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04.3
Die
Nacht der Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
I
Brindaban
Kundu kam wütend zu seinem Vater und sagte:
„Ich gehe jetzt auf der Stelle fort.“
„Du
elendes, undankbares Geschöpf!“ rief der Vater,
Dschagannath Kundu, verächtlich. „Wenn du mir alles bezahlt hast, was
ich für
deine Nahrung und Kleidung ausgegeben habe, dann ist es Zeit, so
großartig zu
tun.“
Die
Nahrung und Kleidung, die es in Dschagannaths
Hause zu geben pflegte, hatte nicht viel kosten können. Unsere alten
Weisen
wußten mit unglaublich wenig auszukommen. Dschagannaths Lebensweise
zeigte, daß
sein Ideal in dieser Beziehung dem ihren nicht nachgab. Wenn er es
ihnen nicht
ganz gleichtun konnte, so war zum Teil die Abhängigkeit von der
entarteten
Gesellschaft um ihn herum schuld daran, zum Teil waren es gewisse
unvernünftige
Forderungen der Natur, bei ihrem Bestreben, Leib und
Seele zusammenzuhalten.
Solange
Brindaban noch nicht verheiratet war, ging die
Sache ganz gut, aber nach seiner Verheiratung fing er an, dem Ideal
seines
Vaters untreu zu werden. Es war klar, daß des Sohnes Begriffe von
Wohlsein sich
immer mehr vom Geistigen ab dem Materiellen zuwandten und in das
Fahrwasser der
verderbten Welt gerieten. Er wollte das Unbehagen, das ihm Hitze und
Kälte,
Hunger und Durst verursachten, nicht länger geduldig hinnehmen. Das
Minimum,
das er an Nahrung und Kleidung brauchte, wuchs zusehends.
Vater
und Sohn gerieten immer häufiger aneinander.
Endlich
wurde Brindabans Frau ernstlich krank, und ein
Landarzt wurde gerufen. Aber als der Doktor eine teure Medizin für die
Kranke
verordnete, nahm Dschagannath dies als einen offenbaren Beweis seiner
Unfähigkeit und wies ihm ohne weiteres die Tür.
Zuerst
flehte Brindaban seinen Vater an, die
Behandlung doch nicht abzubrechen, dann wurde er heftig und machte ihm
Vorwürfe, aber es half alles nichts. Als seine Frau starb, schalt und
schmähte er seinen Vater und nannte ihn einen Mörder.
„Unsinn!“
sagte der Vater. „Sterben die Menschen denn
nicht auch, wenn sie alle möglichen Medizinen verschlucken? Wenn teure
Medizinen das Leben retten können, wie kommt es da, daß Könige und
Kaiser nicht
unsterblich sind? Du erwartest doch wohl nicht, daß deine Frau mit mehr
Pomp
und Feierlichkeit sterben soll als deine Mutter und deine Großmutter?“
Wäre
Brindaban nicht von Kummer überwältigt und zum
Denken ganz unfähig gewesen, so hätten ihm diese Worte wirklich einigen
Trost
geben können. Weder seine Mutter noch seine Großmutter hatten Medizin
genommen,
bevor sie dieser Welt Valet sagten, und so war es altehrwürdige
Gewohnheit in
der Familie.
Aber
ach, die jüngere Generation wollte nicht mehr
nach dieser alten Gewohnheit sterben! Die Engländer waren zu der Zeit,
in der
unsere Geschichte spielt, erst ins Land gekommen. Die guten alten
rechtgläubigen Leute waren damals entsetzt über die gottlose Art der
neuen
Generation; sie hockten stumm in ihrem Winkel und versuchten, aus ihren
langen
Wasserpfeifen Trost zu saugen.
Kurz
und gut, der moderne
Brindaban sagte zu seinem alten Kauz von Vater: „Ich gehe auf der
Stelle.“
Der
Vater war sogleich einverstanden und tat feierlich
den Wunsch: Sollte er in Zukunft seinem Sohne je einen einzigen Heller
geben,
so möchten die Götter ihm diese Tat anrechnen, als ob er das heilige
Blut von
Kühen vergossen hätte.
Brindaban
wünschte gleicherweise: Sollte er je etwas
von seinem Vater annehmen, so möchte ihm diese Tat wie ein Muttermord
angerechnet werden.
Für
die Leute im Dorf war diese kleine Revolution eine
erlösende Abwechslung in dem ewigen Einerlei ihres Lebens. Und als
Dschagannath
seinen Sohn enterbte, tat jeder sein Bestes, um ihn zu trösten. Nur in
einer so
entarteten Zeit konnte es geschehen, daß jemand sich um eines Weibes
willen mit
seinem Vater entzweite – darin waren sich alle einig. Und sie
gaben auch
einen sehr einleuchtenden Grund für ihre Ansicht: „Wenn einem sein Weib
stirbt,“ sagten sie, „so kann er sich gleich ein anderes suchen. Aber
wenn ihm
sein Vater stirbt, so kann er nicht für Geld oder gute Worte einen
anderen bekommen, der an seine Stelle träte.“
Ihre
Logik war zweifellos richtig, aber es ist zu
vermuten, daß die gänzliche Aussichtslosigkeit, einen anderen Vater zu
bekommen, den mißleiteten Sohn nicht sehr bekümmerte. Im Gegenteil.
Auch
dem Alten wurde die Trennung von Brindaban nicht
schwer. Zunächst einmal wurden die Haushaltsausgaben durch seine
Abwesenheit
geringer. Und dann wurde der Vater auch von einer großen Angst befreit,
die ihn
immer verfolgt hatte: von der Angst, sein Sohn und Erbe könne ihn eines
Tages
vergiften. Wenn er sein kärgliches Mahl aß, hatte er den Gedanken an
Gift nie
loswerden können. Nach dem Tode seiner Schwiegertochter hatte diese
Angst sich
etwas gemindert, und jetzt, da der Sohn fort war, verschwand sie ganz.
Aber
es gab eine weiche Stelle im Herzen des alten
Mannes. Brindaban hatte einen vierjährigen Sohn, Gokul Tschandra, mit
sich
genommen. Nun waren die Kosten für den Unterhalt des Kindes
verhältnismäßig
gering und konnten daher Dschagannaths Liebe zu ihm keinen Abbruch tun.
Doch
wenn sein Kummer, als Brindaban den Kleinen mit sich nahm, auch
aufrichtig war,
so mischte sich doch die Berechnung hinein, wieviel
er monatlich durch die Abwesenheit der beiden sparen würde, wieviel das
in
einem Jahr ausmachte und welches Kapital dazu gehören würde, um die
gleiche
Summe an Zinsen einzubringen.
Aber
es wurde dem Alten immer schwerer, in dem leeren
Hause, in dem kein Gokul Tschandra mehr Unfug trieb, zu leben. Jetzt
war
niemand mehr da, der ihm Streiche spielte, während er seine Gebete
sprach,
niemand, der ihm sein Essen wegriß und es aufaß, niemand, der mit
seinem
Tintenfaß davonlief, wenn er seine Rechnungsabschlüsse machte. Der
gewohnheitsmäßige Gang seines täglichen Lebens, der nun durch nichts
mehr
unterbrochen wurde, wurde ihm zur unerträglichen Last.
Er
fand, daß man solchen ungestörten Frieden nur in
der künftigen Welt ertragen könnte. Wenn er die Löcher erblickte, die
sein
Enkel in seine Bettdecke gerissen hatte, oder die Tintenzeichnungen auf
seiner
Binsenmatte, die von demselben Künstler herrührten, so wurde ihm das
Herz
schwer vor Kummer.
Einst
hatte er dem Jungen bittere Vorwürfe gemacht,
daß er sein Lendentuch in der kurzen Zeit von zwei Jahren zerrissen
hatte;
jetzt traten Dschagannath die Tränen in die Augen,
als er da im Schlafzimmer stand und die schmutzigen Überreste
anstarrte. Er
verwahrte sie sorgfältig in seiner Lade und tat ein feierliches
Gelübde: sollte
Gokul je zurückkommen, so wollte er nicht schelten, und wenn er auch
jedes Jahr
ein Lendentuch aufbrauchte.
Aber
Gokul kehrte nicht zurück, und der arme
Dschagannath alterte sehr schnell.
Sein
leeres Haus erschien ihm mit jedem Tage leerer.
Der
alte Mann hielt es nicht mehr still zu Hause aus.
Selbst in der Mittagszeit, wenn alle ehrbaren Leute im Dorf ihre
Mittagsruhe
genossen, dann sah man Dschagannath durchs Dorf wandern, die lange
Pfeife in
der Hand. Die Knaben hörten auf zu spielen, wenn sie ihn sahen, sie
zogen sich
geschlossen in sichere Entfernung zurück und sangen einen Vers, den ein
Dorfdichter verfaßt hatte und der die sparsamen Gewohnheiten des alten
Herrn
pries. Niemand wagte es, seinen wirklichen Namen zu nennen, aus Furcht,
an dem
Tage fasten zu müssen[7], und
so legten
die Leute ihm andere Namen bei. Die älteren Leute nannten ihn
Dschagannasch[8],
aber die jüngere Generation nannte ihn
einen Vampyr.
Vielleicht
hatte die blutlose, vertrocknete Haut des
Alten eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit der eines Vampyrs.
II
Eines
Nachmittags, als Dschagannath wie gewöhnlich die
von Mangobäumen überschatteten Dorfstraßen durchstreifte, sah er einen
Knaben,
augenscheinlich einen Fremden, der die Hauptmannschaft über die
Dorfknaben an
sich gerissen hatte und ihnen den Plan eines neuen Streiches
auseinandersetzte.
Durch die Energie seines Charakters und die verblüffende Neuheit seiner
Ideen
gewonnen, hatten die Knaben ihm alle als ihrem Oberhaupt gehuldigt. Im
Gegensatz zu den andern lief er nicht vor dem alten Mann davon, sondern
ging
dicht zu ihm heran und schüttelte aus seinem Tschadar[9] eine
lebendige Eidechse, die auf den
Alten sprang, an seinem Rücken hinablief und schnell
ins Gebüsch huschte. Der arme Mann zitterte vor Schreck am ganzen
Leibe, zur
großen Belustigung der andern Knaben, die vor Freude jubelten.
Dschagannath
ging scheltend und fluchend davon. Doch er war noch nicht weit
gegangen, als der
Gamtscha[10] plötzlich
von seiner Schulter
verschwand, und im nächsten Augenblick sah man ihn auf dem Kopf des
fremden
Jungen, in einen Turban verwandelt.
Die
neuen Aufmerksamkeiten dieses Bürschchens wirkten
befreiend auf Dschagannath. Es war lange her, seit irgendein Junge sich
so
etwas bei ihm herausgenommen hatte. Nach vielem guten Zureden und
allerlei
schönen Versprechungen gelang es ihm endlich, den Knaben zu bewegen, zu
ihm
heranzukommen, und nun entspann sich folgendes Gespräch zwischen ihnen:
„Wie
heißt du, mein Junge?“
„Nitai
Pal.“
„Wo
wohnst du?“
„Das
sage ich nicht.“
„Wer
ist dein Vater?“
„Das
sage ich nicht.“
„Warum
nicht?“
„Weil
ich von zu Hause fortgelaufen bin.“
„Warum
hast du das getan?“
„Mein
Vater wollte mich zur Schule schicken.“
Es
schien Dschagannath eine unnütze Geldverschwendung,
solchen Knaben zur Schule zu schicken, und er sagte sich, der Vater
müsse ein
ganz unpraktischer Mann sein, daß er dies nicht eingesehen hatte.
„Hör'
mal, mein Junge,“ sagte Dschagannath, „möchtest
du wohl mit mir kommen und bei mir bleiben?“
„Meinetwegen“,
sagte der Junge. Und sogleich richtete
er sich bei Dschagannath häuslich ein, ohne die mindesten Bedenken, als
ob das
Haus der Schatten eines Baumes an der Straße gewesen wäre. Und nicht
nur das.
Er begann seine Wünsche in bezug auf Nahrung und Kleidung mit solcher
kühlen
Ruhe zu äußern, als ob er die Rechnung im voraus bezahlt hätte; und
wenn irgend
etwas nicht in Ordnung war, machte er sich gar kein Gewissen daraus,
mit dem
Alten zu zanken.
Es
war Dschagannath leicht genug gewesen, sein eigenes
Kind im Zaum zu halten, aber jetzt, wo es sich um
ein fremdes Kind handelte, mußte er die Waffen strecken.
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