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04.3
MASHI
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
I
„Mashi!“
„Versuche
zu schlafen, Dschotin, es wird spät.“
„Das
macht nichts. Ich habe nicht mehr lange zu leben.
Ich dachte eben, daß Mani doch lieber zu ihrem Vater sollte nach –
wo
wohnt er doch noch?“
„In
Sitarampur.“
„O
ja, Sitarampur. Schicke sie dahin. Sie sollte nicht
länger bei einem kranken Mann bleiben. Sie ist selbst nicht kräftig.“
„Nun
höre ihn einer! Denkst du denn, sie könnte es
ertragen, dich in diesem Zustand zu verlassen?“
„Weiß
sie, was die Ärzte –?“
„Aber
das sieht sie ja selbst! Als ich neulich nur
leise andeutete, daß sie zu ihrem Vater sollte, weinte sie sich fast
die Augen
aus.“
-
Wir
müssen hier zur
Erklärung sagen, daß dieser Bericht die Wahrheit etwas
entstellte – um es
gelinde auszudrücken. In Wirklichkeit verlief das Gespräch mit Mani
folgendermaßen:
„Nun,
mein Kind, du hast wohl Nachricht von deinem
Vater bekommen? Ich meinte, deinen Vetter Anath hier zu sehen.“
„Ja!
Nächsten Freitag ist das Annapraschan-Fest[2]meiner
kleinen Schwester. Daher meine
ich –“
„Schön,
liebes Kind. Schicke ihr ein goldenes
Halsband. Darüber wird deine Mutter sich freuen.“
„Ich
möchte selbst hinreisen. Ich habe meine kleine
Schwester noch gar nicht gesehen, und ich möchte sie gar zu gern
sehen.“
„Was
fällt dir ein? Du denkst doch nicht im Ernst
daran, Dschotin allein zu lassen? Hast du nicht gehört, was der Arzt
gesagt
hat?“
„Aber
er sagte doch, daß augenblicklich keine
besondere Ursache zu –“
„Wenn
er das auch gesagt hat, du siehst doch,
wie krank er ist.“
„Sie
ist das erste Mädchen nach drei Brüdern und alle
machen soviel aus ihr. – Ich hörte, daß es eine große Sache werden
soll.
Wenn ich nicht komme, wird Mutter sehr –“
„Ja,
ich weiß! Ich verstehe deine Mutter nicht. Aber
ich weiß auch sehr gut, wie böse dein Vater sein wird, wenn du jetzt
gerade
Dschotin allein läßt.“
„Du
mußt ihm ein paar Zeilen schreiben und ihm sagen,
daß kein besonderer Grund zur Besorgnis da ist und daß, selbst wenn ich
reise,
auch kein –“
„Ja,
da hast du recht; selbst wenn du reist, so ist
nicht viel verloren. Aber das wisse: wenn ich deinem Vater schreibe,
werde ich
ihm offen sagen, was ich denke.“
„Dann
brauchst du nicht zu schreiben. Ich werde meinen
Mann fragen, und er wird sicher –“
„Nun
hör mal, mein Kind. Ich habe ein gut Teil von dir
ertragen, aber wenn du das tust, sind wir fertig miteinander. Und dein
Vater
kennt dich zu gut, als daß du ihn täuschen könntest.“
Als
Maschi fort war, warf
Mani sich verdrießlich aufs Bett.
Ihre
Nachbarin und Freundin kam und fragte, was
geschehen sei.
„Denk
dir nur! Ist es nicht eine Schande? Jetzt kommt
das Annapraschan-Fest meiner einzigen Schwester, und sie wollen mich
nicht
hinreisen lassen!“
„Aber
Mani! Du denkst doch nicht wirklich daran,
hinzureisen, wo dein Mann so krank ist?“
„Ich
tue doch nichts für ihn, und ich könnte es auch
nicht, wenn ich es auch versuchte. Ich will dir offen sagen: Es ist so
sterbenslangweilig in diesem Hause, daß ich es nicht aushalten kann!“
„Du
bist eine seltsame Frau!“
„Ich
kann nur nicht heucheln wie ihr andern und
trübsinnig aussehen, nur damit andre nicht schlecht von mir denken.“
„Nun,
dann sag' mir, was du jetzt tun willst.“
„Ich
muß fort. Niemand kann mich hindern.“
„Kßß!
Was du für eine eigenwillige kleine Frau bist!“
II
Als
Dschotin hörte, daß Mani geweint hätte bei dem
bloßen Gedanken an eine Heimreise zu ihrem Vater, wurde er so erregt,
daß er
sich im Bett aufrichten mußte. Er schob das Kissen hinter seinen Rücken
und
sich darauf zurücklehnend, sagte er:
„Maschi,
öffne das Fenster ein wenig und nimm die
Lampe weg.“
Die
stille Nacht stand schweigend am Fenster wie ein
Pilger der Ewigkeit, und die Sterne schauten herein, die Zeugen
zahlloser
Todesszenen in zahllosen Jahrtausenden.
Dschotin
sah das Antlitz seiner Mani auf dem
Hintergrunde der dunklen Nacht und sah, wie ihre großen dunklen Augen
unaufhörlich von Tränen überflossen.
Maschi
fühlte sich erleichtert, als sie ihn so ruhig
sah, denn sie dachte, er schliefe.
Plötzlich
machte er eine hastige Bewegung und sagte:
„Maschi, ihr meintet alle, Mani sei zu oberflächlich, um sich in
unserem Hause
glücklich zu fühlen. Aber jetzt siehst du –“
„Ja,
mein Liebling, jetzt sehe ich, daß ich mich
irrte, – aber in der Prüfung bewährt sich erst der Mensch.“
„Maschi!“
„Versuch
doch zu schlafen, mein Liebling.“
„Laß
mich doch ein bißchen denken, laß mich plaudern.
Sei nicht böse, Maschi!“
„Nun
also, plaudre.“
„Damals,
als ich glaubte, ich könnte Manis Herz nicht
gewinnen, ertrug ich es still. Aber du –“
„Nein,
mein Liebling, das darfst du nicht sagen; ich
ertrug es auch.“
„Unsre
Herzen, weißt du, sind nicht leblose Dinge, die
man nur aufzunehmen braucht, um sie zu besitzen. Ich fühlte, daß Mani
ihr
eigenes Herz nicht kannte und daß eines Tages, durch ein starkes
Erlebnis –“
„Ja,
Dschotin, du hast recht.“
„Daher
beachtete ich ihre Launen nicht viel.“
Maschi
schwieg und unterdrückte einen Seufzer. Nicht
einmal, sondern oft hatte sie bemerkt, wie Dschotin die Nacht auf der
Veranda
zugebracht hatte. Er hatte sich lieber von dem prasselnden Regen
durchnässen
lassen, als daß er in sein Schlafzimmer gegangen wäre. Wie manchen Tag
lang
hatte er mit fieberndem Kopf dagelegen, und sie wußte, wie er sich
sehnte, daß Mani käme und seine heiße Stirn kühlte, während
Mani sich fertig machte, um ins Theater zu gehen. Doch wenn Mani
gekommen war,
um ihn zu fächeln, hatte er sie verdrießlich fortgeschickt. Sie allein
wußte
von seiner heimlichen großen Not. Wie oft hätte sie ihm sagen mögen:
„Beachte
das törichte Kind nicht so viel, laß sie, bis sie selbst Sehnsucht und
stille
Tränen kennenlernt.“ Aber so etwas kann man nicht sagen, und es wird
auch
leicht mißverstanden. Dschotin hatte der Gottheit Weib in seinem Herzen
einen
Altar errichtet, auf dem Mani thronte. Er konnte nicht glauben, daß er
keinen
Anteil haben sollte an dem Wein der Liebe, den jene Gottheit schenkte.
Und so
fuhr er fort anzubeten und sein Opfer darzubringen und gab die Hoffnung
auf
eine Gabe nicht auf.
Maschi
glaubte wieder, daß Dschotin schliefe, als er
plötzlich ausrief:
„Ich
weiß, du dachtest, ich sei nicht glücklich mit
Mani, und daher warst du böse auf sie. Aber Maschi, das Glück ist wie
jene
Sterne. Sie decken nicht die ganze Dunkelheit zu, es sind Lücken
dazwischen.
Diese Lücken sind unsere Irrtümer. Wir machen Fehler
im Leben und verstehen vieles falsch, aber das Licht der Wahrheit
dringt doch
durch. – Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz heute abend
so froh
ist.“
Maschi
begann sanft über Dschotins Stirn zu streichen,
während ihre Tränen ungesehen im Dunkel flossen.
„Ich
dachte eben, Maschi, sie ist so jung! Was wird
sie tun, wenn ich – –?“
„Jung,
Dschotin? Sie ist alt genug. Ich war auch jung,
als ich den Geliebten verlor, und ich fand ihn auf immer in meinem
Herzen
wieder. War das überhaupt ein Verlust? Und meinst du denn, daß man
durchaus
glücklich sein muß?“
„Maschi,
es scheint, daß gerade, wo Manis Herz
erwacht, ich – –“
„Sei
darum nicht traurig, Dschotin. Ist es nicht
genug, daß ihr Herz
erwacht?“
Plötzlich
fielen Dschotin die Worte aus dem Liede
eines Volkssängers ein, das er vor langer Zeit einmal gehört hatte:
O
mein Herz, du erwachtest nicht, als der Mann deiner
Liebe an deine Tür kam. Erst beim Schall seiner scheidenden Schritte
erwachtest
du. O, du erwachtest im Dunkel!
„Maschi,
wie spät ist es jetzt?“
„Gegen
neun.“
„Noch
so früh! Und ich glaubte, es müßte wenigstens
schon zwei oder drei sein. Meine Mitternacht beginnt ja schon, wenn die
Sonne
untergegangen ist. Aber warum wolltest du denn, daß ich schlafe?“
„Nun,
du weißt, wie lange du gestern wach lagst, als
du immerfort sprachst. Daher mußt du heute früh einschlafen.“
„Schläft
Mani schon?“
„O
nein, sie ist dabei, dir etwas Suppe zu kochen.“
„Das
ist doch nicht dein Ernst, Maschi? Tut sie das
wirklich?“
„Gewiß!
Sie kocht ja alles für dich, die fleißige
kleine Frau.“
„Ich
dachte, daß Mani überhaupt nicht –“
„Eine
Frau braucht nicht lange, um solche Dinge zu
lernen. Wenn's not tut, lernt man sie von selbst.“
„Die
Fischsuppe, die ich heute morgen aß, hatte einen
so besonders köstlichen Geschmack; ich dachte, du hättest sie gekocht?“
„Ach,
du meine Güte, nein! Du denkst doch nicht etwa, Mani würde mich etwas
für dich tun lassen? Sie
besorgt ja deine ganze Wäsche selbst; sie weiß, wie eigen du damit
bist. Wenn
du nur deine Wohnzimmer sehen könntest, wie blitzblank sie alles
hält! –
Wenn ich sie häufig in dein Krankenzimmer kommen ließe, so würde sie
sich ganz
aufreiben. Aber das will sie ja auch gerade.“
„Ist
denn Manis Gesundheit –?“
„Der
Arzt meint, wir sollten sie nicht zu oft ins
Krankenzimmer lassen. Sie ist zu weichherzig.“
„Aber
Maschi, wie kannst du sie daran hindern, hereinzukommen?“
„Weil
sie mir blind gehorcht. Aber ich muß ihr
beständig sagen, wie es dir geht.“
Die
Sterne glitzerten am Himmel wie Tränentropfen.
Dschotin neigte sein Haupt dankbar seinem Leben, das im Begriff war zu
scheiden, und als der Tod durch das Dunkel seine Rechte nach ihm
ausstreckte,
faßte er sie vertrauensvoll.
Nach
einer Weile seufzte Dschotin und sagte mit einer
Bewegung leiser Ungeduld:
„Maschi,
wenn Mani doch noch wacht, könnte ich
da nicht – wenn auch nur eine –?“
„Ja
gewiß! Ich will sie rufen.“
„Ich
werde sie nicht lange festhalten, nur fünf
Minuten. Ich habe ihr etwas Besonderes zu sagen.“
Maschi
ging seufzend hinaus, um Mani zu holen.
Inzwischen fing Dschotins Puls an, schnell zu schlagen. Er wußte nur zu
gut,
daß es ihm nie gelungen war, ein vertrauliches Gespräch mit Mani zu
haben. Die
beiden Instrumente waren verschieden gestimmt, und es war nicht leicht,
sie
zusammen zu spielen. Immer wieder hatte Dschotin ein plötzliches Gefühl
von
Eifersucht überkommen, wenn er Mani mit ihren Freundinnen lustig
schwatzen und
lachen hörte. Dschotin tadelte nur sich, – warum
konnte er nicht über oberflächliche Dinge
plaudern so wie sie? Nicht daß er es nicht gekonnt hätte; mit seinen
männlichen
Freunden plauderte er oft über allerlei alltägliche Dinge.
Aber das Geplauder, das für Männer paßt,
paßt nicht für Frauen. Man kann ein philosophisches Gespräch als
Monolog halten
und seinen unaufmerksamen Zuhörer gar nicht beachten, aber beim
leichten Geplauder müssen mindestens zwei
zusammenwirken. Man kann auf einer Sackpfeife
spielen, aber nicht mit einer Zymbel.
Wie oft hatte Dschotin, wenn er am Abend mit Mani draußen auf der
Veranda saß,
gewaltsame Anstrengungen gemacht, eine Unterhaltung mit ihr in Gang zu
bringen,
aber immer wieder riß gleich der Faden ab. Und es war, als ob der Abend
sich
seines Schweigens schämte. Dschotin war sicher, daß Mani sich von ihm
fortsehnte. Dann hatte er selbst ernstlich gewünscht, ein Dritter
möchte dazu
kommen. Denn eine Unterhaltung zu dreien ist leicht, wenn sie zu zweien
schwer
fällt.
Jetzt
fing er an darüber nachzudenken, was er sagen
wollte, wenn Mani käme. Aber so ein künstlich zurechtgelegtes Gespräch
wollte
ihn nicht befriedigen. Dschotin fürchtete, daß diese fünf Minuten heute
abend
verloren sein würden. Und doch blieben ihm nur so wenige Augenblicke zu
vertraulichem Gespräch.
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