strahlte Gottes warme Sonne,
herrliche
Rosen nickten von dem kleinen Holzkasten auf dem Dache, und zwei
himmelblaue
Vögel sangen von kindlicher Freude, während die kranke Mutter um Segen
für die
Tochter flehte.
Nun
kroch er auf Händen und Füßen durch einen
überfüllten Fleischerladen, das war Fleisch und nur Fleisch, worauf er
stieß,
das war das Herz in einem reichen, geachteten Manne, dessen Name
allgemein
bekannt ist.
Nun
war er in dem Herzen der Gemahlin desselben, das war ein alter,
verfallener
Taubenschlag. Das Bild des Mannes wurde als Wetterfahne benutzt, diese
stand in
Verbindung mit den Türen, und so gingen diese auf und zu, so wie der
Mann sich
drehte.
Darauf
kam er in ein Spiegelzimmer, aber die Spiegel vergrößerten in einem
unglaublichen Grade. Mitten auf dem Fußboden saß wie ein Dalailama das
unbedeutende Ich der Person, erstaunt seine eigene Größe zu betrachten.
Hierauf
glaubte er sich in eine enge Nadelbüchse
voller spitzer Nadeln versetzt zu sehen, er musste denken: »Das ist
sicher das
Herz einer alten unverheirateten Jungfrau!« Aber das war nicht der
Fall, das
war ein ganz junger Krieger mit mehreren Orden, von dem man sagte: ein
Mann von
Geist und Herz.
Ganz
betäubt kam der arme Mann aus dem letzten Herzen in der Reihe, er
vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen, sondern meinte, dass seine
allzu
starke Einbildungskraft mit ihm durchgegangen sei.
»Mein
Gott,« seufzte er, »ich habe gewiss Anlage, verrückt zu werden. Hier
drinnen ist es auch unverzeihlich heiß, das Blut steigt mir zu Kopfe!«
Und nun
erinnerte er sich der großen Begebenheit des vorher gehenden Abends,
wie sein
Kopf zwischen den Eisenstäben des Hospitals festgesessen hatte. »Da
habe ich es
gewiss bekommen!« meinte er. »Ich muss bei Zeiten etwas dazu tun. Ein
russisches Bad könnte recht gut sein. Läge ich nur erst auf dem
höchsten
Brette!«
Und
da lag er auf dem obersten Brette im Dampfbade,
aber er lag da mit allen Kleidern, mit Stiefeln und Galoschen; die
heißen
Wassertropfen von der Decke fielen ihm ins Antlitz.
»Hu!«
schrie er, und fuhr herab, um ein Sturzbad zu nehmen. Der Aufwärter
stieß
einen lauten Schrei aus, wie er den angekleideten Menschen darin
erblickte.
Der
junge Mann hatte indes so viel Fassung, dass er ihm zuflüsterte: »Es
gilt
eine Wette!« Aber das erste, was er tat, als er sein eigenes Zimmer
erreichte,
war, dass er sich ein großes spanisches Fliegenpflaster in den Nacken
und eins
den Rücken hinab legte, damit die Verrücktheit herausziehen könne.
Am
nächsten Morgen hatte er einen blutigen Rücken, das
war alles, was er durch die Galoschen des Glückes gewonnen hatte.