V.
Die Verwandlung des Schreibers
Der
Wächter, den wir sicher noch nicht vergessen
haben, gedachte inzwischen der Galoschen, die er gefunden und mit nach
dem
Hospital hinausgebracht hatte; er holte sie ab, aber da weder der
Leutnant noch
sonst jemand in der Straße sie als die seinigen anerkennen wollte,
wurden sie
auf die Polizei abgeliefert.
»Es
sieht aus, als wären es meine eigenen Galoschen,«
sagte einer der Schreiber, indem er das gefundene Gut betrachtete und
sie an
die Seite der seinigen stellte. »Da gehört mehr als ein Schuhmacherauge
dazu,
um sie von einander unterscheiden zu können!«
Ein
Diener, der mit einigen Papieren hereintrat, rief
ihn.
Der
Schreiber wendete sich um und sprach mit dem
Manne; nachdem das aber geschehen war und er wieder die Galoschen
ansah, war er
in großer Ungewissheit darüber, ob es die zur Linken oder die zur
Rechten
seien, die ihm gehörten.
»Es
müssen die sein, die nass sind!« dachte er, aber
es war gerade verkehrt gedacht, denn das waren die des Glückes; aber
weshalb sollte
nicht auch die Polizei fehlen können! Er zog sie an, steckte seine
Papiere in
die Tasche und einige Schriftstücke unter den Arm, die zu Hause
durchgelesen
und abgeschrieben werden sollten; aber nun war es gerade Sonntag
Vormittag und
das Wetter gut, »ein Ausflug nach Friedrichsburg könnte mir wohltun!«
dachte
er, und so ging er hinaus.
Niemand
konnte ein stillerer und nüchternerer Mensch
sein, als dieser junge Mann, wir gönnen ihm darum diesen
kleinen Spaziergang wohl, er wird nach dem vielen Sitzen sicher
recht
wohltuend auf ihn wirken. Anfangs ging er nur wie ein gewöhnlicher
Mensch,
deshalb hatten die Galoschen keine Gelegenheit, ihre Zauberkraft zu
betätigen.
Unterwegs
begegnete er einem Bekannten, einem unserer
jüngeren Dichter, der ihm erzählte, dass er am folgenden Tage seine
Sommerreise
beginnen werde.
»Nun
wollen Sie wieder fort!« sagte der Schreiber.
»Sie sind doch ein glücklicher, freier Mensch. Sie können fliegen,
wohin Sie
wollen, wir andern haben eine Kette an dem Fuß!«
»Aber
sie ist an dem Brotbaum befestigt!« erwiderte
der Dichter. »Sie brauchen nicht für den morgenden Tag zu sorgen, und
werden
Sie alt, so erhalten Sie Ihr Einkommen fortbezahlt!«
»Sie
haben es doch am besten,« sagte der Schreiber.
»Es ist ja ein Vergnügen, zu sitzen und zu dichten; die ganze Welt sagt
Ihnen
angenehmes, und dann sind Sie Ihr eigener Herr! Ja, Sie sollten es nur
versuchen, im Gericht bei den langweiligen Sachen zu sitzen!«
Der
Dichter schüttelte mit dem Haupte, der Schreiber
schüttelte auch mit dem Haupte, jeder blieb bei seiner Meinung, und sie
trennten sich.
»Es
ist ein eigenes Volk, diese Dichter,« sagte der
Schreiber; »ich möchte wohl versuchen, in eine solche Natur einzugehen,
um
selbst ein Dichter zu werden; ich bin gewiss, dass ich nicht solche
Klageverse
schreiben würde, wie die andern! – – Das ist ein rechter Frühlingstag
für einen
Dichter! Die Luft ist ungewöhnlich klar, die Wolken so schön, und das
Grüne
duftet so prächtig! Ja, in vielen Jahren habe ich es nicht so gefühlt,
wie in
diesem Augenblick.«
Wir
bemerken schon, dass er ein Dichter geworden ist;
das anzudeuten, würde in den meisten Fällen abgeschmackt sein, denn es
ist eine
törichte Vorstellung, sich einen Dichter anders als andere Menschen zu
denken,
es können unter diesen weit mehr dichterische Naturen sein,
als
manche große anerkannte Dichter es sind. Der Unterschied ist nur der,
dass der
Dichter besseres geistiges Gedächtnis hat, er kann den Gedanken und das
Gefühl
festhalten, bis es klar und deutlich durch das Wort verkörpert ist, das
können
die andern nicht. Aber der Übergang von einer Alltagsnatur zu einer
begabten
ist immer ein Übergang, und so muss er bei dem Schreiber in das Auge
fallen.
»Der
herrliche Duft!« sagte er; »wie erinnert er mich
an die Veilchen bei der Tante! Ja, das war, als ich ein kleiner Knabe
war!
Daran habe ich seit langer Zeit nicht gedacht; das gute, alte Mädchen,
sie
wohnte dort herum hinter der Börse. Immer hatte sie einen Zweig oder
ein paar
grüne Schößlinge im Wasser, der Winter mochte so streng sein wie er
wollte. Die
Veilchen dufteten, während ich die erwärmten Kupferdreier gegen die
gefrorene
Fensterscheibe legte und Gucklöcher machte. Das war ein hübscher
Anblick.
Draußen lagen die Schiffe eingefroren, von der ganzen Mannschaft
verlassen,
eine schreiende Krähe bildete die ganze Besatzung; wenn die
Frühlingslüfte
wehten, dann wurde es lebendig, unter Gesang und Hurraruf sägte man das
Eis
entzwei, die Schiffe wurden geteert und getakelt, dann fuhren sie nach
fremden
Ländern. Ich bin hier geblieben und muss immer bleiben, immer auf der
Polizei
sitzen und die andern Pässe zu den Reisen nach dem Auslande nehmen
sehen, das
ist mein Loos! Ach ja!« seufzte er tief, dann hielt er plötzlich an.
»Wie ist
mir denn! So habe ich früher nie gedacht und gefühlt, das muss die
Frühjahrsluft sein, das ist ebenso ängstlich wie angenehm!« Er griff in
die
Tasche nach seinen Papieren. »Diese geben mir etwas anderes zu denken!«
sagte
er, und ließ die Augen über das erste Blatt hingleiten. »Frau Sigbrith,
Trauerspiel in fünf Aufzügen,« las er, »was ist das, und das ist ja
meine
eigene Hand? Habe ich dieses Stück geschrieben? ›Der Scherz auf dem
Walle, oder
der Bußtag, Lustspiel.‹ – Aber wo habe ich das bekommen? Man muss mir
das in
die Tasche gesteckt haben; hier ist ein Brief!« Der war von
dem Unternehmer einer Volksbühne, die Stücke waren verworfen und
der Brief
war durchaus nicht höflich abgefasst. »Hm! hm!« sagte der Schreiber,
und setzte
sich auf eine Bank nieder; seine Gedanken schweiften in die Ferne; sein
Herz
war weich; unwillkürlich ergriff er eine der nächsten Blumen. Es war
eine
gewöhnliche kleine Gänseblume; was uns die Naturforscher erst durch
manche
Vorlesungen sagen, verkündete sie in einer Minute; sie erzählte von
ihrer
Geburt, von der Kraft des Sonnenlichts, welches die feinen Blätter
ausspannte
und sie zum Duften zwang; da gedachte er der Kämpfe des Lebens, die
gleichfalls
Gefühle in unserer Brust erwecken. Luft und Licht sind die Liebhaber
der Blume,
aber das Licht ist der begünstigte, nach dem Licht wendete sie sich,
verschwand
dieses, so rollte sie ihre Blätter zusammen, und schlief in der
Umarmung der
Luft ein. »Das Licht ist es, was mich schmückt!« sagte die Blume. »Aber
die
Luft lässt Dich atmen!« flüsterte die Dichterstimme.
Dicht
dabei stand ein Knabe und schlug mit seinem
Stocke in einen morastigen Graben; die Wassertropfen spritzten zwischen
die
grünen Zweige hinauf und der Schreiber gedachte der Millionen Tierchen,
die in
dem Tropfen in die Höhe geschleudert wurden, was nach ihrer Größe für
sie
dasselbe war, was es für uns sein würde, bis hoch über die Wolkenregion
emporgewirbelt zu werden. Indem der Schreiber daran dachte und an die
ganze
Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, lächelte er: »Ich schlafe und
träume!
Merkwürdig ist es gleichwohl, wie man natürlich träumen und doch wissen
kann,
dass es nur ein Traum ist. Möchte ich mich doch morgen seiner entsinnen
können,
wenn ich erwache; nun scheine ich ganz ungewöhnlich aufgelegt zu sein!
Ich habe
eine klare Anschauung von allem, fühle mich so aufgeweckt, aber ich bin
sicher,
dass wenn ich morgen etwas davon behalten habe, so ist es dummes Zeug,
das ist
mir schon früher begegnet! Es geht mit allem Klugen und Prächtigen,
welches man
im Traum sagt und hört, wie mit dem Gelde der Unterirdischen; indem man
es
erhält, ist es reich und herrlich, aber bei Tage besehen, sind es nur
Steine
und vertrocknete Blätter. Ach,« seufzte er ganz wehmütig und
betrachtete die
singenden Vögel, die fröhlich von Zweig zu Zweig sprangen, »die haben
es weit
besser als ich! Fliegen, das ist eine herrliche Kunst, glücklich der,
welcher
damit geboren! Ja, könnte ich mich in etwas verwandeln, dann möchte ich
eine
kleine Lerche sein!«
In
demselben Augenblick flogen Rockschöße und Ärmel in
Flügel zusammen, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zu
Klauen; er
bemerkte es ganz wohl und lachte innerlich. »So, nun kann ich doch
sehen, dass
ich träume; aber so närrisch habe ich es früher nicht getan!« Und er
flog in
die grünen Zweige hinauf und sang, aber es war kein Schwung im Gesange,
denn
die Dichternatur war fort. Die Galoschen konnten, wie ein jeder, der
etwas
gründlich tut, nur eine Sache auf einmal besorgen, er wollte Dichter
sein, das
wurde er, nun wollte er ein kleiner Vogel sein, und indem er
dieses
wurde, hörte die vorige Eigentümlichkeit auf.
»Das
ist allerliebst!« sagte er. »Bei Tage sitze ich
in der Polizei unter den Abhandlungen, nachts kann ich träumen, als
Lerche im
Friedrichsburger Garten zu fliegen. Es könnte wahrlich ein ganzes
Volksstück
davon geschrieben werden!«
Nun
flog er in das Gras nieder, drehte den Kopf nach
allen Seiten herum und schlug mit dem Schnabel auf die geschmeidigen
Grashalme,
die im Verhältnis zu seiner gegenwärtigen Größe ihm so lang wie die
Palmenzweige Nordafrikas erschienen.
Es
war nur einen Augenblick so, dann wurde es
kohlschwarze Nacht um ihn; ein, wie es ihm erschien, ungeheurer
Gegenstand
wurde über ihn hingeworfen, es war eine große Mütze, welche ein Knabe
über den
Vogel warf. Eine Hand kam herein und ergriff den Schreiber um Rücken
und Flügel,
sodass er pfiff; im ersten Schreck rief er laut: »Du unverschämter
Junge! Ich
bin Beamter der Polizei!« Aber das klang dem Knaben wie ein pipipip! Er
schlug
den Vogel auf den Schnabel und wanderte davon.
Unterwegs
begegnete er zwei Schulknaben; sie kauften
den Vogel für zwei Groschen, und so kam der Schreiber nach Kopenhagen
zu einer
Familie in der Oststraße.
»Es
ist gut, dass ich träume,« sagte der Schreiber,
»sonst würde ich wahrlich böse. Zuerst war ich Dichter, nun bin ich
eine
Lerche; ja, das war sicher die Dichternatur, die mich in das kleine
Tier
verwandelte! Es ist doch eine jämmerliche Geschichte, besonders wenn
man
einigen Knaben in die Hände fällt. Ich möchte wohl wissen, wie das
abläuft!«
Die
Knaben brachten ihn in ein sehr schönes Zimmer;
eine dicke, lächelnde Dame empfing sie, aber sie war durchaus nicht
darüber
erfreut, dass der gemeine Feldvogel, wie sie die Lerche nannte, mit
hereinkam;
doch für heute wollte sie es sich gefallen lassen, und sie mussten ihn
in den
leerenKäfig setzen, der am Fenster stand. »Das wird vielleicht dem
Papchen
Freude machen!« fügte sie hinzu und lachte einen großen Papagei an, der
sich
vornehm in seinem Ring in dem prächtigen Messingkäfig schaukelte. »Es
ist
Papchens Geburtstag!« sagte sie, »deshalb will der kleine Feldvogel
Glück
wünschen!«
Papchen
erwiderte nicht ein einziges Wort, sondern
schaukelte vornehm hin und her, dagegen fing ein hübscher
Kanarienvogel, der im
letzten Sommer von seinem warmen, duftenden Vaterlande hierher gebracht
war,
laut zu singen an.
»Schreihals!«
sagte die Dame und warf ein weißes
Taschentuch über den Käfig.
»Pipip!«
seufzte er, »das ist ein erschreckliches
Schneewetter!« und mit diesem Seufzer schwieg er.
Der
Schreiber, oder, wie die Dame sagte, der
Feldvogel, kam in einen kleinen Käfig, dicht neben den Kanarienvogel,
nicht
weit vom Papagei. Den einzigen Satz, welchen Papchen plaudern konnte,
und der
oft recht belustigend klang, war der: »Nein, lasst uns nun Menschen
sein!«
Alles übrige, was er schrie, war ebenso unverständlich, wie das
Zwitschern des
Kanarienvogels, nur nicht für den Schreiber, der nun selbst ein Vogel
war, er
verstand die Kameraden sehr gut.
»Ich
flog unter der grünen Palme und dem blühenden
Mandelbaume!« sang der Kanarienvogel. »Ich flog mit meinen Brüdern und
Schwestern
über die prächtigen Blumen und über den spiegelklaren See hin, wo die
Pflanzen
sich auf dem Boden wiegten. Ich erblickte auch viel schöne Papageien,
welche
die lustigsten Geschichten erzählten.«
»Das
waren wilde Vögel,« erwiderte der Papagei, »die
besaßen keine Bildung. Nein, lasst uns nun Menschen sein! – Weshalb
lachst Du
nicht? Wenn die Dame und alle Fremden darüber lachen können, so kannst
Du es
auch. Es ist ein großer Fehler, das Ergötzliche nicht heiter zu finden.
Nein,
lasst uns nun Menschen sein!«
»O,
entsinnst Du Dich der hübschen Mädchen, die unter
dem ausgespannten Zelte bei den blühenden Bäumen tanzten? Entsinnst Du
Dich der
süßen Früchte und des kühlenden Saftes in den wild wachsenden
Kräutern?«
»O
ja,« sagte der Papagei, »aber hier habe ich es weit
besser; ich habe gutes Essen und eine gute Behandlung; ich weiß, ich
bin ein
guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. Lasst uns nun Menschen sein!
Du bist
eine Dichterseele, wie sie es nennen, ich habe gründliche Kenntnisse
und Witz,
Du hast viele Gaben, aber keine Besonnenheit, steigst in diesen hohen
Naturtönen hinauf, und deshalb wirst Du zugedeckt. Das bietet man mir
nicht,
nein, denn ich habe ihnen mehr gekostet! Ich mache Eindruck mit meinem
Schnabel
und kann mit ›Witz‹ schlagen. Nein, lasst uns nun Menschen sein!«
»O,
mein warmes, blühendes Vaterland!« sang der
Kanarienvogel. »Ich will Deine dunkelgrünen Bäume und Deine stillen
Meerbusen
besingen, wo die Zweige die klare Wasserfläche küssen, singen von dem
Jubel
aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, wo der Wüste
Pflanzenquellen* wachsen!«
»Lass
doch nur die traurigen Töne!« sagte der Papagei.
»Sage etwas, worüber man lachen kann! Gelächter ist das Zeichen des
höchsten
geistigen Standpunktes. Sieh, ob ein Hund oder Pferd lachen kann; nein,
weinen
können sie, aber lachen, das ist allein dem Menschen gegeben. Ho, ho,
ho!«
lachte das Papchen, und fügte seinen Witz: »Lasst uns nun Menschen
sein!«
hinzu.
»Du
kleiner, grauer Vogel,« sagte der Kanarienvogel,
»Du bist auch Gefangener geworden, es ist sicher kalt in Deinen
Wäldern, aber
da ist doch Freiheit, fliege hinaus! Man hat vergessen Deinen Käfig zu
schließen; das oberste Fenster steht offen. Fliege, fliege!«
Unwillkürlich
gehorchte der Schreiber und flog aus dem
Käfig; in demselben Augenblicke knarrte die halb geöffnete Thür zum
nächsten
Zimmer, und geschmeidig mit grünen funkelnden Augen, schlich sich die
Hauskatze
herein und machte Jagd auf ihn. Der Kanarienvogel flatterte im Käfig,
der
Papagei schlug mit den Flügeln und rief: »Lasst uns nun Menschen sein!«
Der
Schreiber fühlte den tödlichsten Schreck und flog durch das Fenster,
über die
Häuser und Straßen davon, zuletzt musste er etwas ausruhen. Das
gegenüberliegende Haus hatte etwas Heimisches, ein Fenster stand offen,
er flog
hinein, es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch.
»Lasst
uns nun Menschen sein!« sprach er unwillkürlich
dem Papagei nach, und im selben Augenblick war er der Schreiber, aber
er saß
auf dem Tische.
»Gott
bewahre mich!« sagte er, »wie bin ich hier
herauf gekommen und eingeschlafen? Das war ein unruhiger Traum, den ich
hatte.
Dummes Zeug war doch die ganze Geschichte.«