Christblume
II.
von
A. Vollmar
Von
der Gewalt, die alle Menschen bindet.
Befreit
der Mensch sich, der sich überwindet
Es
war am Tage vorher, als in einer weit entfernten Stadt zwei Menschen
ein ernstes Gespräch führten. Der Eine war der alte hochachtbare und
rühmlich bekannte Mechanikus Francke, der Andere sein Lehrling,
Bernhard Winter, ein junger Mensch von achtzehn Jahren.
„Bernhard,
ich sage Ihnen noch einmal,“ fuhr der Alte jetzt fort, „besinnen Sie
sich. So kann es nicht länger mehr mit Ihnen fortgehen. Auf die Art,
wie Sie arbeiten, lernen Sie nicht nur nichts, sondern stehlen unserm
Herrgott den Tag. Sie sind der einzige Sohn Ihres braven Vaters, seine
ganze Hoffnung. Wenn Sie einst seine große Fabrik übernehmen und
anderen Leuten befehlen wollen, so müssen Sie vorher etwas
Rechtschaffenes gelernt haben. Zum Studieren hatten Sie auch keine
Lust, mit Ihren Händen zu arbeiten eben so wenig, dagegen sehr große zu
dummen leichtfertigen Streichen, – ich frage Sie, was soll aus Ihnen
werden?“
„Ich
weiß es nicht,“ stieß Bernhard abgewandten Gesichtes hervor,
„jedenfalls kein Mechanikus.“
„Ist
auch nicht nötig,“ antwortete Meister Francke, „Sie sollen einst große
Unternehmungen leiten, aber aller Besitz ist tot, nur der Erwerb ist
lebendig. Wenn Sie Ihre Pflicht – ordentlich zu lernen – jetzt nicht
erfüllen, – wie wollen Sie einst größere Pflichten übernehmen?“
Da
Bernhard schwieg, näherte sich ihm der Alte und sagte mit herzlichem
Ton: „Lieber Junge, Ihr Vater war ein Freund von mir und ich wünschte
ihm, dass er Freude an Ihnen erlebt. Machen Sie diese Hoffnung nicht
zuschanden. Eigentlich wollte ich ihm schreiben, wie wenig ich mit
Ihnen zufrieden bin, – aber morgen ist heiliger Christabend, den möchte
ich ihm nicht mit solcher Nachricht verderben. Reisen Sie nun heute
nach Hause, der ganze Tag liegt vor Ihnen, überlegen Sie sich da,
welchen Weg Sie gehen wollen. Am zweiten Festtag erwarte ich einen
Brief von Ihnen, worin Sie erklären, ob Sie mir von nun an freudig
gehorchen und ordentlich etwas lernen wollen. Versprechen Sie mir das,
gut, so will ich es noch einmal versuchen; im andern Falle schreibe ich
den ganzen Sachverhalt Ihrem Vater. So, nun überlegen Sie sich, ob Sie
links oder rechts gehen wollen.“
Ja,
wenn Bernhard das nur selbst gewusst hätte! Er saß jetzt in der
Postkutsche, welche ihn von früh morgens um zehn bis abends um sechs
Uhr dem Vaterhause oder vielmehr der Eisenbahnstation zuführen sollte;
nach sechs Uhr bestieg er den Dampfwagen und war dann um neun Uhr im
Vaterhause, sehnlich erwartet, um morgen mit den Seinen das liebe
Weihnachtsfest zu feiern.
So
hatte ihm der Vater geschrieben, auch außer dem Reisegelde noch eine
Summe Geldes gesandt, „damit Du Weihnachtsgeschenke mitbringen kannst.“
– Ach, und gerade dies Geld wurde zum Versucher, einen abenteuerlichen
Plan auszuführen, der schon längst in Bernhards Herzen keimte.
Es
war ihm unerträglich, anhaltend arbeiten zu müssen; er wusste, dass er
eines wohlhabenden Mannes Sohn war, da schien es ihm eine
Ungerechtigkeit, sich irgendwie anstrengen zu sollen. Er wollte frei
sein von jedem Zwang, von jeder Pflicht, von jeder geregelten
Tätigkeit; frei wie sein Freund Philipp, der in Amerika wohnte und ihm
sein dortiges Vagabundenleben mit den lockendsten Farben schilderte.
Bernhard war unzufrieden mit seinem Lose, und diese Unzufriedenheit
hatte ihn zur Arbeit unlustig gemacht. Er fand es sehr ungerecht, dass
Meister Francke Gehorsam und Fleiß verlangte; Nichtstun war viel
angenehmer. Ach, wenn er doch auch in Amerika wäre, tun und lassen
könnte, was er wollte! Jetzt hatte er ein gutes Stück Geld in Hand, der
Dampfwagen, welchen er hier bestieg, führte ihn geradeswegs nach
Hamburg, von dort war er in vierzehn Tagen in Amerika; reichte das Geld
nicht zur Überfahrt, so verkaufte er noch seine goldene Uhr und Kette –
gewiss, es ging. Einmal dort, dann hatte er keine Sorge, dann
schlenderte er mit Philipp umher, wie er es früher auf der Schule
getan, und der Vater, – er würde doch wegen Meister Franckes Brief so
wie so zürnen, – da ging es in einem hin.
Unter
diesen Gedanken war es Abend geworden, er war an der Eisenbahn, und
während er noch stand und es in seinem Herzen kämpfte, fuhr der Zug ab.
So war es für heute entschieden, – nach Hause konnte er nicht mehr;
kein anderer Zug ging von der kleinen Station heute Abend, – so
entschloss er sich, über Nacht zu bleiben.
Es
war eine wilde, stürmische Nacht. Draußen heulte der Wind, in Bernhards
Brust pochte das Gewissen laut und lauter. Nein, er wollte doch lieber
nach Hause gehen, des Vaters ernstes, der Mutter gütiges Gesicht machte
ihm ordentlich Heimweh. Morgen früh mit dem ersten Zuge wollte er
heimfahren und den Eltern vorlügen, dass er den Zug heute versäumt.
Nachdem Bernhard diesen Entschluss gefasst, wurde er ruhiger und
schlief endlich ein.
Aber
als er am andern Morgen erwachte, – wo waren da alle besseren Vorsätze?
Hatte sie der Wind verweht? Waren sie mit den Wolken davon gezogen?
Bernhard erschien sich selber wie ein Narr, dass er so wankelmütig
gewesen, wie hatte er nur dies elende Leben voller Arbeit und
Einschränkung noch weiter leben wollen! Tag für Tag, vom Morgen bis zum
Abend arbeiten, stets seinen Willen beugen, – dagegen in Amerika bei
seinem Freunde unbegrenzte Freiheit und Gelegenheit zu wer weiß was für
großartigen Taten! Das Bild der Eltern, das gestern mahnend und lockend
vor Bernhards Seele gestanden hatte, war heute mit dem hellen
Tageslichte verschwunden. Sein Entschluss war fester als je, – jetzt
galt es nur noch, ihn auszuführen.
Noch
wurde er nicht vermisst; ob er gestern Abend oder heute Mittag nach
Hause kam, war nicht fest bestimmt gewesen. Kam er aber nun heute nicht
zu den Seinen, so würde der Vater hier nachforschen, erfahren, dass er
sich ein Billett nach Hamburg gelöst und ihn vielleicht einholen, ehe
er den Dampfer bestiegen. Er musste ihn da etwas irreleiten und sein
Forschen erschweren; deshalb beschloss Bernhard, von hier zur nächsten,
etwa anderthalb Stunden entfernten Bahnstation zu gehen, und von dort
nach Hamburg zu fahren. Gedacht, getan! Er machte sich daran, diesen
Vorsatz auszuführen. –
Gemächlich
schlenderte er auf der winterlich einsamen Chaussee dahin; es war ihm
lieb, dass ihm kein Mensch begegnete; wenn man auf unrichtigem Wege
wandelt, bleibt man am liebsten ungesehen, und dass Bernhard sich auf
einem solchen befand, sagte ihm sein klopfendes Herz doch fortwährend
mit lauter Stimme. Aber er betäubte es, und auch den Gram und Zorn
seiner Eltern zu beschwichtigen schien ihm so leicht, wenn er nach
Jahren als ein „gemachter Mann, als Held und Ritter ohne Tadel“
zurückkehrte. Immer mehr vertiefte er sich in lockende Bilder
zukünftigen Glückes, bald war er ja nun in dem Orte, von dem aus er mit
Dampf alle jene Dinge erreichen konnte, nach denen sein Herz dürstete.
Da, – nicht fern von einem Wäldchen, wurde er plötzlich durch einen
Laut aufgeschreckt, – es war kein Vogelton, kein Wagenknarren, –
sondern eine flehende Kindesstimme, welche so laut sie konnte, rief:
„Du, komm doch und hilf mir! O komm doch mal her!“
Bernhard
sah auf, – nicht weit von ihm am Chausseegraben stand ein kleiner
Knabe, etwa sechs Jahre alt, blass und verweint aussehend, welcher jene
Bitte aussprach und angstvoll auf die Antwort zu warten schien.
Bernhard
war von Natur nur allzu geneigt, jeder Bitte nachzugeben, – eilig
sprang er über den Graben und sagte: „Was willst Du denn von mir?“
Zutraulich
fasste der Kleine seine Hand und bat: „Komme doch und hilf mir das Holz
tragen. Ich kann es nicht allein.“
„Wo
ist es denn? Doch nicht weit?“
„Nein,
nein,“ rief ängstlich der kleine Bursche, „nein, gar nicht weit. Du
kannst es da liegen sehen.“
Wirklich
sah Bernhard in kleiner Entfernung ein großes Reisigbündel. „Nun, dann
komm schnell," sagte er gutmütig, und ging mit seinem Begleiter darauf
zu.
Aber
es war zu schwer für den Kleinen; Bernhard erschien es unbarmherzig,
dem zarten Kinde diese Last aufzuladen. Er wollte es überreden, das
Holz liegen zu lassen und Hilfe vom Hause zu holen, aber da traten dem
Kleinen die Tränen in die Augen und er sagte sehr entschieden:
„Nein,
ich muss Holz haben, sonst kann ich nicht einheizen, und Vater friert
so sehr.“
„Ist
er denn krank?“ forschte Bernhard. „Liegt er im Bett?“
Der
Kleine nickte traurig.
„Nun
den,“ – Bernhard sah nach der Uhr, er hatte noch viel Zeit, – „wo liegt
denn Euer Haus?“
„Da,“
das Kind wies nach einer Richtung, welche nicht weit von Bernhards Wege
lag. Der sah noch einmal seinen Begleiter an – er hatte wirklich
Ähnlichkeit mit seinem Bruder Lorenz, der im selben Alter starb; wenn
nun der solch eine Last hätte tragen sollen – Bernhard bedachte sich
nicht länger, muthig hob er das Holz auf seinen Rücken und sagte zu dem
Kleinen: „Ich will es Dir tragen, geh nur voran und zeigte mir den Weg.“
Bald
war das Haus erreicht. Bernhard war es warm und weh ums Herz geworden
bei dem Geplauder des Kleinen, in dem sich fortwährend wiederholte:
„Wie sich der Vater freuen wird! Wie sich der Vater freuen wird!“ – Ob
wohl Bernhards Vater sich auch über seinen Sohn so freuen konnte, wie
dieser Vater über den kleinen anstelligen, lieben Jungen? Bernhard
wurde flammend rot, als er sich diese Frage vorlegte.
Rudolph,
– denn er war es – öffnete die Tür, blickte hinein und sagte
zurückkehrend mit leiser Stimme: „Vater schläft noch immer.“ Bernhard
hatte das Holz abgelegt und trat nun an Rudolphs Hand in die Stube.
Dort in der Ecke stand das Bett, darauf ruhte bewegungslos der
Schläfer. Die Beiden traten leise näher, noch näher, dann riss sich
Bernhard los, trat rasch an den Schläfer, fasste seine Hand, – steif
und bewegungslos fiel sie zurück, und Bernhard rief erschrocken: „Er
ist ja tot!“
Einen
Augenblick begriff Rudolph nicht, was das heißen sollte; aber ein Blick
auf Bernhard erschrockenes, ja entsetztes Gesicht sagte ihm, dass etwas
Schreckliches hier geschehen; zudem hatte er doch schon manches tote
Tier gesehen und wusste, dass der Tod ein Ende machte. Zugleich aber
erinnerte er sich, wie oft ihm der Vater von seiner Mutter gesagt: Sie
sei tot und bei Gott. So sah er zuerst nur den Vater an und sagte dann
scheu: „Dann ist er bei dem lieben Gott.“
Als
er aber nun mit dem Vater sprechen wollte, und der Mund, der ihm sonst
so gern Antwort gegeben, stumm und still blieb, als keine seiner
Liebkosungen mehr erwidert wurde, da kam Traurigkeit über ihn,
bitterlich fing er an zu weinen und schmiegte sich an das einzige
lebendige Wesen, das in dieser Einsamkeit neben ihm stand.
Aber
in Bernhard war seit seinem Eintritt in dies Zimmer eine wunderbare
Veränderung vorgegangen. Tief erschüttert blickte er auf die Leiche.
Diesem Vater konnte sein Kind keine Liebe mehr erweisen, das Holz, das
ihn wärmen sollte, kam zu spät. Zu spät!
Wenn
es nun auch für ihn einmal zu spät wäre, seinem Vater Liebe zu
erweisen? Wenn er einst aus Amerika heimkehrte und ihn so als Leiche
fände? Wenn er nie mehr seinem Sohne sagen könnte: Ich habe Dir all den
Schmerz vergeben, den Du mir gemacht? – Hier wurde Bernhard plötzlich
inne, wie heiß er seinen Vater und dieser ihn liebte, hier wurde es ihm
klar, dass sein ganzes böses Leben, das er jetzt geführt, nun sein
törichtes Fortlaufen, das er noch heute leichtfertig ausführen wollte,
ein wirkliches Vergehen wider denselben war. Und alle die
hochfliegenden Pläne, die noch eben sein stolzes Herz geschwellt, wie
sahen sie an dieser Leiche so erbärmlich aus! „Es ist den Menschen
gesetzt einmal zu sterben und dann das Gericht,“ diese Worte verfolgten
ihn jetzt wie Hammerschläge. – Aus weiter Ferne tönte ein Pfiff der
Eisenbahn herüber, – war es der Zug, welcher den verlorenen Sohn als
Vagabunden nach Hamburg bringen sollte? – ach, dieser stille Mann da
auf dem Bette, der kein Glied regte, hielt den wilden Knaben fest, dass
er auf rechtem Wege blieb. Jener tote Vater, welcher sein Kind hilflos
und allein zurückließ, rettete einem anderen Vater seinen einzigen
Sohn. Amerika, weite Welt, Freiheit, Freunde, Wohlleben, – Alles
verschwand wie ein Blendwerk vor dem Ernst dieser engen Stube.
„Vater,
lieber Vater,“ schrie jetzt der kleine Rudolph in ahnungsvollem Schmerz
seines großen Verlustes und sank an seinem Lager nieder.
„Vater,
mein lieber Vater!“ rang es sich aus der gequälten Brust des Jünglings;
er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und kniete neben dem
Waisenkinde, – ein geretteter Sohn.