lifedays-seite

moment in time



Literatur

04.2



Gedichte der Gefangenen

Erich Toller
Ein Sonettenkreis





PFADE ZUR WELT
 
Wir leben fremd den lauten Dingen,
Die um die Menge fiebernd kreisen,
Wir wandern in den stilleren Geleisen
Und lauschen dem Verborgnen, dem Geringen.
 
Wir sind dem letzten Regentropfen hingegeben,
Den Farbentupfen rundgeschliffner Kieselsteine,
Ein guter Blick des Wächters auslöscht das Gemeine,
Wir fühlen noch im rohen Worte brüderliches Leben.
 
Ein Grashalm offenbart des Kosmos reiche Fülle,
Die welke Blume rührt uns wie ein krankes Kind,
Der bunte Kot der Vögel ist nur eine Hülle
 
Des namenlosen Alls, dem wir verwoben sind.
Ein Wind weht menschlich Lachen aus der Ferne,
Und uns berauscht die hymnische Musik der Sterne.

zurück


 


SCHWANGERES MÄDCHEN AUF
DEM GEFÄNGNISHOF

Du schreitest wunderbar im Glast der mittaglichen
Stunde,
Um deine Brüste rauscht der reife Wind,
Ein Lichtbach über deinen Nacken rinnt!
Oh, Hyazinthen blühen süß auf deinem Munde!
 
Du bist ein Wunderkelch der gnadenreichen
Empfängnis liebestrunkner Nacht,
Du bist von Lerchenliedern überdacht,
Und deine Last ist köstlich ohnegleichen.
 
Wer wird die Hand dir halten am verheißnen Tag,
Da Mutterwehen wimmern zitternde Spiralen?
Ich seh dein Auge, das vom rohen Wort erschrak.
 
Ich seh hinwelken deine Hüften in den fahlen
Jahren der Gefangenschaft. Ich seh die Wärterin, die
ohne Scham
Das heimatlose Kind von deinen vollen Brüsten nahm.

zurück





DÄMMERUNG
(Romain Rolland dankbar)

Am frühen Abend lischt das Leuchten deiner Zelle,
Von grauen Wänden gleiten schlanke Schatten,
Wer trotzig schrie, wird träumerisch ermatten,
Die braune Stille schwingt wie eine milde Welle.
 
Und oft erfüllt den engen Raum opalne Helle,
Gestalten deines Herzens locken dich zu heitrem Reigen,
Da wird ein Tanz im schweren Mantel Schweigen,
Da wird ein bunter Klang im dämmernden Gefälle.
 
Dein Atem ist ein Ruf, ein einziger Ruf!
Die Wächter schlürfen durch die Gänge, scheele Gäste.
Du bist so reich und ludst sie ein zum Feste,
 
Das dir Genosse Abend schuf.
Doch grämlich drücken sie ans Guckloch trockne
Schläfe . . .
Es ist kein Ruf, der ihre Herzen träfe.

zurück




VERWEILEN UM MITTERNACHT

Um Mitternacht erwachst du. Glocken fallen
Wie Stürme an die Schwelle deines Traums.
Unendlich schwingt das Leben im Gefäß des Raums,
Ob allen Sternen muß sein Herzschlag hallen.
 
Es steigen an die Klänge, die sich runden.
Die alte Stadt fühlt hilflos die gewordne Zeit,
Sie beugt sich tief: sie ist bereit.
In Schoß der Quelle einzumünden.
 
Hinschwingt ein letzter Klang in ferne Sphären.
Der Wandernde verweilt und lauscht:
Nur tiefer Stille wird Gebären,
 
Wer in der Erde wurzelt, rauscht.
Aus Stunden formt sich Antlitz gen die Zeiten
Und schwebt im Licht der Ewigkeiten.

zurück



NÄCHTE

Die Nächte bergen stilles Weinen,
Es pocht wie schüchtern Kindertritt an deine Wand,
Du lauschst erschreckt: Will jemand deine Hand?
Und weißt: Du reichst sie nur den Steinen.
 
Die Nächte bergen Trotz und Stöhnen,
Und wilde Sucht nach einer Frau,
Die Not des Blutes bleicht dich grau,
Aus Träumen blecken Fratzen, die dich höhnen.
 
Die Nächte bergen niegesungne Lieder,
In Nachttau blühn sie, samtne Schmetterlinge,
Sie küssen die verborgnen Dinge,
 
Du willst sie haschen und sie sind verweht,
Kein Weg ist, der zu ihnen geht.
Nie hörst du ihre Melodien wieder.

zurück




NOVEMBER

Wie tote ausgebrannte Augen sind die schwarzen
Fensterhöhlen
Im Dämmerabend der verhangenen Novembertage,
Wie Flüche wider Gott, hilflose Klage
Wider die Zwingherrn der verruchten Höhlen.
 
Die Städte sind sehr fern, darin die Menschen leben.
Ein Knäuel würgt die Kehle dir, ein Grauen
Betastet deine Glieder. Wer wird Freiheit schauen?
Wenn endlich wird sich dieses müde Sklavenvolk
erheben?
 
Oh, niemand löscht die Stunden der Gefängnishöfe, die
in wirren
Träumen uns gleich Fieberlarven schrecken, antlitzlosen,
Wir sind verdammt von Anbeginn, wir müssen wie
Leprosen,
 
Unstete, durch die Jahre unsrer Jugend irren.
Was ist das Leben uns? Ein formlos farbenleer
Verfließen. . .
Und gnädig sind die Nächte, die wie Särge uns
umschließen.

zurück






weiter






   lifedays-seite - moment in time