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04.3
Die
Nacht der Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
Die
glückverheissende Schau
Kantitschandra
war noch jung, doch nachdem ihm seine
Gattin gestorben war, suchte er keine zweite Gefährtin, sondern gab
sich ganz
seiner Leidenschaft für die Jagd hin. Sein Körper war lang und schlank,
zäh und
behende, sein Blick scharf, seine Hand verfehlte nie das Ziel. Er ging
wie ein
Landmann gekleidet, und seine Gefährten waren der Wettkämpfer Hira
Singh, der
Sänger Khan Saheb, Mian Saheb, Tschakkanlal und viele andere. An
müßigen
Begleitern fehlte es ihm nicht.
Im
Monat Agrahayan[25] jagte
Kanti mit einigen Jagdgefährten im Sumpfgebiet von Naidighi. Sie waren
in
Booten, und ein ganzes Heer von Dienern, gleichfalls in Booten, füllte
die
Badestufen. Die Dorffrauen fanden es fast unmöglich, zu baden oder
Wasser zu
holen. Den ganzen Tag lang erzitterten Land und Wasser von
den Schüssen ihrer Flinten, und Abend für Abend scheuchte ihre Musik
den Schlaf
hinweg.
Eines
Morgens, als Kanti in seinem Boot saß und seine
Lieblingsflinte reinigte, wurde er plötzlich durch einen Schrei wie von
einer
wilden Ente aufgeschreckt. Als er aufsah, erblickte er ein Dorfmädchen,
das
zwei weiße junge Enten im Arm hielt und sich dem Wasser näherte. Der
kleine
Fluß stand fast ganz still, da viele Schlingpflanzen seinen Lauf
hemmten. Das
Mädchen setzte die Vögel ins Wasser und bewachte sie ängstlich.
Augenscheinlich
war die Nähe der Jäger die Ursache ihrer Unruhe und nicht die Wildheit
der
Enten.
Die
Schönheit des Mädchens war von einer seltenen
Frische und Unberührtheit, als ob sie eben erst aus der Werkstatt
Wischwakarmans[26] hervorgegangen
wäre. Es war schwer, ihr Alter zu erraten. Ihre Gestalt war fast die
eines
Weibes, aber ihr Antlitz hatte einen Ausdruck von so kindlicher
Reinheit, daß
man sah, die Eindrücke der Welt hatten in ihrer Seele noch keine Spur
hinterlassen. Sie schien selbst nicht zu wissen, daß sie die Schwelle
des
Jungfrauentums erreicht hatte.
Kanti
hatte mit dem Reinigen seiner Flinte aufgehört.
Er saß da, wie von einem Zauber gebannt. Solch
Antlitz hätte er nie an solchem Ort zu finden erwartet. Und doch paßte
seine
Schönheit besser in diese Umgebung hinein als in die Pracht eines
Palastes.
Eine Knospe ist lieblicher am Zweig als in einer goldenen Vase. Das
blühende
Schilf glänzte im Herbsttau und in der Morgensonne, und in diesem
Rahmen
erschien das frische, jugendreine Antlitz dem entzückten Auge Kantis
wie ein
heiliges Tempelbild. Kalidasa hat vergessen zu besingen, wie Schivas
Gattin,
die Bergkönigin selbst, zuweilen zum jungen Ganges herabstieg mit
ebensolchen
jungen Entlein im Arm. Während er noch in ihren Anblick versunken war,
fuhr das
Mädchen erschrocken zusammen, und einen halbartikulierten
Schmerzensschrei
ausstoßend, ergriff sie hastig die Enten und barg sie an ihrer Brust.
Im
nächsten Augenblick hatte sie das Flußufer verlassen und war in dem
nahen
Bambusdickicht verschwunden. Als Kanti sich umsah, erblickte er einen
seiner
Leute, der mit einer ungeladenen Flinte auf die Enten zielte. Er sprang
sofort
auf ihn zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der verblüffte
Spaßmacher beendete seinen
Spaß am Boden. Kanti
fuhr mit dem Reinigen seiner Flinte fort.
Aber
die Neugier ließ ihm doch keine Ruhe und trieb
ihn zu dem Dickicht, in dem er das Mädchen hatte verschwinden sehen.
Als er sich
hindurchgearbeitet hatte, befand er sich auf einem Bauernhofe, der von
der
Wohlhabenheit des Besitzers Zeugnis gab. An einer Seite war eine Reihe
Scheunen
mit kegelförmigen Strohdächern, an der andern ein reinlich gehaltener
Kuhstall,
an dessen Ende ein Jujubenstrauch wuchs. Unter dem Strauch saß das
Mädchen, das
er am Morgen gesehen hatte, und schluchzte über eine verwundete Taube,
in deren
gelben Schnabel sie aus dem feuchten Zipfel ihres Gewandes etwas Wasser
zu
tropfen versuchte. Eine graue Katze hatte die Vorderpfoten auf ihr Knie
gestemmt und sah verlangend nach dem Vogel, und hin und wieder, wenn
sie sich
zu weit vordrängte, wies das Mädchen sie durch einen warnenden Schlag
auf die
Nase wieder an ihren Platz.
Dies
kleine Bild, im Rahmen des in der Mittagsstille
friedlich daliegenden Bauernhofes, verfehlte nicht seinen Eindruck auf
Kantis
empfängliches Herz. Unter dem zarten Laub des
Jujubenstrauches
huschten die Lichtkringelchen hin und her und spielten auf dem Schoße
des
Mädchens. Nicht weit davon lag eine Kuh behaglich wiederkäuend und
wehrte mit
trägen Bewegungen ihres Kopfes und Schwanzes die Fliegen ab. Der
Nordwind
flüsterte leise im nahen Bambusdickicht. Und sie, die ihm in der
Morgenfrühe am
Flußufer wie die Waldkönigin erschienen war, erschien ihm jetzt im
Schweigen
des Mittags wie die Gottheit des Hauses, die sich voll Erbarmen über
ein
leidendes Geschöpf neigte. Kanti, der mit seiner Flinte in ihr Bereich
eingedrungen war, überkam ein Gefühl der Schuld. Er fühlte sich wie ein
Dieb,
der auf frischer Tat ertappt war. Es drängte ihn, ihr zu sagen, daß
nicht er es
war, der die Taube verletzt hatte. Als er noch so dastand und nicht
wußte, wie
er beginnen sollte, rief jemand vom Hause her: „Sudha!“ Das Mädchen
sprang auf.
„Sudha!“ rief die Stimme noch einmal. Sie nahm ihre Taube und lief
hinein.
„Sudha!,“ dachte Kanti, „welch ein passender Name!“[27]
Er
kehrte zu seinem Boot zurück, gab seine Flinte einem
seiner Leute und ging zu der vorderen
Tür des
Hauses. Dort fand er einen Brahmanen von mittleren Jahren, mit einem
friedlichen, glattrasierten Gesicht, der auf einer Bank vor dem Hause
saß und
in seinem Erbauungsbuch las. Kanti fand auf seinem gütigen ernsten
Antlitz
etwas von der Mildherzigkeit wieder, die aus dem des Mädchens
leuchtete.
Kanti
trat grüßend näher und sagte: „Darf ich um etwas
Wasser bitten, Herr? Ich bin sehr durstig.“ Der Brahmane hieß ihn mit
eifriger
Gastfreundlichkeit willkommen, und nachdem er ihn zum Niedersitzen auf
die Bank
genötigt, ging er hinein und brachte eigenhändig einen kleinen
Zinnteller mit
Zuckerwaffeln und einem zinnernen Krug mit Wasser.
Nachdem
Kanti gegessen und getrunken hatte, bat der
Brahmane ihn, ihm seinen Namen zu sagen. Kanti nannte seinen und seines
Vaters
Namen und seinen Wohnort. „Wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein
kann,
Herr,“ fügte er in der üblichen Weise hinzu, „so werde ich mich
glücklich
schätzen.“
„Sie
können mir nicht zu Diensten sein, mein Sohn,“
sagte Nabin Banerdschi, „ich habe augenblicklich nur eine einzige
Sorge.“
„Und
was für eine Sorge ist das?“ fragte
Kanti.
„Die
Sorge um meine Tochter Sudha, die herangewachsen
ist“ (Kanti lächelte, als er an ihr Kindergesicht dachte) „und für die
ich noch
keinen würdigen Bräutigam habe finden können. Wenn ich sie nur gut
verheiratet
hätte, so würde ich der Welt meine Schuld abgetragen haben. Aber hier
am Ort
ist kein passender Bräutigam für sie, und ich kann den Dienst meines
Gottes
hier nicht im Stich lassen, um anderswo für sie einen Gatten zu
suchen.“
„Wenn
Sie mich in meinem Boot aufsuchen möchten, Herr,
so könnten wir über die Heirat Ihrer Tochter sprechen.“ Mit diesen
Worten
verabschiedete sich Kanti und kehrte zu seinem Boot zurück. Dann sandte
er
einige von seinen Leuten ins Dorf, um sich nach der Tochter des
Brahmanen zu
erkundigen. Die Antwort war ein einstimmiges Lob ihrer Schönheit und
Tugenden.
Als
am nächsten Tage der alte Mann zu dem Boot kam, um
seinen versprochenen Besuch zu machen, begrüßte ihn Kanti mit tiefer
Ehrfurcht
und bat ihn um die Hand seiner Tochter für sich selbst. Der Brahmane
war so
überwältigt von
diesem ungehofften Glück, –
denn Kanti gehörte nicht nur einer wohlbekannten Brahmanenfamilie an,
sondern
war auch ein reicher und angesehener Gutsbesitzer –, daß er zuerst
kaum
ein Wort erwidern konnte. Er dachte, es müsse sich um einen Irrtum
handeln.
Endlich wiederholte er mechanisch: „Sie selbst wollen meine Tochter
heiraten?“
„Wenn
Sie mich ihrer für würdig halten“, sagte Kanti.
„Sie
meinen Sudha?“ fragte der Alte noch einmal.
„Ja“,
war die Antwort.
„Aber
wollen Sie sie nicht erst sehen und mit ihr
sprechen?“
Kanti
verschwieg, daß er sie schon gesehen hatte, und
sagte: „O, das wird bei der Hochzeit geschehen, im Augenblick der
glückverheißenden Schau[28].“
Mit
vor innerer Erregung zitternder Stimme sagte der
Alte: „Meine Sudha ist wirklich ein gutes Mädchen, in allen häuslichen
Dingen
geschickt. Da
Sie sie so großmütig auf Treu und
Glauben nehmen, so möge sie Ihnen nie einen Augenblick Kummer bereiten.
Dies
ist mein Segen!“
Man
mietete das große Backsteingebäude des Archivars
für die Hochzeitsfeierlichkeit, die auf den nächsten Magh[29] festgesetzt
wurde, da Kanti nicht gern länger warten wollte. Zur bestimmten Zeit
erschien
der Bräutigam auf seinem Elefanten mit Trommeln und Musik und einem
Fackelzuge,
und die Feierlichkeit begann.
Als
der Augenblick der glückverheißenden Schau
gekommen und der Scharlachschleier über das Brautpaar geworfen war, sah
Kanti
zu seiner Braut auf. In dem schüchternen, verwirrten Antlitz, das sich
unter
der Brautkrone neigte und ganz mit Sandelpaste bedeckt war, konnte er
kaum das
Dorfmädchen, dessen Bild seiner Phantasie vorschwebte, wiedererkennen,
und
seine Erregung war so groß, daß es sich wie ein Nebel über seine Augen
legte.
Als
die Hochzeitsfeierlichkeiten vorüber waren und die
Frauen sich im Zimmer der Braut versammelten, bestand eine alte Dame
aus
dem Dorf
darauf, Kanti solle selbst seinem Weibe
den Brautschleier abnehmen. Als er es tat, fuhr er zurück. Es war nicht
dasselbe Mädchen.
Es
war ihm, als ob etwas in ihm aufstiege und sein
Gehirn durchstäche. Als ob die Lichter der Lampen sich verdüsterten und
Dunkelheit das Gesicht der Braut selbst schwarz färbte.
Im
ersten Augenblick war er zornig auf seinen
Schwiegervater. Der alte Halunke hatte ihm das eine Mädchen gezeigt und
das
andere verheiratet. Aber bei ruhiger Überlegung erinnerte er sich, daß
ihm der
alte Mann überhaupt keine Tochter gezeigt hatte, – daß alles seine
eigene
Schuld war. Er hielt es für das beste, seine heillose Dummheit den
Menschen
nicht zu verraten, und nahm mit scheinbarer Ruhe wieder seinen Platz
ein.
Er
brachte die Pille glücklich herunter, aber ihren
Geschmack konnte er nicht loswerden. Die ausgelassene Fröhlichkeit der
Hochzeitsgesellschaft war ihm unerträglich. Er war wütend auf sich
selbst und
auf alle anderen.
Plötzlich
merkte er, wie seine Braut, die neben ihm
saß, zusammenschrak und einen Schrei unterdrückte; ein junger Hase war
ins
Zimmer gesprungen
und über ihre Füße gehuscht.
Dicht hinter ihm kam das Mädchen, das er vorher gesehen hatte. Sie
ergriff das
Häschen, nahm es in ihren Arm und begann, ihm liebkosend etwas
zuzumurmeln.
„Ach, das verrückte Mädchen!“ riefen die Frauen und machten ihr
Zeichen, das
Zimmer zu verlassen. Aber sie beachtete es nicht, sondern kam herein
und setzte
sich ganz unbekümmert dem Brautpaar gegenüber, das sie mit kindlicher
Neugierde
anstarrte. Als ein Dienstmädchen kam und sie am Arm nahm, um sie
hinauszubringen, wehrte Kanti ihr hastig und sagte: „Laß sie in Ruh.“
„Wie
heißt du?“ wandte er sich dann an das Mädchen.
Diese
wiegte mit dem Körper hin und her, aber gab
keine Antwort. Alle Frauen im Zimmer begannen zu kichern.
Kanti
stellte eine andere Frage: „Wie geht es deinen
kleinen Enten?“
Das
Mädchen fuhr fort, ihn unbekümmert anzustarren.
Der
ganz verwirrte Kanti raffte seinen Mut noch einmal
zusammen und erkundigte sich teilnahmsvoll nach der verwundeten Taube,
aber es
half ihm nichts. Das zunehmende Gelächter
im Zimmer zeigte, daß irgend etwas bei der Sache sehr komisch war.
Endlich
erfuhr Kanti, daß das Mädchen taubstumm und
die Gefährtin aller Tiere im Dorfe sei. Es war nur Zufall gewesen, als
sie sich
damals bei dem Ruf Sudha erhoben hatte.
Jetzt
traf es Kanti zum zweitenmal wie ein Schlag. Der
dunkle Vorhang zerriß, der sich vor seine Augen gesenkt hatte. Mit
einem aus
tiefster Seele kommenden Seufzer der Erleichterung, wie aus einer
furchtbaren
Gefahr befreit, blickte er noch einmal in das Antlitz seiner Braut.
Dann kam in
Wahrheit die glückverheißende Schau. Das Licht, das aus seinem Herzen
und von
den hell leuchtenden Lampen strahlte, fiel auf ihr liebliches Antlitz,
und er
sah es in seinem wahren Glanz und wußte, daß Nabins Segen sich erfüllen
würde.
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