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Literatur


04.3


Adolf Schwayer

Weihnachtserzählungen



Im Sturm 2


Und daß wir nichts dafür können für unser Kümmernis, das hat sie wohl selbst geglaubt. Gestern aber, sagt sie, habe sie es bestimmt erfahren. Und da ist sie gekommen und hat gesagt, sie habe bereits heute bei einigen Familien angeklopft, damit du dort Stunden kriegst. Hast du doch jetzt nur eine ... Ach, mein Gott! Fadenscheinige Kleider versperren einem die Türen zu den Reichen! Und deinen Doktor willst du ja doch machen. Und denk dir, gleich zwei haben zugesagt! Und wenn ... Ja siehst du, da hat sie gezeigt, was für ein gutes Herz sie hat – wenn ich vorläufig, hat sie gemeint, Geld brauchen sollte – sie, sie schieße mir gern etwas vor. Und du – du könntest es ja dann zurückerstatten, wenn ...«

»Das hat sie gesagt?« Theobald hatte sich aufgerichtet und schaute die Mutter forschend an.
Sie hielt seine Blicke stilllächelnd aus und umschloß mit den ihren voll Innigkeit des Sohnes schönen dunkelblonden Lockenkopf und freute sich – wie schon so oft! – seines scharf geschnittenen edellinigen und kühnen Schnittes. So schön war er und so stolz, so mannesmutig – ach! so recht eine wahre Mutterfreude und Muttersorg. Aber das bleich werden sehen und darben sehen! Gott weiß es, was sie heimlich litt.

»Ja,« nickte sie dann, »das hat sie gesagt – und getan.«

Er war aufgesprungen und ging einige Male durchs Zimmer, hastig, unruhevoll, in voller Wucht. Und plötzlich packte er die Mutter, drückte sie an sein Herz und wirbelte sie darauf urschnell im Zimmer herum. Es war ein Glückseligkeitssturm, der mit jäher unbezwinglicher Gewalt durch sein Inneres gebraust kam – ein Hoffnungssturm sondergleichen.

Aber diesem Glutsturme folgte rasch die lähmende Ernüchterung und dieser ein herb-süßes Bangen.

Still ließ er sich von der Mutter zum Abendessen führen, das fast erkaltet war. Als er so dasaß und mit sichtlichem Hunger – jetzt schmeckte es ja nicht mehr so bitter, dieses harte Wort! – und doch ganz in Gedanken versunken aß, schaute ihn die Mutter lächelnd an. Und aus ihren Augen leuchtete ein solches Uebermaß von Liebe und Zärtlichkeit, daß es ihn heiß durchlief, ohne daß er aufgeschaut und den Blick der Mutter in sich aufgenommen hätte. Er langte nur nach ihrer Hand und streichelte sie zärtlich.

Da glitt wieder ein schier schalkhaftes Lächeln über das kleine feine Gesicht der Mutter. Die hatte doch ihr Geheimnischen: sie hatte dem Fräulein Erna ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Sonst tat sie das nicht so leicht – sie war auch ein wenig stolz! – aber dem lieben Mädchen gegenüber konnte sie nicht anders. Das verschwieg sie dem Sohne. Wie würde der aufgefahren sein, wenn er anhören müßte, Erna habe sich erboten, dem halsstarrigen Onkel ins Haus zu fallen! Wie sie das anstellen werde, wisse sie vorläufig selbst noch nicht, hatte sie, schönen Eifers voll, ausgerufen, die Liebe, aber sie werde schon Mittel und Wege finden! O ja, sie werde sie schon finden! Sie möchte denn doch sehen, ob Milde und Nächstenliebe und bessere Einsicht nicht über Stolz und Trotz siegten! Dabei setzte es auch einen kleinen Seitenhieb auf Theobald ab und der Mutter scharfes Auge merkte gar wohl, wie eine Glutwelle über des Mädchens Wangen flog – merkte das trotz der eingetretenen Dämmerung. Mutteraugen sehen durch Nacht und Finsternis und sehen durch Berge und Wände.

Iß du nur ruhig weiter, dachte sie still bei sich, und such nur emsig das letzte, letzte Restchen der seltenen Speise zusammen und tunke mit dem frischen duftigen Brote nur so lange, bis die Teller dastehn, sauber und blank, als kämen sie eben aus dem Schranke.
 
Als er dies stille Werk getan, lehnte er sich behaglich zurück und blickte sehnsüchtig nach seiner Pfeife, der langen. Leise, ganz leise seufzte er dabei auf. Er wußte ja, die Schachtel, die dort neben der Pfeife stand, war leer – blank leer wie sein Teller ... und seine Tasche. Wie sollte er auch Tabak kaufen, wenn die Mutter, die liebe, kaum zu essen hatte!

»Was der Mensch doch gleich genußsüchtig ist, wenn er den Magen voll hat!« dachte er bei sich.
Die Mutter aber hatte den Sehnsuchtsblick bemerkt. Lächelnd stand sie auf, holte Pfeife und Schachtel herbei und klappte diese vor dem erstaunten Sohne auf – plattvoll war sie mit duftendem Tabak, plattvoll!

Da gab es wieder einen Sturm, einen Freudensturm.

»Und wie hast du denn gleich die richtige Mischung gefunden, Mutting?« fragte er und dampfte gar behaglich darauf los.
 
»Ist's doch Vaters Mischung.«

Ein Hauch von Wehmut zog durch ihre Herzen, aber er trübte nicht: er vertiefte nur die stille Freude der beiden guten liebevollen Menschen.
 
Und jetzt fühlte Theobald erst so recht, daß es warm war in dem kleinen trauten Zimmerchen und sah, wie im Ofen schönfarbig die Glut verglimmte. Draußen heulte der Sturm sein Siegeslied weiter und peitschte den wasserschweren Schnee kraftfroh und hohnwild an die Fensterscheiben.

»Heul du nur zu!« dachte Theobald, »deine Musik hat das Schauerliche für mich verloren – bis auf weiteres.«

Leise vor sich hinpfeifend, stand er auf, holte ein Buch herbei, setzte sich neben die Mutter hin und begann ihr vorzulesen, wie sie es liebte. Sie nahm eine Näharbeit zur Hand und hörte, ganz Freude und ganz Aufmerksamkeit, dem Sohne zu, der so schön und so eindrucksvoll vorlas. Das war ein Abend wie schon lange keiner.

Nächsten Tages löste er seinen Winterrock aus und spottete nun der Kälte, die dem Sturme gefolgt war.

Und Fräulein Erna hatte auch nicht in den Wind geredet: die Anträge auf Stundenerteilung kamen. Gutbezahlte Stunden. Und taktvolle Leute. Die Jungens ausgesuchte Dummlinge, aber seelengute Kerle.

Klopfenden Herzens hatte er ihr bei schicklicher Gelegenheit gedankt, der guten Fee in seiner Not, und war glückselig erschrocken über den holden Klang ihrer Stimme, die er zum erstenmal zu hören bekam. Und hatte scharf gespäht und siegeskühn gehofft, ihre Wangen würden jäh erglühen, süß verräterisch erglühen; aber sie blieben wie sie waren – um einen Schatten bleicher wurden sie eher. Da war er still und nachdenklich von ihr gegangen und blieb still und nachdenklich die ganzen Wochen hindurch, bis endlich die Zeit seligen Gebens herangekommen war – die Weihnachtszeit.

Einiges Geld hatte er sich ja abgezwackt. Klein nur konnte die Gabe für Mütterchen werden – aber er wußte: ihre Freude war groß auf alle Fälle.

Unter dem Geläute der Weihnachtsglocken ging er am heiligen Abend heim. Leicht war sein Gepäck, aber voll sein Herz. Frohgemut blickte er auf zu den Sternen. Ob wohl auch der Stern seiner Hoffnung aufgehn – und ob er Verkünder sein werde der Sonne seines Glückes ... Gott weiß es! Gott füg es!

Unten sah er noch flüchtig auf seine Uhr, die er nach einigen Semestern eifrigen »Studierens« wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt hatte. Es stimmte: sieben Uhr. Früher durfte er nicht kommen, hatte die Mutter feierlich geboten – und wieder so eigen gelächelt. Dabei zeigte sie die Grübchen auf den Wangen, die es einst seinem Vater angetan hatten.

Als er in den kleinen Vorraum trat, schimmerte durch die Türspalten Lichterglanz. Er klopfte. Die Mutter öffnete und meldete wichtig und geheimnisvoll: das Christkind sei gekommen.

Staunend sah er den Baum stehn, der größer war und reicher, als er hoffen konnte. Weh und wohl wurde ihm dabei ums Herz – ist's Ernas Christkind? Kommt sie vielleicht heute selbst herauf und gibt das Herrlichste, das ihm auf Erden beschieden werden konnte?

Unbemerkt legte er seine Gaben neben die andern, die geheimnisvoll verdeckt waren, unter den Baum; beklommen sah er die Mutter an, die offenbar etwas sagen wollte, was ihr leicht vom Herzen, aber schwer über die Lippen ging. Die leuchtenden Augen kündeten es an, die zuckenden Finger redeten es schon.

»Was ist's?« fragte er unvermittelt und seine Stimme bebte.
 
»Fräulein Erna hat uns etwas gebracht,« sagte sie darauf stockend.

»Fräulein Erna?« Wieder war es Freud und Scham, Zorn und Jubel, was ihn durchstürmte und quälte.

»Ja, Theobald, etwas, was du, was wir alle nicht erwarten konnten, nicht erhoffen durften: Liebe und Versöhnung ...«

Da trat aus dem verhängten Alkoven – der Onkel hervor, mehr verlegen als freudig bewegt.

»Du!! Du hier!?« Freundlich klang das nicht.

»Ja, Theobald, ich. Fräulein Erna ist zu mir gekommen wie ein guter Engel. Sie hat mich bekriegt und besiegt, gedemütigt und beschämt. Aber sie hat mich auch emporgehoben und mir Freude gegeben. Und so bin ich denn da und bitte dich, mir zu glauben, was ich sage. Wie es um euch steht, hab ich erst durch sie erfahren. Und hätt' ich's gewußt – wer weiß! Kurz, sie hat's zustande gebracht. Theobald, laß alles vergessen und laß uns wieder gut Freund sein. Gegenseitig wollen wir wieder alles gut machen aneinander. Und dann« – man sah's ihm an, wie es steinschwer und widerwillig aus seinem Innern heraufkroch – »und dann – ich bitte dich, verzeih mir, was ich deinem Vater und dir angetan hab!« Da war er doch weicher geworden, als er hätte zeigen wollen. Aber Erna hat ihn ja so gründlich zermürbt!

Rasch streckte er Theobald beide Hände hin. Und jäh und herzhaft, wie es seiner leidenschaftlichen Natur eigen war, griff der Neffe danach. Ein warmer kräftiger Druck, ein tiefes Versenken der Augenpaare – und alles war begraben und vergeben.

»Ich dank dir,« sagte der Onkel sodann ganz bewegt. Dann setzte er im Tone der Bewunderung hinzu: »So hat sie also doch recht gehabt, die Fräuln Erna! Sie hat gesagt, du wirst mir ohne viel Wesens zu machen die Hand reichen, denn du bist nicht nur stolz, hat sie gesagt, sondern auch gut.«

»Das hat sie gesagt?« Rasch ging er zum Baume, zog die Hüllen weg und besah sich unter lebhaften überlauten Worten die Geschenke.

Die Mutter hatte den überstürzten Abbruch des gefürchteten Zwiegespräches wohl bemerkt, sagte aber weiter kein Wort. Sie lächelte nur still vor sich hin, umspielt und umschwirrt von heiteren sonnigen Zukunftsgedanken – einer schöner als der andere.

Theobald musterte die Geschenke und dachte: »Reiche Geschenke, schöne Geschenke, überaus kostbar, überaus praktisch – aber alle, alle vom Onkel, keines von ihr ...« Schnell sah er das Unmögliche einer solchen Handlungsweise des feinen taktvollen Mädchens ein und tröstete sich mit dem Gedanken: es käme doch schließlich alles von ihr und durch sie.

Das gab ihm die Seelenruhe wieder. In heiterem Gespräch und mit noch froheren Gedanken verbrachte er den Abend mit Mutter und Onkel, der ganz verwandelt schien und nicht einmal eins über den Durst trank, wiewohl er reichlich vorgesorgt hatte, daß es einen guten Tropfen gab. Diese Selbstüberwindung war bewunderungswürdig.

Mit dem Entschlusse, nächsten Morgen zur schicklichen Stunde hinabzugehn zu ihr und ihr zu danken, schlief Theobald ein. Er hätte nicht sagen können, wann die Gebilde seiner glückbeflügelten Phantasie abgelöst wurden von den Gebilden des Traumes und welche schöner und glückverheißender waren.

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