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04.3
Die
Nacht der Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
Der
Postmeister begann seine Laufbahn im Dorfe Ulanur.
Zwar war das Dorf nur klein, aber in seiner Nähe lag eine Indigofabrik,
und der
Besitzer, ein Engländer, hatte es durchgesetzt, daß das Dorf ein
Postamt bekam.
Unser
Postmeister stammte aus Kalkutta. Er fühlte sich
in diesem abgelegenen Dorfe wie ein Fisch auf dem Trocknen. Seine
Amtsstube,
die zugleich als Wohnraum diente, war in einem dunklen Strohschuppen,
nicht
weit von einem grünen, schlammigen Teiche, der an allen Seiten von
dichtem
Buschwerk umgeben war.
Die
Männer, die in der Indigofabrik beschäftigt waren,
hatten keine Zeit; sie waren auch wohl kaum wünschenswerte Gesellschaft
für
Leute seines Standes. Dazu kommt noch, daß ein junger Kalkuttaer sich
schwer an
andre anschließt. Unter Fremden macht er immer den Eindruck, als ob er
stolz
sei oder sich nicht wohl
unter ihnen fühle. So war
der Postmeister recht einsam; zu tun hatte er auch nicht viel.
Zuweilen
versuchte er sich in Versen. Er versuchte zum
Ausdruck zu bringen, daß das Rauschen der Blätter und das Wandern der
Wolken am
Himmel genug seien, um das Leben mit Freude zu füllen. Aber Gott weiß,
daß der
arme Bursche sich wie neugeboren gefühlt hätte, wenn irgendein Geist
aus
Tausendundeiner Nacht plötzlich Bäume, Blätter und alles hinweggefegt
und sie
durch eine gutgepflasterte Straße ersetzt hätte, deren hohe
Häuserreihen ihm
die Wolken verdeckten.
Des
Postmeisters Gehalt war gering. Er mußte sich
seine Mahlzeiten selbst zubereiten und teilte sie mit Ratan, einem
Waisenmädchen aus dem Dorf, die allerlei kleine Dienste für ihn
verrichtete.
Wenn
am Abend der Rauch aus den Kuhställen
aufzusteigen begann[30] und
in jedem Busch die Heimchen zirpten; wenn die Fakire der Baul-Sekte an
ihren
täglichen Versammlungsorten ihre schrillen Lieder sangen, wenn einem
Dichter, der etwa versucht hätte, auf das Rauschen
der Blätter im Bambusdickicht zu horchen, ein eiskalter Schauer über
den Rücken
gelaufen wäre – dann zündete der Postmeister seine kleine Lampe an
und rief:
„Ratan!“
Ratan
saß draußen und wartete auf diesen Ruf, aber
statt sogleich hereinzukommen, antwortete sie erst: „Haben Sie mich
gerufen,
Herr?“
„Was
tust du?“ fragte dann der Postmeister.
„Ich
muß jetzt wohl das Küchenfeuer anzünden“, kam als
Antwort zurück.
Und
dann sagte der Postmeister: „Ach, laß das Feuer
noch eine Weile, zünde mir erst meine Pfeife an.“
Nach
einem Augenblick kam Ratan herein, mit
aufgeblasenen Backen, denn sie blies aus Leibeskräften in ein Stück
brennende
Kohle, womit sie den Tabak anzündete. Dies gab dem Postmeister dann
eine
Gelegenheit zur Unterhaltung. „Nun, Ratan,“ begann er dann wohl, „hast
du noch
irgendwelche Erinnerungen an deine Mutter?“
Das
war ein ergiebiges Thema. Ratan hatte nicht mehr
viel Erinnerungen an sie. Ihr Vater hatte
mehr von
ihr gehalten als ihre Mutter, an ihn erinnerte sie sich noch viel
lebhafter. Er
pflegte am Abend nach der Arbeit heimzukommen, und ein paar solcher
Abende
hatten sich ihrem Gedächtnis wie deutliche Bilder eingegraben. Ratan
hockte auf
dem Boden, während sie sich in diesen Erinnerungen erging. Sie gedachte
eines
kleinen Bruders, und wie sie einmal an einem trüben Tag am Teich mit
ihm
Fischen gespielt hatte, mit einem Zweig als Angelrute. Solche kleinen
Erlebnisse wurden in der Erinnerung groß und bedeutungsvoll und
verdrängten die
größeren. Während sie so plauderten, wurde es oft sehr spät, und der
Postmeister fühlte sich zu schläfrig, um noch irgend etwas zu kochen.
Dann
machte Ratan eilig ein Feuer an und röstete etwas ungesäuertes Brot,
das ihnen,
zusammen mit den kalten Resten der Mittagsmahlzeit, als Abendessen
genügte.
An
manchen Abenden, wenn der Postmeister so an seinem
Pult in der Ecke des großen, leeren Strohschuppens saß, rief auch er
die
Erinnerungen an sein Heim wach, an seine Mutter und Geschwister, an
die, nach
denen sich sein Herz in seiner Verbannung sehnte – an die er immer
dachte,
aber von denen er mit den Fabrikleuten nicht
sprechen konnte, obgleich es ihm ganz natürlich war, in Gegenwart des
einfachen
kleinen Mädchens ihrer zu gedenken. Und so kam es, daß das Mädchen,
wenn sie
von den Seinen sprach, sie als Mutter, Bruder und Schwester[31] bezeichnete,
als ob sie sie ihr Leben lang gekannt hätte. Sie hatte ja auch in ihrem
kleinen
Herzen ein deutliches Bild von jedem einzelnen.
Es
war in der Regenzeit, an einem Mittage. Der Regen
hatte gerade aufgehört, und es wehte eine leise, kühle Brise. Der Duft
des
feuchten Grases und Laubes in der heißen Sonne berührte den Körper wie
der
warme Atem der ermüdeten Erde. Ein Vogel wiederholte den ganzen
Nachmittag
unermüdlich den Kehrreim seines Klageliedes im Audienzraum der Natur.
Der
Postmeister hatte nichts zu tun. Der Glanz des
frischgewaschenen Laubes und die aufgetürmten Wolkenmassen am Himmel
waren ein
herrlicher Anblick, und der Postmeister sah den abziehenden Regenwolken
nach
und dachte
bei sich: „Ach, wenn ich nur eine
verwandte Seele hier hätte, ein liebendes Wesen, das ich an mein Herz
schließen
könnte!“ Genau dasselbe, so dachte er weiter, versuchte auch jener
Vogel zu
sagen, genau dasselbe seufzte das Laub des alten Baumes, an dessen
Stamm er
müßig seinen Rücken lehnte. Aber das wußte und glaubte niemand, daß
auch in
einem schlecht bezahlten Dorfpostmeister in der tiefen Stille der
Mittagspause
solche Gefühle aufsteigen könnten.
Der
Postmeister seufzte und rief: „Ratan!“ Ratan lag
ausgestreckt unter dem Guajavabaum und war eifrig damit beschäftigt,
unreife
Guajavafrüchte zu essen. Sobald sie die Stimme ihres Herrn hörte, kam
sie
atemlos angelaufen und fragte: „Haben Sie mich gerufen, Dada[32]?“ –
„Ich dachte eben,“ sagte der Postmeister, „ich könnte dich eigentlich
lesen
lehren.“ Und er brachte den Rest des Tages damit zu, ihr das Alphabet
beizubringen.
Auf
diese Weise kam Ratan in ganz kurzer Zeit schon
bis zu den Doppelkonsonanten.
Es
schien, als ob die Regenzeit nicht enden wollte.
Kanäle, Gräben und Gruben strömten über von Wasser.
Tag und Nacht hörte man das Prasseln des Regens und das Quaken der
Frösche. Die
Dorfstraßen wurden unpassierbar, und man mußte seine Einkäufe in
flachen Booten
machen.
Eines
Morgens, als der Himmel wieder schwer von Wolken
war, hatte die kleine Schülerin des Postmeisters schon lange vor der
Tür auf
seinen Ruf gewartet. Als sie immer noch nichts hörte, nahm sie endlich
ihr arg
zerlesenes Buch und ging leise hinein. Sie fand ihren Herrn auf seiner
Matratze
ausgestreckt, und in dem Glauben, er schliefe noch, wollte sie schon
auf den
Zehen wieder hinausschleichen, als sie plötzlich ihren Namen hörte:
„Ratan!“
Sie wandte sich sogleich um und fragte:
„Schliefen
Sie, Dada?“ Der Postmeister sagte in
klagendem Ton: „Ich bin nicht wohl. Fühl' einmal meinen Kopf, ist er
nicht ganz
heiß?“
In
der Einsamkeit seiner Verbannung und in dem trüben
Dunkel der Regenzeit brauchte sein schmerzender Körper etwas zarte und
liebevolle Pflege. Er gedachte mit Sehnsucht der Zeit, wo eine weiche
Hand mit
leise klirrendem Armband sanft
über seine Stirn
gestrichen hatte, und er versuchte sich vorzustellen, daß Frauenliebe
an seinem
Lager saß in Gestalt von Mutter und Schwester. Und er wurde nicht
enttäuscht.
Ratan
hörte
auf, ein kleines Mädchen zu sein. Sie trat sofort an die Stelle der
Mutter,
rief den Dorfarzt, gab dem Patienten zu den vorgeschriebenen Zeiten
seine Pillen,
wachte die ganze Nacht an seinem Lager, kochte ihm seine Hafersuppe und
fragte
von Zeit zu Zeit: „Fühlen Sie sich ein wenig besser, Dada?“
Es
dauerte einige Zeit, bis der Postmeister mit sehr
geschwächtem Körper sein Krankenlager verlassen konnte. „Dies geht
nicht so
weiter“, sagte er entschlossen. „Ich muß um Versetzung einkommen.“ Er
schrieb
sofort in diesem Sinne ein Gesuch nach Kalkutta mit der Begründung, daß
der Ort
zu ungesund sei.
Nachdem
Ratan ihrer Pflichten als Krankenpflegerin
enthoben war, nahm sie wieder ihren alten Platz draußen vor der Tür
ein. Aber
sie wartete vergebens auf den altgewohnten Ruf. Mitunter blickte sie
verstohlen
hinein; dann sah sie den Postmeister auf seinem Stuhl sitzen oder auf
seiner Matratze ausgestreckt und geistesabwesend in die
Luft starren. Während Ratan auf ihren Ruf wartete, wartete der
Postmeister auf
eine Antwort auf sein Gesuch. Die Kleine las ihre alten Aufgaben immer
wieder
durch; ihre größte Angst war, daß sie, wenn sie gerufen würde, die
Doppelkonsonanten nicht richtig lesen könnte. Endlich, nach einer
Woche, kam
eines Abends wirklich der Ruf. Mit überquellendem Herzen stürzte Ratan
ins Zimmer:
„Haben
Sie mich gerufen, Dada?“
Der
Postmeister sagte: „Ich reise morgen fort, Ratan.“
„Wohin
reisen Sie, Dada?“
„Ich
reise nach Hause.“
„Wann
kommen Sie zurück?“
„Ich
komme nicht zurück.“
Ratan
fragte nicht weiter. Der Postmeister erzählte
ihr von selbst, daß sein Gesuch um Versetzung abschlägig beschieden
sei, und
daß er nun seinen Posten aufgegeben habe und nach Hause wolle.
Lange
sprach keiner von beiden ein Wort. Die Lampe
brannte trübe weiter, und durch ein Loch in einer Ecke des Daches
tropfte das Wasser gleichmäßig
in ein irdenes Gefäß, das darunter auf dem
Boden stand.
Nach
einer Weile stand Ratan auf und ging in die
Küche, um das Abendessen zu bereiten; aber sie wurde nicht so schnell
damit
fertig wie sonst. Viele neue Gedanken stürmten auf ihr kleines Hirn
ein. Als
der Postmeister sein Abendessen beendet hatte, fragte das Mädchen ihn
plötzlich: „Dada, werden Sie mich mit nach Hause nehmen?“
Der
Postmeister lachte. „Was für ein Einfall!“ sagte
er; aber es schien ihm überflüssig, dem Mädchen zu erklären, was denn
so
Lächerliches dabei sei.
Die
ganze Nacht, im Wachen und im Traum, verfolgte sie
des Postmeisters lachende Antwort: „Was für ein Einfall!“
Als
der Postmeister am andern Morgen aufstand, fand er
sein Bad bereit. Er hatte an seiner Kalkuttaer Gewohnheit festgehalten,
im
Hause zu baden, statt, wie man es sonst im Dorfe tat, sein Bad im Fluß
zu
nehmen. Das Mädchen hatte ihn nicht fragen können, um welche Zeit er
abreisen
wolle, daher hatte sie schon lange vor Sonnenaufgang das Wasser vom
Fluß
geholt, damit
er es bereit fände, sobald er es
brauchte.
Nach
dem Bade
hörte sie ihn rufen. Sie trat leise ein und sah ihrem Herrn schweigend
ins
Gesicht, seine Befehle erwartend. „Du brauchst dir keine Sorge zu
machen wegen
meines Fortgehens, Ratan,“ sagte er zu ihr, „ich werde meinem
Nachfolger sagen,
daß er sich um dich kümmert.“ Diese Worte waren ohne Zweifel freundlich
gemeint, aber ein Frauenherz ist unberechenbar.
Ratan
hatte, ohne zu klagen, manche Schelte von ihrem
Herrn hingenommen, aber diese freundlichen Worte konnte sie nicht
ertragen.
„Nein, nein!“ rief sie, in Tränen ausbrechend, „Sie brauchen niemandem
irgend
etwas über mich zu sagen; ich will hier nicht länger bleiben.“
Der
Postmeister war sprachlos. So hatte er Ratan nie
gesehen. –
Pünktlich
kam der Nachfolger an, und nachdem der
Postmeister ihm das Amt übergeben hatte, schickte er sich an,
abzureisen. Bevor
er aufbrach, rief er Ratan und sagte: „Hier ist etwas für dich; ich
hoffe,
damit kommst du eine kleine Zeitlang aus.“
Und
damit zog er aus seiner
Tasche sein ganzes Monatsgehalt und behielt nur eine geringfügige Summe
für
seine Reiseausgaben zurück. Doch Ratan fiel ihm zu Füßen und rief: „Ach
nein,
Dada, bitte geben Sie mir nichts, kümmern Sie sich überhaupt gar nicht
um
mich!“ Dann lief sie hinaus.
Der
Postmeister seufzte, nahm seine Reisetasche,
hängte seinen Regenschirm über die Schulter, und begleitet von einem
Manne, der
seinen bunten, mit Eisenblech beschlagenen Koffer trug, ging er langsam
nach
dem Schiff.
Als
er einstieg und das Schiff abfuhr und die vom
Regen geschwollenen Wasser des Flusses schweigend seinen Bug
umsprudelten wie
Tränenströme, die von der Erde aufstiegen, da wurde ihm eigentümlich
weh ums
Herz. Das gramerfüllte Antlitz des Dorfmädchens schien ihm ein Abbild
zu sein
von dem großen, unausgesprochenen, unermeßlich tiefen Leid der Mutter
Erde
selbst.
Schon
spürte er den Drang, umzukehren und das einsame,
von der Welt verlassene Geschöpf mitzunehmen. Aber der Wind hatte
gerade die
Segel gebläht, das Schiff war mitten in der heftigen Strömung, das Dorf
lag
schon hinter ihm, und der weit außerhalb des Dorfes liegende
Verbrennungsplatz wurde bereits sichtbar.
So
ließ sich denn der Reisende auf den Wogen des
schnell strömenden Flusses dahintragen und tröstete sich mit
philosophischen
Betrachtungen über die zahllosen Trennungen in der Welt und über den
Tod, die
letzte große Trennung.
Aber
Ratan hatte keine Philosophie. Sie wanderte
ruhelos im Postamt umher, und ihre Tränen flossen unaufhaltsam.
Vielleicht
hegte sie noch in irgendeinem Winkel ihres Herzens eine leise Hoffnung,
daß ihr
Dada zurückkehren werde, und dies war der Grund, weshalb sie sich nicht
losreißen konnte. Ach, um das törichte Menschenherz!
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