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04.3
Die
Nacht der Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
In
dem Zimmer, neben welchem wir Knaben zu schlafen pflegten,
hing ein menschliches Skelett. In der Nacht pflegte die Brise, die
durch das
geöffnete Fenster hereinstrich, mit seinen Knochen zu rasseln. Am Tage
rasselten wir mit diesen Knochen. Wir hatten Osteologie bei einem
Studenten der
Medizin, denn unser Vormund war entschlossen, uns in alle
Wissenschaften
einzuweihen. Wieweit es ihm gelang, brauchen wir denen, die uns kennen,
nicht
zu sagen, und den andern bleibt es besser ein Geheimnis.
Viele
Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen ist das
Skelett aus dem Zimmer verschwunden und auch die Osteologie aus unserm
Gehirn,
ohne eine Spur zurückzulassen.
Neulich
war das Haus voll von Gästen, und ich mußte
die Nacht in demselben alten Zimmer zubringen. Der Schlaf wollte in
dieser
ungewohnten Umgebung
nicht kommen, und während ich
mich ruhelos von einer Seite auf die andere warf, hörte ich die
Kirchenuhr in
der Nähe eine Stunde nach der andern schlagen. Das Licht der Nachtlampe
in der
Ecke wurde immer matter, endlich sprühte und flackerte es noch ein
paarmal auf
und ging dann ganz aus.
Wir
hatten kürzlich mehrere Verluste in der Familie
gehabt, so war es natürlich, daß das Erlöschen der Lampe mich auf
Todesgedanken
brachte. Ich stellte die Betrachtung an, daß es in der großen Arena der
Natur
doch eigentlich derselbe Vorgang sei, wenn eine Lampe erlischt, und
wenn das
Lichtlein eines Menschenlebens sich in ewiges Dunkel verliert.
Meine
Gedanken riefen das Skelett wieder in meiner
Erinnerung wach. Während ich versuchte mir vorzustellen, wie der Leib,
der es
einst umhüllt hatte, wohl ausgesehen haben könnte, war es mir
plötzlich, als ob
etwas immer um mein Bett herumginge, wobei es an den Wänden entlang
tastete.
Ich konnte sein rasches Atmen hören. Es schien nach etwas zu suchen,
was es
nicht finden konnte, und es ging mit immer hastigeren Schritten im
Zimmer
umher. Ich war
ganz sicher, daß dies alles nur eine
Einbildung meines schlaflosen, aufgeregten Hirns war und daß, was mir
als
laufende Tritte erschien, in Wahrheit das Pochen der Adern in meinen
Schläfen
war. Doch trotzdem überlief es mich kalt. Um diese Halluzination
loszuwerden,
rief ich laut: „Wer ist da?“ Die Tritte schienen neben meinem Bett
anzuhalten,
und jemand antwortete: „Ich bin es. Ich bin gekommen, um mich nach
meinem
Skelett umzusehen.“
Es
wäre doch lächerlich gewesen, einem Geschöpf meiner
Einbildung gegenüber Furcht zu zeigen; daher sagte ich – indem ich
aber
doch die Bettdecke etwas fester faßte – mit erheuchelter Ruhe:
„Eine nette
Beschäftigung zu dieser nächtlichen Stunde! Was wollen Sie denn mit dem
Skelett
anfangen?“
Die
Antwort schien fast unmittelbar aus meinem
Moskito-Vorhang zu kommen. „Welche Frage! In dem Skelett waren die
Knochen, die
mein Herz einschlossen; der jugendliche Reiz meiner sechsundzwanzig
Jahre
umblühte es. Sollte ich nicht den Wunsch haben, es noch einmal zu
sehen?“
„Gewiß,“
sagte ich, „das
ist ein ganz berechtigter Wunsch. Suchen Sie nur weiter, während ich
versuche,
etwas zu schlafen.“
Die
Stimme sagte: „Aber ich glaube, Sie sind einsam.
Nun, da werde ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen, und wir wollen ein
wenig
plaudern. Vor Jahren pflegte ich so bei Menschen zu sitzen und mich mit
ihnen
zu unterhalten. Aber während der letzten fünfunddreißig Jahre habe ich
nur auf
den Verbrennungsplätzen der Toten im Winde gestöhnt. Ich möchte gern
einmal wie
in früheren Zeiten mit einem Menschen plaudern.“
Ich
fühlte, wie sich jemand ganz dicht bei meinem
Vorhang niedersetzte. So ergab ich mich denn in diese Situation und
erwiderte
mit soviel Herzlichkeit, wie ich aufbringen konnte: „Ja, das wird sehr
nett
sein. Lassen Sie uns von etwas Lustigem reden.“
„Das
Lustigste, was ich kenne, ist meine eigene
Lebensgeschichte. Die will ich Ihnen erzählen.“
Die
Kirchenuhr schlug die zweite Stunde.
„Als
ich noch im Lande der Lebendigen und jung war, fürchtete
ich eins wie den Tod selbst, und
das war mein Gatte.
Was ich fühlte, läßt sich nur mit dem vergleichen, was ein Fisch
empfindet, der
an einem Angelhaken gefangen ist. Denn es war, als hätte mich ein
Fremder mit
dem schärfsten aller Haken aus dem friedlich stillen Heim meiner
Kindheit
gerissen – und ich hatte kein Mittel, ihm zu entrinnen. Mein Gatte
starb
zwei Monate nach unsrer Heirat, und meine Freunde und Verwandten
beklagten mich
mit vielem Pathos. Der Vater meines Gatten aber, nachdem er mir lange
forschend
ins Gesicht geblickt hatte, sagte zu meiner Schwiegermutter: ‚Siehst du
nicht,
daß sie den bösen Blick hat?‘ – Nun, hören Sie auch zu? Ich hoffe,
Sie
finden die Geschichte unterhaltend?“
„Sehr
unterhaltend“, sagte ich. „Der Anfang ist wirklich
äußerst lustig.“
„Lassen
Sie mich also fortfahren. Ich war sehr froh,
als ich wieder in meines Vaters Haus zurückkam. Die Leute versuchten,
es mich
nicht merken zu lassen, aber ich wußte wohl, daß ich von der Natur mit
einer
seltenen, blendenden Schönheit ausgestattet war. Was meinen Sie?“
„Ich
glaube es wohl“, murmelte ich. „Aber Sie müssen
bedenken, daß ich Sie nie gesehen habe.“
„Was?
Sie haben mich nicht
gesehen? Und mein Skelett? Hahaha! Nun gut. Ich scherzte nur. Wie kann
ich Sie
je davon überzeugen, daß jene zwei höhlenartigen Löcher das
strahlendste
dunkle, schmachtende Augenpaar enthielten? Und daß die grinsenden
Zähne, die
Sie zu sehen pflegten, nichts ahnen ließen von dem Lächeln, das jene
rubinroten
Lippen umspielte? Wenn ich nur versuche, Ihnen eine Vorstellung zu
geben von
der Anmut, dem Reiz, der in der Fülle der Jugend in weichen, wundervoll
geschwungenen Linien jene trocknen alten Knochen umwuchs und umblühte,
so muß
ich lächeln. Aber es macht mich auch zornig. Die hervorragendsten Ärzte
meiner
Zeit hätten sich nicht träumen lassen, daß meine Knochen dazu gut
seien, um
Osteologie daran zu lernen. Wissen Sie, daß ein junger Arzt, den ich
kannte,
mich tatsächlich mit einer goldenen Tschampakblüte verglich? Er meinte,
daß die
ganze übrige Welt nur der Kelch sei, der die Blüte meiner Schönheit
umschloß.
Denkt irgend jemand bei dem Skelett an eine Tschampakblüte?
Wenn
ich ging, so hatte ich das Gefühl, daß, wie ein
Diamant Glanz um sich verbreitet, jede meiner
Bewegungen nach allen Seiten Wellen von Schönheit ausstrahlte. Ich
konnte
stundenlang meine Hände betrachten – Hände, die spielend leicht
den
unbändigsten aller Männer gezügelt hätten.
Aber
jenes starre, starrende alte Gerippe hat falsch
Zeugnis von mir abgelegt, während ich unfähig war, die schamlose
Verleumdung
zurückzuweisen. Darum hasse ich von allen Menschen Sie am meisten! Ich
möchte
durch ein Traumbild von meiner einstigen lebenswarmen Schönheit auf
immer allen
Schlaf aus Ihren Augen bannen und mit ihm den ganzen osteologischen
Krimskrams,
mit dem Ihr Hirn angefüllt ist.“
„Ich
könnte bei Ihrem Leibe schwören, wenn Sie ihn
noch hätten,“ rief ich aus, „daß auch keine Spur von Osteologie mehr in
meinem
Kopf ist, und daß das einzige, was ihn jetzt erfüllt, ein strahlendes
Bild
vollkommener Schönheit ist, das sich leuchtend vom schwarzen
Hintergrund der
Nacht abhebt. Das ist alles, was ich sagen kann.“
„Ich
hatte keine weiblichen Gefährten“, fuhr die
Stimme fort. „Mein einziger Bruder war entschlossen, nicht zu heiraten.
Im
Frauengemach war
ich allein. Allein pflegte ich im
Garten zu sitzen, im Schatten der Bäume, und zu träumen, daß die ganze
Welt in
mich verliebt sei; daß die Sterne schlaflos mit durstigen Blicken meine
Schönheit tränken, daß der Wind schmachtende Seufzer ausstieße, wenn er
unter
irgendeinem Vorwande an mir vorbeistrich, und daß der Rasen, auf dem
meine Füße
ruhten, wenn er Bewußtsein gehabt, es bei ihrer Berührung wieder
verloren
hätte. Ich träumte, daß alle jungen Männer in der ganzen Welt wie
Grashalme zu
meinen Füßen lägen; und mein Herz wurde von einer unbestimmten
Traurigkeit
erfaßt.
Als
meines Bruders Freund Schekhar seine medizinischen
Studien beendet hatte, wurde er unser Hausarzt. Ich hatte ihn schon oft
durch
einen Spalt des Vorhangs gesehen. Mein Bruder war ein Sonderling und
mochte die
Welt nicht mit offenen Augen ansehen. Sie war ihm zu bunt und kraus.
Und so
rückte er allmählich immer mehr von ihr ab, bis er ganz allein in einer
dunklen
Ecke saß. Schekhar war sein einziger Freund und daher der einzige junge
Mann,
den ich je zu sehen bekam. Und wenn ich des Abends im Garten meinen Hof
hielt,
so war das ganze Heer
von eingebildeten Anbetern,
die zu meinen Füßen lagen, jeder ein Schekhar. – Hören Sie zu?
Woran
denken Sie?“
Ich
erwiderte mit einem Seufzer: „Ich wünschte eben,
ich wäre Schekhar.“
„Warten
Sie ein Weilchen. Hören Sie erst die
Geschichte zu Ende. Eines Tages, in der Regenzeit, bekam ich Fieber.
Der Arzt
kam, um nach mir zu sehen. Das war unsre erste Begegnung. Ich lag dem
Fenster
gegenüber, so daß der rosige Abglanz des Abendhimmels auf mein blasses
Antlitz
fallen mußte. Als der Doktor eintrat und mich anblickte, versetzte ich
mich an
seine Stelle und betrachtete mich selbst. Ich sah im herrlichen
Abendlicht das
zarte blasse Gesicht wie eine welke Blume auf dem weichen, weißen
Kissen
liegen, während die Locken lose um die Stirn fielen und die schüchtern
gesenkten Lider dem ganzen Gesicht einen rührenden Ausdruck gaben.
Der
Doktor fragte in zaghaft leisem Tone meinen
Bruder: ‚Dürfte ich wohl ihren Puls fühlen?‘
Ich
zog ein müdes, schön geformtes Handgelenk unter
der Decke hervor. ‚Ach,‘ dachte ich, als ich darauf blickte, ‚könnte
ich
doch nur
ein Saphirarmband daran haben[5].‘
Ich habe nie gesehen, daß ein Doktor sich so ungeschickt anstellte,
wenn er den
Puls eines Patienten fühlte. Seine Finger zitterten, als sie mein
Handgelenk
faßten. Er maß mein Fieber und ich seinen Herzschlag. – Glauben
Sie mir
das nicht?“
„Das
glaube ich Ihnen gern,“ sagte ich, „der
Herzschlag des Menschen ist verräterisch.“
„Nachdem
ich mehrmals erkrankt und wiederhergestellt
war, bemerkte ich, daß die Zahl der Höflinge, von denen ich des Abends
im
Garten träumte, bald auf einen einzigen zusammengeschmolzen war. Und
zuletzt
bestand meine kleine Welt nur noch aus einem Doktor und einem
Patienten.
An
solchen Abenden kleidete ich mich heimlich in einen
goldgelben Sari, wand um den Knoten, in den ich mein Haar schlang,
einen Kranz
von weißen Jasminblüten und begab mich, mit einem kleinen Spiegel in
der Hand,
zu meinem gewohnten Platz unter den Bäumen.
Nun,
glauben Sie etwa, daß man es bald müde wird,
seine eigene Schönheit anzustaunen? Ach
nein! Ich
sah mich gar nicht mit meinen eigenen Augen. Ich war damals ein
Doppelwesen.
Ich sah mich, als ob ich der Doktor wäre; ich starrte mich an, war
entzückt,
verliebte mich zum Wahnsinn. Aber trotz all der Liebkosungen, mit denen
ich
mich überhäufte, irrte doch ein Seufzer in meinem Herzen umher, wie der
ruhelose Nachtwind.
Jedenfalls
war ich von dieser Zeit ab nie mehr allein.
Wenn ich ging, beobachtete ich mit gesenkten Lidern das Spiel meiner
zarten
kleinen Zehen auf der Erde und fragte mich, was der Doktor wohl sagen
würde,
wenn er es sehen könnte. Am Mittag, wenn die Luft von Sonnenglut
erfüllt war
und nichts zu hören als hin und wieder der ferne Ruf einer Gabelweihe;
wenn
draußen an unsrer Gartenmauer der Händler vorüberging mit seinem
singenden Ruf:
‚Kauft Ringe, kristallene Ringe!‘, dann breitete ich ein schneeweißes
Tuch auf
den Rasen und legte mich darauf, den Kopf auf den Arm gestützt. Mit
gesuchter
Nachlässigkeit ruhte der andere Arm leicht auf dem weichen Tuch, und
dann
stellte ich mir vor, jemand erblickte mich in dieser wundervollen Pose,
ergriffe meine Hand mit beiden
Händen ehrfürchtig,
drückte einen Kuß auf ihre rosige Fläche und ginge dann langsam
fort. –
Wie wäre es wenn ich die Geschichte hier enden ließe? Wie würde sie
Ihnen gefallen?“
„Das
wäre kein schlechter Abschluß“, erwiderte ich
nachdenklich. „Sie würde zwar nicht ganz vollständig sein, aber ich
könnte ja
leicht den Rest der Nacht damit zubringen, sie irgendwie abzurunden.“
„Aber
auf diese Weise würde die Geschichte zu ernst.
Wo bliebe das Lustige dabei? Und wo bliebe das Skelett mit seinen
grinsenden
Zähnen?
Lassen
Sie mich daher fortfahren. Sobald der Doktor
eine kleine Praxis hatte, mietete er im Erdgeschosse unseres Hauses ein
Zimmer
als Sprechzimmer. Ich befragte ihn damals mitunter im Scherz über
Medizinen und
Gifte, und wieviel von dieser oder jener Arznei dazu gehören würde, um
einen
Menschen zu töten. Dieser Gegenstand interessierte ihn, und er wurde
beredt.
Durch solche Gespräche wurde ich mit dem Gedanken an den Tod vertraut,
und so
waren Liebe und Tod die beiden Dinge, die meine kleine Welt
ausfüllten. –
Meine Geschichte ist jetzt bald zu Ende. Es ist nicht viel mehr übrig.“
„Von
der Nacht ist auch
nicht viel mehr übrig“, murmelte ich.
„Nach
einiger Zeit bemerkte ich, daß der Doktor
merkwürdig zerstreut geworden war, und es schien, als ob er mir etwas
zu
verbergen suchte, dessen er sich schämte. Eines Tages kam er herein. Er
war
sorgfältiger als gewöhnlich gekleidet und lieh sich meines Bruders
Wagen für
den Abend.
Ich
konnte meine Neugier nicht länger bezwingen und
ging hinauf zu meinem Bruder, um zu erfahren, was der Doktor vorhatte.
Nachdem
ich erst über andere Dinge geredet hatte, fragte ich ihn endlich:
‚Übrigens,
Dada[6],
wohin will der Doktor heute abend in deinem Wagen?‘
‚In
den Tod‘, antwortete mein Bruder kurz.
‚Ach,
sag' es mir doch‘, drängte ich. ‚Wohin will er
in Wirklichkeit?‘
‚Er
will sich verheiraten‘, war die etwas deutlichere
Antwort.
‚Ach,
wirklich!‘ sagte ich und brach in ein langes,
lautes Gelächter aus.
Ich
erfuhr allmählich, daß die Braut eine reiche Erbin
sei, die dem Doktor ein großes Vermögen mitbringen
würde. Aber warum kränkte er mich, indem er mir dies alles verbarg?
Hatte ich
ihn je gefleht und gebeten, sich nicht zu verheiraten, weil es mir das
Herz
brechen würde? Man darf den Männern nie trauen. Ich hatte in meinem
Leben nur
einem einzigen Manne getraut, und nun machte ich diese Entdeckung.
Als
der Doktor nach getaner Arbeit hereinkam und im
Begriff war aufzubrechen, sagte ich lachend zu ihm: ‚Nun Doktor, Sie
wollen
sich heute abend verheiraten?‘
Meine
Heiterkeit brachte ihn nicht nur aus der
Fassung, sie verletzte ihn auch.
‚Aber
wie kommt es denn,‘ fuhr ich fort, ‚daß wir
keine Illumination und keine Musikkapelle haben?‘
Er
erwiderte mit einem Seufzer: ‚Ist eine Hochzeit
denn ein so froher Anlaß?‘
Ich
brach in ein erneutes Gelächter aus. ‚Nein, nein,‘
rief ich, ‚dies geht wirklich nicht. Hat man je von einer Hochzeit ohne
Lichter
und Musik gehört?‘
Ich
quälte meinen Bruder so sehr, daß er sofort alles
bestellte, was zu einer vergnügten Hochzeit gehört.
Die
ganze Zeit schwatzte
ich in einem fort lustig von der Braut, von dem bevorstehenden Fest und
was ich
tun wollte, wenn die Braut ins Haus käme. ‚Und, Doktor,‘ fragte ich,
‚werden
Sie nun noch fortfahren, den Leuten den Puls zu fühlen?‘ Hahaha! Wenn
man auch
nicht sehen kann, was in einem Menschen, besonders in einem Mann,
vorgeht, so
will ich doch darauf schwören, daß meine Worte den Doktor wie
Dolchstöße ins
Herz trafen.
Die
Hochzeitsfeierlichkeit sollte spät am Abend
stattfinden. Bevor der Doktor aufbrach, sollte er mit meinem Bruder
draußen auf
der Terrasse ein Glas Wein trinken, wie sie es alle Tage zu tun
pflegten. Der
Mond war gerade aufgegangen.
Ich
kam lächelnd zu ihnen und sagte: ‚Haben Sie denn
Ihre Hochzeit vergessen, Doktor? Es ist Zeit aufzubrechen.‘
Ich
muß hier noch eine Kleinigkeit erwähnen. Ich war
inzwischen in die Apotheke hinunter gegangen und hatte ein kleines
Pulver
geholt, das ich unbemerkt in des Doktors Glas geschüttet hatte.
Der
Doktor leerte sein Glas auf einen Zug und
sagte dann mit vor Erregung erstickter Stimme und mit
einem Blick, der mir in die Seele schnitt: ‚Dann muß ich fort.‘
Die
Musik begann zu spielen. Ich ging in mein Zimmer
und kleidete mich in meine Brautgewänder von Seide und Gold. Ich nahm
meine
Juwelen und Schmucksachen aus dem verschlossenen Schrank und legte sie
alle an;
ich malte das rote Abzeichen meiner Frauenwürde auf den Scheitel meines
Haares.
Und dann bereitete ich mir unter dem Baum im Garten mein Lager.
Es
war eine wundervolle Nacht. Der sanfte Südwind
küßte die Müdigkeit der Welt hinweg. Der Duft des Jasmins und der
Quittenblüten
füllte den Garten mit berauschender Freude.
Als
die Klänge der Musik leiser und leiser wurden und
das Licht des Mondes blasser und blasser; als die Welt mit ihren
altvertrauten
Vorstellungen von Heim und Verwandten meinem Bewußtsein wie ein Traum
zu
entschwinden begann, – da schloß ich die Augen und lächelte.
Ich
glaubte, daß, wenn die Leute kommen und mich
finden würden, jenes Lächeln noch auf
meinen Lippen
weilen würde wie die Spur von rotem Wein, das ich jenes Lächeln mit mir
nehmen
und das es mein Antlitz verklären würde, wenn ich so hinüberschlummerte
in mein
ewiges Brautgemach. Aber ach, wo blieb das Brautgemach? Wo die
Brautgewänder
von Seide und Gold?
Als
ich von einem rasselnden Geräusch in mir erwachte,
fand ich drei kleine Buben, die an meinem Skelett Osteologie lernten.
Wo einst
in meinem Busen Freude und Leid pochten und die Blütenknospen der
Jugend sich
eine nach der andern erschlossen, da war jetzt der Lehrer geschäftig
mit seinem
Zeigestock und zählte meine Knochen auf. Und jenes letzte Lächeln, das
ich mir
so sorgfältig einstudiert hatte, haben Sie davon eine Spur bemerkt?
Nun,
sagen Sie mir, wie gefällt Ihnen die Geschichte?“
„Sie
war wundervoll“, sagte ich.
In
diesem Augenblick begann der Hahn zu krähen. „Sind
Sie noch da?“ fragte ich. Niemand antwortete. Durchs Fenster dämmerte
der
Morgen.
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