Gedichte
Erich Toller
Das
Schwalbenbuch
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Das
Schwalbenbuch
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Seite 1
Gewachsen
1922 -
Geschrieben 1923
Festungsgefängnis
Niederschönenfeld
In
meiner
Zelle
nisteten
im Jahre 1922
zwei
Schwalben
Die
Gitter hielten Totenwacht
Ein
Freund starb in der Nacht.
Allein.
Die
Gitter hielten Totenwacht.
Bald
kommt der Herbst.
Es
brennt, es brennt ein tiefes Weh.
Verlassenheit.
O
dumpfer Sang unendlicher Monotonie!
O
ewiges Einerlei farblos zerrinnender Tage!
Immer
Wird
ein Tag sein
Wie
der letzte,
Wie
der nächste,
Immer.
Zeit
ist ein grauer Nebel. Der setzte sich in die
Poren
Deiner
unendlichen Sehnsucht.
Das
Stückchen blauer Himmel ist gespießt von rostigen
Die
aus dem Gitterloch Deiner Zelle aufbrachen,
Wanderten
Zu
Wanderten
. . .
Erst
wehrtest Du Dich,
Aber
die Gitterstäbe waren stärker als Du.
Nun
wachsen sie in Deinen Augen,
Und
wohin Du blickst,
Überall
Überall
siehst Du Gitterstäbe.
Noch
das Kind, das im fernen, ach so fernen lupinen-
Ist
gezwängt in die Gitterstäbe Deiner Augen.
Deine
Nächte, Deine Traumnächte verzweifelte Harle-
Deine
Nägel kratzen am Sargdeckel tauber Verlassenheit.
Nirgends
blüht das Wunder.
Musik
ist
Wälder
sind
Frauen
sind
Es
blüht irgendwo die Geberde eines sanft
sich
biegenden Nackens
Es
wartet irgendwo eine Hand, die sehr
zärtlich
ist und voll süßester Wärme
Nirgends
blüht das
Wunder.
Kalt
wurde
das Buch in meiner Hand,
So
kalt, so
kalt.
Die
schwarzen Lettern schwarze Berge, die zu wandern
begannen
im
Geäder meines Herzens.
Die
raschelnden Blätter Schneefelder am Nordpol endloser
Ich
friere.
Die
Welt gerinnt.
Es
muß schön sein einzuschlafen jetzt,
Kristall
zu werden im zeitlosen Eismeer des Schweigens.
Genosse
Tod.
Genosse,
Genosse . . .
Zirizi
Zirizi Zirizi
Zizizi
Urrr
Daß
man, nahe der dunklen Schwelle,
Solche
Melodie vernimmt, so irdischen Jubels, so
irdischer
Klage
trunken . . .
Träume,
meine Seele, träume,
Lerne
träumen den Traum der Ewigkeit.
Zirizi Zirizi
Zirizi
Zizizi
Urrr
Fort
fort, Genosse Tod, fort fort,
Ein
andermal, später, viel später.
Über
mir über mir,
Auf
dem Holzrahmen des halbgeöffneten Gitterfensters,
das
in meine Zelle sich
neigt in erstarrter
Steife,
so als ob es sich betrunken hätte
und
im Torkeln gebannt ward von einem
hypnotischen
Blick.
Sitzt
Ein
Schwalbenpärchen.
Sitzt,
Wiegt
sich! wiegt sich!
Tanzt!
tanzt! tanzt!
Weichet
zurück Ihr schwarzen Berge! schmelzet Ihr
Schneefelder!
Sonne
Sonne, zerglühe sie! zerglühe sie!
Welche
Landschaft wächst aus den verstaubten melan-
cholischen
Zellenecken?
Tropische
Felder, Farbenrausch sich entfaltender Orchi-
deen!
Regina
Noctis! –
Und
darüber darüber
Mein
Schwalbenpaar.
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