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Literatur


04.3

Die Nacht der Erfüllung
Erzählungen

Rabindranath Tagore





Der Hüter des Erbes - Seite 2

III

Die Leute im Dorf waren erstaunt, daß Dschagannath sich plötzlich so viel aus dem fremden Jungen machte. Sie waren sicher, daß das Ende des Alten nahe sei, und sie empfanden es schmerzlich, daß er sein ganzes Eigentum diesem hergelaufenen Schlingel vermachen würde. Wütend vor Neid hätten sie dem Knaben gern ein Leid angetan, aber der Alte hütete ihn wie seinen Augapfel.
 
Mitunter drohte der Junge, er wolle fortgehen, und dann suchte der Alte ihn mit dem Versprechen zu locken, er wolle ihm sein ganzes Eigentum hinterlassen. So klein der Knabe auch noch war, so verstand er doch schon vollkommen die Größe dieses Versprechens.
 
Nun begannen die Dorfbewohner nach dem Vater des Knaben zu forschen. Das Herz schmolz ihnen vor Mitleid mit den geängstigten Eltern, und sie erklärten, der Sohn müsse ein ganz gottloser Bube sein, daß er ihnen solch Leid zufügte. Sie häuften Schmähungen auf sein Haupt, aber die Wut, mit der sie es taten, verriet eher Neid als Gerechtigkeitssinn.
 
Eines Tages hörte der alte Mann von einem Wanderer, daß ein gewisser Damodar Pal seinen verlorenen Sohn suche und jetzt eben in diese Gegend komme. Als Nitai dies hörte, wurde er sehr unruhig; er wollte Reichtum Reichtum sein lassen und davonlaufen. Dschagannath beruhigte ihn: „Ich will dich verstecken, wo niemand dich finden kann, selbst die Leute im Dorfe nicht“, sagte er.
 
Dies reizte die Neugier des Knaben, und er fragte: „O, wo denn? Zeig mir schnell den Platz!“

„Wenn ich ihn dir jetzt zeige, merken es die Leute. Warte, bis es Nacht ist“, sagte Dschagannath.
 
Die Aussicht auf das geheimnisvolle Versteck entzückte den Knaben. Er malte sich aus, wie er, sobald sein Vater ohne ihn fortgegangen sein würde, mit seinen Kameraden Verstecken spielen und eine Wette machen wollte. Niemand würde ihn finden können. Wäre das nicht ein Spaß? Und daß auch sein Vater das ganze Dorf durchsuchen würde, ohne ihn zu finden – welch ein Hauptspaß!
 
Am Mittag schloß Dschagannath den Knaben in seinem Hause ein und verschwand auf einige Zeit. Als er wieder zurückkam, plagte ihn Nitai mit Fragen.
 
Sobald es dunkel war, sagte Nitai: „Großvater, gehen wir jetzt?“

„Erst muß es Nacht sein“, erwiderte Dschagannath.
 
Nach einer kleinen Weile rief der Knabe: „Jetzt ist es Nacht, Großvater; komm, laß uns gehen.“
 
„Die Leute im Dorf sind noch nicht zu Bett“, flüsterte Dschagannath.
 

Nitai wartete einen Augenblick, dann sagte er wieder: „Jetzt sind sie zu Bett, Großvater, ganz gewiß. Laß uns jetzt gehen!“
 
Die Nacht rückte vor. Der Schlaf legte sich schwer auf die Lider des armen Jungen, und er mußte gewaltige Anstrengungen machen, um wach zu bleiben. Um Mitternacht ergriff Dschagannath des Knaben Arm und verließ das Haus.
 
Sie tasteten sich durch die dunklen Straßen des schlafenden Dorfes. Kein Laut unterbrach die Stille, nur ab und zu heulte irgendwo ein Hund, und dann stimmten alle Hunde ringsum im Chor ein; oder ein Nachtvogel, der durch den Laut von Menschentritten zu dieser ungewohnten Stunde aufgeschreckt war, flatterte dicht an ihnen vorbei. Nitai zitterte vor Angst und klammerte sich an Dschagannaths Arm.
 
Sie durchquerten manches Feld, und endlich kamen sie an ein Sumpfdickicht, wo ein verfallener leerer Tempel stand. „Ach, hier ist es!“ rief Nitai enttäuscht. Er hatte sich den Ort ganz anders gedacht. Hierbei war nichts besonders Geheimnisvolles. Wie oft hatte er, seit er von zu Hause fortgelaufen war, die Nacht in solchem verlassenen Tempel zugebracht. Es war zwar ein ganz guter Ort zum Versteckenspielen, aber es war doch leicht möglich, daß seine Kameraden ihn hier aufstöberten.
 
Dschagannath trat hinein und hob von der Mitte der Diele eine Steinfliese. Der erstaunte Knabe erblickte einen unterirdischen Raum, in dem eine Lampe brannte. Furcht und Neugierde kämpften in seinem kleinen Herzen. Dschagannath stieg auf einer Leiter hinab, und Nitai folgte ihm.
 
Als der Knabe sich umsah, sah er rings an den Wänden lauter eherne Krüge. In der Mitte lag ein Gebetteppich ausgebreitet, und davor waren Zinnober, Sandelpaste, Blumen und andere Dinge, die man zur Pudscha[11] brauchte, bereitgelegt. Um seine Neugier zu befriedigen, langte der Knabe in einen der Krüge und nahm etwas von dem Inhalt heraus. Es waren Rupien und Goldmünzen.
 
Dschagannath wandte sich zu dem Knaben. „Ich habe dir gesagt, Nitai, daß ich dir all mein Geld geben würde. Ich habe nicht viel, diese Krüge sind alles, was ich besitze. Diese will ich dir heute übergeben.“
 
Der Knabe sprang hoch vor Freude. „Alle?“ rief er. „Du nimmst mir aber auch keine einzige Rupie wieder davon weg, nicht wahr?“
 
„Wenn ich das tue,“ sagte der alte Mann in feierlichem Ton, „so möge meine Hand aussätzig werden. Aber ich stelle dir eine Bedingung. Wenn jemals mein Enkel, Gokul Tschandra, oder sein Sohn oder sein Enkel oder Urenkel oder irgendeiner seiner Nachkommen des Weges hierher kommen sollte, so mußt du ihm oder ihnen alles bis auf die letzte Rupie übergeben.“
 
Der Knabe dachte, der Alte rede irre. „Gut“, erwiderte er.

„So setze dich auf diesen Teppich“, sagte Dschagannath.

„Warum?“

„Weil dir Pudscha erwiesen werden muß.“

„Aber wozu?“ fragte der Knabe bestürzt.

„Das ist so die Vorschrift.“
 
Der Knabe hockte auf dem Teppich nieder, wie ihm gesagt war. Dschagannath bestrich seine Stirn mit Sandelpaste, machte ihm ein rotes Mal zwischen die Augenbrauen, legte ihm einen Blumenkranz um den Nacken und begann, Zaubersprüche herzusagen.
 
Dem armen Nitai war sehr bang zumute, als er so dasaß wie ein Gott und die Zaubersprüche anhörte. „Großvater“, flüsterte er.

Aber Dschagannath antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Zaubersprüche zu murmeln.
 
Zum Schluß schleppte er mit großer Mühe die Krüge, einen nach dem andern, vor den Knaben hin und ließ ihn das folgende Gelübde nachsprechen:
 
„Ich verspreche feierlich, daß ich diesen ganzen Schatz Gokul Tschandra Kundu, dem Sohn Brindaban Kundus, dem Enkel Dschagannath Kundus, übergeben werde, oder dem Sohn oder Enkel oder Urenkel des genannten Gokul Tschandra Kundu oder irgendeinem seiner Nachkommen oder rechtmäßigen Erben.“
 
Der Knabe wiederholte diese Worte immer wieder bei jedem Krug, bis er ganz betäubt und seine Zunge wie gelähmt war. Als die Zeremonie zu Ende war, war die Luft in der Höhle ganz dick von dem Rauch der irdenen Lampe und dem Atemgift der beiden. Dem Knaben war der Gaumen trocken wie Staub, und alle seine Glieder brannten ihm. Er erstickte fast.
 
Die Lampe wurde trüber und trüber und ging dann ganz aus. In der vollständigen Dunkelheit, die nun folgte, konnte Nitai hören, wie der Alte die Leiter hinaufkletterte. „Großvater, wohin gehst du?“ rief er angstvoll.

„Ich gehe jetzt fort,“ erwiderte Dschagannath, „du bleibst hier. Niemand wird dich finden. Vergiß nicht den Namen Gokul Tschandra,  Sohn Brindabans und Enkel Dschagannaths.“
 
Dann zog er die Leiter fort. Mit angsterstickter Stimme flehte der Knabe: „Ich möchte zurück zu meinem Vater!“
 
Dschagannath legte die Steinplatte wieder an ihren Platz. Dann kniete er nieder und legte sein Ohr an den Stein. Er hörte noch einmal Nitais Stimme: „Vater“ – dann kam ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand zu Boden fiel – dann war alles still.
 
Nachdem Dschagannath so seinen Reichtum einem Yak[12] übergeben hatte, begann er, den Stein mit Erde zuzudecken. Dann häufte er zerbrochene Mauersteine und losen Mörtel darüber. Obenauf pflanzte er Grasbüschel und Waldgewächse. Die Nacht war fast vergangen, aber er konnte sich nicht von dem Orte losreißen. Immer wieder legte er sein Ohr an den Boden und horchte. Es war ihm, als ob von tief, tief unten – aus dem Innern der Erde herauf – ein Wehklagen ertönte. Es war ihm, als ob der Nachthimmel von diesem einen Laut überflutet wäre, als ob die ganze Menschheit, vom Schlummer aufgeschreckt, sich in ihrem Bett aufrichtete und horchte.
 
Der Alte häufte wie rasend Erde auf Erde auf den Stein. Er wollte jenen Ton irgendwie ersticken, aber immer kam es ihm vor, als hörte er „Vater!“
 
Er schlug mit aller Kraft auf den Boden und rief: „Sei still, sonst hören dich die Leute!“ Aber immer noch glaubte er den Ruf „Vater“ zu hören.
 
Die Sonne erleuchtete den östlichen Horizont. Da verließ Dschagannath den Tempel und kam hinaus aufs freie Feld.

Doch auch da rief plötzlich jemand: „Vater!“ Erschrocken wandte er sich um und sah seinen Sohn dicht hinter sich.
 
„Vater,“ sagte Brindaban, „ich höre, daß mein Junge sich in deinem Hause verbirgt. Ich muß ihn wiederhaben.“
 
Mit weitaufgerissenen Augen und verzerrtem Mund beugte der Alte sich vor und rief: „Dein Junge?“
„Ja, mein Gokul. Er heißt jetzt Nitai Pal, und ich selbst nenne mich Damodar Pal. 
 
 Dein ‚Ruhm‘ hat sich in der Nachbarschaft so weit verbreitet, daß ich unsere Herkunft verbergen mußte, weil die Menschen sich sonst geweigert hätten, unseren Namen auszusprechen.“
 
Langsam hob der alte Mann beide Arme über den Kopf. Seine Finger begannen sich krampfartig zu bewegen, als ob er versuchte, nach irgend etwas in der Luft zu greifen. Dann fiel er zu Boden.
 
Als er wieder zur Besinnung kam, zog er seinen Sohn nach dem verlassenen Tempel. Als sie beide drinnen waren, sagte er: „Hörst du irgend etwas klagen?“

„Nein“, sagte Brindaban.

„Höre einmal scharf hin! Hörst du nicht jemanden ‚Vater‘ rufen?“

„Nein.“

Dies schien ihn sehr zu erleichtern.
 
Von diesem Tage an pflegte er umherzugehen und die Leute zu fragen: „Hört ihr nicht etwas klagen?“ Sie lachten über den kindischen Alten.
 
Etwa vier Jahre später lag Dschagannath im Sterben. Als das Licht der Welt allmählich seinen Augen entschwand und das Atmen ihm immer schwerer wurde, richtete er sich plötzlich wie im Fieberwahn auf. Er warf beide Hände in die Luft, als ob er nach etwas tastete, und murmelte: „Nitai, wer hat mir die Leiter weggenommen?“
 
Unfähig, die Leiter zu finden, um aus seinem furchtbaren Kerker herauszuklettern, wo kein Licht zu sehen und keine Luft zum Atmen war, fiel er auf sein Lager zurück und entschwand in jene Region, wo noch niemals jemand gefunden wurde im ewigen Versteckspiel der Welt.
 
Ereignisse, wie das in dieser Geschichte erzählte, die jetzt glücklicherweise der Vergangenheit angehören, waren früher in Bengalen durchaus nicht selten. Unser Dichter weicht jedoch etwas von den landläufigen Berichten ab. Geizige Menschen nahmen zu solchem abergläubischen Treiben ihre Zuflucht, um selbst in einer zukünftigen Existenz wieder in den Besitz des Schatzes zu kommen.
 
„Wenn du mich in einer künftigen Existenz des Weges kommen siehst“, so lautete die gewöhnliche Formel des Auftrages, den man dem Opfer mitgab, bevor es zum „Yak“ wurde, „mußt du mir diesen ganzen Schatz übergeben. Bewahre ihn bis dahin und rühre dich nicht!“
 
In unserer Kindheit hörten wir viele „wahre“ Geschichten von Leuten, die plötzlich reich geworden waren durch die Begegnung mit solchen geisterhaften Wächtern ihres Reichtums aus einer früheren Existenz.


 
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