Im Sturm 2
Und
daß wir
nichts dafür können für unser Kümmernis, das hat sie wohl selbst
geglaubt.
Gestern aber, sagt sie, habe sie es bestimmt erfahren. Und da ist sie
gekommen
und hat gesagt, sie habe bereits heute bei einigen Familien angeklopft,
damit
du dort Stunden kriegst. Hast du doch jetzt nur eine ... Ach, mein
Gott!
Fadenscheinige Kleider versperren einem die Türen zu den Reichen! Und
deinen
Doktor willst du ja doch machen. Und denk dir, gleich zwei haben
zugesagt! Und
wenn ... Ja siehst du, da hat sie gezeigt, was für ein gutes Herz sie
hat –
wenn ich vorläufig, hat sie gemeint, Geld brauchen sollte – sie, sie
schieße
mir gern etwas vor. Und du – du könntest es ja dann zurückerstatten,
wenn ...«
»Das
hat sie
gesagt?« Theobald hatte sich aufgerichtet und schaute die Mutter
forschend an.
Sie
hielt
seine Blicke stilllächelnd aus und umschloß mit den ihren voll
Innigkeit des
Sohnes schönen dunkelblonden Lockenkopf und freute sich – wie schon so
oft! –
seines scharf geschnittenen edellinigen und kühnen Schnittes. So schön
war er
und so stolz, so mannesmutig – ach! so recht eine wahre Mutterfreude
und
Muttersorg. Aber das bleich werden sehen und darben sehen! Gott weiß
es, was
sie heimlich litt.
»Ja,«
nickte
sie dann, »das hat sie gesagt – und getan.«
Er
war aufgesprungen
und ging einige Male durchs Zimmer, hastig, unruhevoll, in voller
Wucht. Und
plötzlich packte er die Mutter, drückte sie an sein Herz und wirbelte
sie
darauf urschnell im Zimmer herum. Es war ein Glückseligkeitssturm, der
mit
jäher unbezwinglicher Gewalt durch sein
Inneres gebraust kam – ein
Hoffnungssturm sondergleichen.
Aber
diesem
Glutsturme folgte rasch die lähmende Ernüchterung und dieser ein
herb-süßes
Bangen.
Still
ließ
er sich von der Mutter zum Abendessen führen, das fast erkaltet war.
Als er so
dasaß und mit sichtlichem Hunger – jetzt schmeckte es ja nicht mehr so
bitter,
dieses harte Wort! – und doch ganz in Gedanken versunken aß, schaute
ihn die
Mutter lächelnd an. Und aus ihren Augen leuchtete ein solches Uebermaß
von Liebe
und Zärtlichkeit, daß es ihn heiß durchlief, ohne daß er aufgeschaut
und den
Blick der Mutter in sich aufgenommen hätte. Er langte nur nach ihrer
Hand und
streichelte sie zärtlich.
Da
glitt
wieder ein schier schalkhaftes Lächeln über das kleine feine Gesicht
der
Mutter. Die hatte doch ihr Geheimnischen: sie hatte dem Fräulein Erna
ihre
ganze Lebensgeschichte erzählt. Sonst tat sie das nicht so leicht – sie
war
auch ein wenig stolz! – aber dem lieben Mädchen gegenüber konnte sie
nicht
anders. Das verschwieg sie dem Sohne. Wie würde der aufgefahren sein,
wenn er
anhören müßte, Erna habe sich erboten, dem halsstarrigen Onkel ins Haus
zu
fallen! Wie sie
das anstellen werde, wisse sie vorläufig selbst noch nicht, hatte sie,
schönen
Eifers voll, ausgerufen, die Liebe, aber sie werde schon Mittel und
Wege
finden! O ja, sie werde sie schon finden! Sie möchte denn doch sehen,
ob Milde
und Nächstenliebe und bessere Einsicht nicht über Stolz und Trotz
siegten!
Dabei setzte es auch einen kleinen Seitenhieb auf Theobald ab und der
Mutter
scharfes Auge merkte gar wohl, wie eine Glutwelle über des Mädchens
Wangen flog
– merkte das trotz der eingetretenen Dämmerung. Mutteraugen sehen durch
Nacht
und Finsternis und sehen durch Berge und Wände.
Iß
du
nur
ruhig weiter, dachte sie still bei sich, und such nur emsig das letzte,
letzte
Restchen der seltenen Speise zusammen und tunke mit dem frischen
duftigen Brote
nur so lange, bis die Teller dastehn, sauber und blank, als kämen sie
eben aus
dem Schranke.
Als
er dies
stille Werk getan, lehnte er sich behaglich zurück und blickte
sehnsüchtig nach
seiner Pfeife, der langen. Leise, ganz leise seufzte er dabei auf. Er
wußte ja,
die Schachtel, die dort neben der Pfeife stand, war leer – blank leer
wie sein
Teller ... und seine Tasche. Wie sollte er auch Tabak kaufen, wenn die
Mutter,
die liebe, kaum zu essen hatte!
»Was
der
Mensch doch gleich genußsüchtig ist, wenn er den Magen voll hat!«
dachte er bei
sich.
Die
Mutter
aber hatte den Sehnsuchtsblick bemerkt. Lächelnd stand sie auf, holte
Pfeife
und Schachtel herbei und klappte diese vor dem erstaunten Sohne auf –
plattvoll
war sie mit duftendem Tabak, plattvoll!
Da
gab es
wieder einen Sturm, einen Freudensturm.
»Und
wie
hast du denn gleich die richtige Mischung gefunden, Mutting?« fragte er
und
dampfte gar behaglich darauf los.
»Ist's
doch
Vaters Mischung.«
Ein
Hauch
von Wehmut zog durch ihre Herzen, aber er trübte nicht: er vertiefte
nur die
stille Freude der beiden guten liebevollen Menschen.
Und
jetzt
fühlte Theobald erst so recht, daß es warm war in dem kleinen trauten
Zimmerchen und sah, wie im Ofen schönfarbig die Glut verglimmte.
Draußen heulte
der Sturm sein Siegeslied weiter und peitschte den wasserschweren
Schnee
kraftfroh und hohnwild an die Fensterscheiben.
»Heul
du nur
zu!« dachte Theobald, »deine Musik hat das Schauerliche für mich
verloren – bis
auf weiteres.«
Leise
vor
sich hinpfeifend, stand er auf, holte ein Buch herbei, setzte sich
neben die
Mutter hin und begann ihr vorzulesen, wie sie es liebte. Sie nahm eine
Näharbeit zur Hand und hörte, ganz Freude und ganz Aufmerksamkeit, dem
Sohne
zu, der so schön und so eindrucksvoll vorlas. Das war ein Abend wie
schon lange
keiner.
Nächsten
Tages löste er seinen Winterrock aus und spottete nun der Kälte, die
dem Sturme
gefolgt war.
Und
Fräulein
Erna hatte auch nicht in den Wind geredet: die Anträge auf
Stundenerteilung
kamen. Gutbezahlte Stunden. Und taktvolle Leute. Die Jungens
ausgesuchte
Dummlinge, aber seelengute Kerle.
Klopfenden
Herzens hatte er ihr bei schicklicher Gelegenheit gedankt, der guten
Fee in
seiner Not, und war glückselig erschrocken über den holden Klang ihrer
Stimme,
die er zum erstenmal zu hören bekam. Und hatte scharf gespäht und
siegeskühn
gehofft, ihre Wangen würden jäh erglühen, süß verräterisch erglühen;
aber sie
blieben wie sie waren – um einen Schatten bleicher wurden sie eher. Da
war er
still und nachdenklich von ihr gegangen und blieb still und
nachdenklich die
ganzen Wochen hindurch, bis endlich die Zeit seligen Gebens
herangekommen war –
die Weihnachtszeit.
Einiges
Geld
hatte er sich ja abgezwackt. Klein nur konnte die Gabe für Mütterchen
werden –
aber er wußte: ihre Freude war groß auf alle Fälle.
Unter
dem
Geläute der Weihnachtsglocken ging er am heiligen Abend heim. Leicht
war sein
Gepäck, aber voll sein Herz. Frohgemut blickte er auf zu den Sternen.
Ob wohl
auch der Stern seiner Hoffnung aufgehn – und ob er Verkünder
sein werde der Sonne seines
Glückes ... Gott weiß es! Gott füg es!
Unten
sah er
noch flüchtig auf seine Uhr, die er nach einigen Semestern eifrigen
»Studierens« wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt hatte. Es
stimmte:
sieben Uhr. Früher durfte er nicht kommen, hatte die Mutter feierlich
geboten –
und wieder so eigen gelächelt. Dabei zeigte sie die Grübchen auf den
Wangen,
die es einst seinem Vater angetan hatten.
Als
er in
den kleinen Vorraum trat, schimmerte durch die Türspalten Lichterglanz.
Er
klopfte. Die Mutter öffnete und meldete wichtig und geheimnisvoll: das
Christkind sei gekommen.
Staunend
sah
er den Baum stehn, der größer war und reicher, als er hoffen konnte.
Weh und
wohl wurde ihm dabei ums Herz – ist's Ernas Christkind? Kommt sie
vielleicht
heute selbst herauf und gibt das Herrlichste, das ihm auf Erden
beschieden
werden konnte?
Unbemerkt
legte er seine Gaben neben die andern, die geheimnisvoll verdeckt
waren, unter
den Baum; beklommen sah er die Mutter an, die offenbar etwas sagen
wollte, was
ihr leicht vom Herzen, aber schwer über die Lippen ging. Die
leuchtenden Augen
kündeten es an, die zuckenden Finger redeten es schon.
»Was
ist's?«
fragte er unvermittelt und seine Stimme bebte.
»Fräulein
Erna hat uns etwas gebracht,« sagte sie darauf stockend.
»Fräulein
Erna?« Wieder war es Freud und Scham, Zorn und Jubel, was ihn
durchstürmte und
quälte.
»Ja,
Theobald, etwas, was du, was wir alle nicht erwarten konnten, nicht
erhoffen durften: Liebe und Versöhnung ...«
Da
trat aus dem verhängten Alkoven – der Onkel hervor, mehr verlegen als
freudig bewegt.
»Du!!
Du hier!?« Freundlich klang das nicht.
»Ja,
Theobald, ich. Fräulein Erna ist zu mir gekommen wie ein guter Engel.
Sie hat mich bekriegt und besiegt, gedemütigt und beschämt. Aber sie
hat mich
auch emporgehoben und mir Freude gegeben. Und so bin ich denn da und
bitte
dich, mir zu glauben, was ich sage. Wie es um euch steht, hab ich erst
durch
sie erfahren. Und hätt' ich's gewußt – wer weiß! Kurz, sie hat's
zustande
gebracht. Theobald, laß alles vergessen und laß uns wieder gut Freund
sein.
Gegenseitig wollen wir wieder alles gut machen aneinander. Und dann« –
man
sah's ihm an, wie es steinschwer und widerwillig aus seinem Innern
heraufkroch
– »und dann – ich bitte dich, verzeih mir, was ich deinem Vater und dir
angetan
hab!« Da war er doch weicher geworden, als er hätte zeigen wollen. Aber
Erna hat
ihn ja so gründlich zermürbt!
Rasch
streckte er Theobald beide Hände hin. Und jäh und herzhaft, wie es
seiner leidenschaftlichen Natur eigen war, griff der Neffe danach. Ein
warmer
kräftiger Druck, ein tiefes Versenken der Augenpaare – und alles war
begraben
und vergeben.
»Ich
dank dir,« sagte der Onkel sodann ganz bewegt. Dann setzte er im Tone
der Bewunderung hinzu: »So hat sie also doch recht gehabt, die Fräuln
Erna! Sie
hat gesagt, du wirst mir ohne viel Wesens zu machen die Hand reichen,
denn du
bist nicht nur stolz, hat sie gesagt, sondern auch gut.«
»Das
hat sie gesagt?« Rasch ging er zum Baume, zog die Hüllen weg und besah
sich unter lebhaften überlauten Worten die Geschenke.
Die
Mutter hatte den überstürzten Abbruch des gefürchteten Zwiegespräches
wohl bemerkt, sagte aber weiter kein Wort. Sie lächelte nur still vor
sich hin,
umspielt und umschwirrt von heiteren sonnigen Zukunftsgedanken – einer
schöner
als der andere.
Theobald
musterte die Geschenke und dachte: »Reiche Geschenke, schöne Geschenke,
überaus kostbar, überaus praktisch – aber alle, alle vom Onkel, keines
von
ihr ...« Schnell sah er das Unmögliche einer solchen
Handlungsweise des
feinen taktvollen Mädchens ein und tröstete sich mit dem Gedanken: es
käme doch
schließlich alles von ihr und durch sie.
Das
gab ihm die Seelenruhe wieder. In heiterem Gespräch und mit noch
froheren Gedanken verbrachte er den Abend mit Mutter und Onkel, der
ganz
verwandelt schien und nicht einmal eins über den Durst trank, wiewohl
er
reichlich vorgesorgt hatte, daß es einen guten Tropfen gab. Diese
Selbstüberwindung war bewunderungswürdig.
Mit
dem Entschlusse, nächsten Morgen zur schicklichen Stunde hinabzugehn zu
ihr und ihr zu danken, schlief Theobald ein. Er hätte nicht sagen
können, wann
die Gebilde seiner glückbeflügelten Phantasie abgelöst wurden von den
Gebilden
des Traumes und welche schöner und glückverheißender waren.